Sozialgericht Hannover
Urt. v. 23.08.2002, Az.: S 29 P 20/01
Bibliographie
- Gericht
- SG Hannover
- Datum
- 23.08.2002
- Aktenzeichen
- S 29 P 20/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 35662
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHANNO:2002:0823.S29P20.01.0A
In dem Rechtsstreit
gegen
Krankenkasse (Pflegekasse), vertr. d. d. Vorstand,
Die 29. Kammer des Sozialgerichts Hannover hat auf die mündliche Verhandlung vom
23. August 2002 durch die Richterin Cordes
und die ehrenamtlichen Richter
Herrn Liemert und Herrn Monden
für Recht erkannt:
Tenor:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09. Februar 2001 wird abgeändert.
2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Leistungen nach Maßgabe der Pflegestufe I seit 01. Dezember 2000 zu gewähren.
3. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand
Der Kläger, Jahrgang 1940, leidet unter einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus mit Folgeschäden wie reduzierter Belastbarkeit, Zustand nach Vorfußamputation links und Zehenamputation rechts, häufigen Durchfällen mit teilweiser Stuhlinkontinenz. Er wendet sich gegen die Herabsetzung von Pflegestufe II auf Pflegestufe 0 und begehrt nunmehr die Gewährung von Leistungen nach Maßgabe der Pflegestufe I.
Mit Bescheid vom 27.September 1995 bewilligte die Beklagte Leistungen nach Maßgabe der Pflegestufe II ab 01.April 1995. Im Oktober 1999 wurde eine Wiederholungsbegutachtung veranlasst und das nach Hausbesuch erstellte Gutachten des MDK vom 13. April 2000 eingeholt. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass eine deutliche Verbesserung der Gesamtsituation seit der Vorbegutachtung vorläge; es bestünde keine Pflegestufe mehr, da der grundpflegerische Hilfebedarf lediglich 14 Minuten täglich betrage. Nach Anhörung des Klägers mit Schreiben vom 20.April 2000 wurde das nach Hausbesuch erstelltes MDK-Gutachten vom 27.Juli 2000 mit dem Ergebnis eingeholt, dass der grundpflegerische Hilfebedarf mit 20 Minuten täglich zu bewerten sei. Nach erneuter Anhörung des Klägers mit Schreiben vom 13. August 2000 erging der Bescheid vom 24.Oktober 2000, mit dem eine Herabsetzung von Pflegestufe II auf Pflegestufe 0 zum 30.November 2000 erfolgte. Der Kläger erhob mit Schreiben vom 27.November 2000 Widerspruch unter Beifügung der ärztlichen Bescheinigung des Internisten Dr. ... vom 02.November 1996, wonach bei dem Kläger deutliche Gangunsicherheiten, Kraftlosigkeit und eine Stuhlinkontinenz bestehe. Mit Bescheid vom 09.Februar 2001, dem Kläger am 13. Februar 2001 bekanntgegeben, wurde der Widerspruch zurückgewiesen.
Mit der am 15.März 2001 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Ziel weiter. Er trägt vor, dass eine wesentliche Besserung des täglichen grundpflegerischen Hilfebedarfes nicht vorliege, zumindest seien aber die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllt. Die Feststellungen des MDK seien nicht als zutreffend anzusehen, so sei z.B. fälschlicherweise davon ausgegangen worden, dass er keinen Hilfebedarf bei der mundgerechten Nahrungszubereitung habe.
Der Kläger beantragt,
1. den Bescheid der Beklagten vom 24.Oktober 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.Februar 2001 abzuändern,
2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Leistungen nach Maßgabe der Pflegestufe I seit 01 .Dezember 2000 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf die im Verwaltungsverfahren eingeholten
MDK-Gutachten und ist der Ansicht, dass aufgrund der eingetretenen wesentlichen Besserung die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen auch nach Maßgabe der Pflegestufe I nicht mehr gegeben seien.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung der Befundberichte des Neurologen Dr. ... vom 21.Juni 2001, des Allgemeinmediziners Dr. ... vom 30.Juni 2001, des Orthopäden Dr. ... vom 09.Juli 2001 sowie des Internisten Dr. ... vom 26.November 2001. Ferner hat das Gericht das Sachverständigengutachten des Dr. ... vom 21. Januar 2002 mit ergänzender Stellungnahme vom 22.April 2002 eingeholt.
Außer den Gerichtsakten haben die den Kläger betreffenden Verwaltungsakten vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die angefochtenen Bescheide erweisen sich teilweise als rechtswidrig. Es handelt sich vorliegend um eine reine Anfechtungsklage. Deshalb ist bei der Ermittlung des täglichen
Hilfebedarfes des Klägers auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier des Widerspruchsbescheides vom 09.Februar 2001 abzustellen. Nach Überzeugung des Gerichts lagen zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt die Voraussetzungen der Pflegestufe I vor.
Gem. § 48 Abs.1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch, Verwaltungsverfahren (SGB X) ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben.
Gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr.1, Abs.3 Nr.1 Sozialgesetzbuch, Elftes Buch, Pflegeversicherung (SGB XI) sind Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und
hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I
mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen.
Das Gericht bezieht sich zur Begründung seiner Entscheidung auf das überzeugende Gutachten des Dr. ... mit ergänzender Stellungnahme. Dr. ... hat nachvollziehbar festgestellt, dass in dem täglichen grundpflegerischen Hilfebedarf des Klägers gegenüber 1995 eine wesentliche Besserung dergestalt eingetreten ist, dass seit März 2000 eine erhebliche Pflegebedürftigkeit, also Pflegestufe I besteht. So beträgt der tägliche grundpflegerische Hilfebedarf des Klägers nach Auffassung des Dr. ... 51 Minuten pro Tag, wobei sich dieser wie folgt zusammensetzt: im Bereich der Körperpflege wird Hilfe beim Waschen in Höhe von 12 Minuten morgens und 10 Minuten abends benötigt, beim Kämmen 2 mal 2 Minuten, bei der nächtlichen Darmentleerung durchschnittlich 12 Minuten. Im Bereich der Ernährung besteht ein Hilfebedarf von 3 mal 3 Minuten für die mundgerechte Nahrungszubereitung; im Rahmen der Mobilität für das An- und Auskleiden morgens 3 bzw. abends 1 Minute. Die von der Beklagten gegen diese Bewertung vorgebrachten Kritikpunkte vermögen im Ergebnis nicht zu überzeugen Der Einwand, es seien für die Verrichtung des Waschens zu hohe Zeiten zugrundegelegt worden, ist durch die glaubhafte Aussage der Zeugin Frau ... entkräftet. Diese hat für die Hilfestellung beim Waschen nachvollziehbar eine Hilfebedarf von 15 Minuten morgens und 10 Minuten abends angegeben.
Diese Zeiten sind unter Berücksichtigung der beschriebenen Enge des Badezimmer überzeugend und stimmen im wesentlichen mit den Angaben des Sachverständigen überein. Der Einwand der Beklagten, es sei nicht nachvollziehbar, dass der Kläger zwar Insulin selbst spritzen und Blutzucker selbst messen, nicht aber die Haare kämmen und die Nahrung selbst zerteilen könne, kann nur eingeschränkt gefolgt werden.
Auf Nachfrage hat die Zeugin erklärt, dass der Kläger auch nicht in der Lage ist, das Insulin selbständig zu spritzen; er ist auch dabei auf ihre Hilfestellung angewiesen. Im übrigen beschreibt die Zeugin den Vorgang des Insulinspritzens und Blutzuckermessens für den Kläger als motorisch einfacher als z.B. das Halten von Messer und Gabel. So ist der Kläger nach den Angaben der Zeugin zwar überwiegend in der Lage, die Haare selbst zu kämmen, jedoch auf die mundgerechte Nahrungszubereitung angewiesen. Diesen Hilfebedarf hat die Zeugin nachvollziehbar damit begründet, dass der Kläger aufgrund der Steifigkeit und des Zitterns der Hände nicht in der Lage sei, Messer und/oder Gabel zu benutzen und die Nahrung bei dem Versuch der selbständigen Zerteilung auf den Boden fiele.
Unter Würdigung dieses Umstandes erscheint der von dem Sachverständigen festgestellte Hilfebedarf in Höhe von dreimal 3 Minuten durchaus angemessen. Soweit die Beklagte die Höhe des von Dr. ... zugrundegelegten nächtlichen Hilfebedarfes bei der Darmentleerung kritisiert, vermag das Gericht auch diesem Kritikpunkt nicht zu folgen. Die Zeugin hat bestätigt, dass die nächtlichen Durchfälle ca. 4 bis 5mal pro Woche auftreten und dann durchschnittlich zweimal pro Nacht. Der zu leistende Hilfebedarf insgesamt mit Beziehen des Bettes sei jeweils mit bis zu einer Stunde zu beziffern.
Im Vergleich zu dieser Zeitangabe erscheinen die Angaben des Sachverständigen eher als niedrig. Insoweit wird auch auf die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (BRi) verwiesen, wonach für das Wechseln von Windeln nach Stuhlgang ein Hilfebedarf von 7-10 Minuten angegeben ist. Aufgrund der Tatsache, dass der Kläger unter massivem Durchfall leidet, der durch die Windel allein nicht aufzufangen ist, erscheint dem Gericht ein durchschnittlicher Hilfebedarf von 10 Minuten pro anfallendem Windelwechsel angemessen. Bei wöchentlich cirka 9 mal anfallendem Hilfebedarf in diesem Bereich ergibt sich ein täglicher Hilfebedarf
für die Darmentleerung in Höhe von 13 Minuten, der ungefähr den Feststellungen des
Sachverständigen entspricht.
Insgesamt ergibt sich also auch unter Nichtbeachtung des von dem Sachverständigen festgestellten Hilfebedarfes für die Verrichtung des Kämmens in Höhe von täglich 4 Minuten ein grundpflegerischer Hilfebedarf von 47 Minuten täglich, der knapp die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllt. Dies gilt auch für den zurückliegenden Zeitraum ab 01.Dezember 2000 und den hier erheblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides am 09.Februar 2001, denn sowohl nach Einschätzung des Sachverständigen als auch der Zeugin bestand der in diesem Umfang geschilderte Hilfebedarf bereits vor zwei Jahren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.