Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 28.07.2022, Az.: 5 A 5248/19

innerstaatliche Schutzalternative; innerstaatlicher bewaffneter Konflikt; Subsidiärer Schutz; Südsudan; Upper Nile

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
28.07.2022
Aktenzeichen
5 A 5248/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59782
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Es liegen stichhaltige Gründe für die Annahme vor, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Upper Nile einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt sein würde.
2. Der Kläger ist nicht auf Juba als innerstaatliche Schutzalternative zu verweisen, weil er auch dort der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) und nicht vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG).

Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist.

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen.

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom H. Oktober 2019 wird insoweit aufgehoben, als er der vorstehenden Verpflichtung entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, zu ½. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens zu ½.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der 1999 geborene Kläger ist nach eigenen Angaben südsudanesischer Staatsangehöriger, islamischer Religionszugehörigkeit und vom Volk der Schilluk. Er reiste am 2. August 2017 in das Bundesgebiet ein und stelle am 10. August 2017 einen Asylantrag.

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 11. August 2017 gab er an, sich zuletzt im Dorf I., in der Nähe von J. (Upper Nile) aufgehalten zu haben. Seine Mutter sei verstorben. Ob er noch weitere Verwandte habe, erinnere er nicht. Wo sein Vater sei, wisse er nicht. Er habe keine Schule besucht und könne weder Lesen noch Schreiben. Er habe im Südsudan als Hirte gearbeitet. Sie hätten ein Haus gehabt, welches abgebrannt sei. Er spreche ausschließlich Arabisch. Zu seinem Verfolgungsschicksal befragt, gab er an, dass er mit seinem Vater und seinem Bruder die Tiere gehütet habe. 2013 hätten bewaffnete Milizen das Vieh gestohlen, seinen Bruder umgebracht und seine Mutter und seine anderen Geschwister mit dem Haus der Familie verbrannt. Seinen Vater habe er seitdem nicht mehr gesehen. Leute aus Libyen hätten ihn dann gekauft. Er habe dort auf einem Bauernhof arbeiten müssen. Zwei Jahre später sei er an eine andere Person weitergegeben worden. Diese Person habe dann alles für seine Ausreise organisiert. Zwischen 2013 und 2015 habe er auf der Straße gelebt und gelegentlich für einen anderen Hirten gearbeitet. Dann habe er erst in Libyen erfahren, dass er verkauft worden sei. Eine Gruppe namens „Guran“ habe ihn mit anderen nach Libyen verkauft. Auch bei dem anderen Hirten habe er nicht bleiben können, weil auch dort die Milizen das Vieh hätten stehlen wollen. Dies habe ihm so große Angst gemacht, dass er seine Stellung bei dem Hirten aufgegeben habe. Er träume häufiger davon, was mit seiner Familie passiert sei und nehme Tabletten, damit er überhaupt schlafen könne. Im Nachgang legte er ein Attest einer Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Psychiatrie vom 21. August 2017 vor, wonach sie von einer Post-Traumatischen Belastungsstörung ausgehe (F 40.1) und zunächst eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome diagnostiziere (F 32.2).

Mit Bescheid vom K. Oktober 2019 hat die Beklagte festgestellt, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt (Nr. 4). Im Übrigen hat sie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und die Asylanerkennung (Nr. 2) abgelehnt und den subsidiären Schutz nicht zuerkannt (Nr. 3). Es sei zwar davon auszugehen, dass in L. (Upper Nile) ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrsche oder dieser zumindest nicht ausgeschlossen werden könne. Der vorliegend festgestellte Grad willkürlicher Gewalt erreiche aber nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche hohe Niveau. Der Kläger sei dem Kreis vulnerabler Personen zuzuordnen und es sei bei einer Rückkehr nicht mit Gewissheit auszuschließen, dass ihm eine Verelendung drohen würde, weshalb die Feststellung zu Nr. 4 erfolgt sei.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 30. Oktober 2019 Klage erhoben. Ihm sei aufgrund der humanitären Lage in seiner Herkunftsregion der subsidiäre Schutz zuzuerkennen.

Soweit der Kläger vormals beantragt hat, ihm die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen, hat er die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.

Der Kläger beantragt zuletzt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom K. Oktober 2019 insoweit zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutz zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, des Verwaltungsvorgangs der Beklagten sowie auf die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte in Abwesenheit der ordnungsgemäß geladenen Beklagten verhandeln und entscheiden, weil diese hierauf in der Ladung hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

Die Klage im Übrigen ist zulässig und begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.

Gemäß § 4 AsylG ist subsidiär Schutzberechtigter, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz S. Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Eine solche Bedrohung kann gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3 c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder die Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten.

Hier liegen stichhaltige Gründe für die Annahme vor, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach J., M., einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt sein würde.

Zur Feststellung, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ im Sinne dieser Vorschrift gegeben ist, ist eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der die Situation des Herkunftslands des Klägers kennzeichnenden Umstände, erforderlich (EuGH, Urteil vom 21.6.2021, - C 901/19, juris).

Aus dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes ergibt sich, dass Angehörige der Nuer, Schilluk und anderer Ethnien im Zuge der bürgerkriegsähnlichen Zustände seit Mitte Dezember 2013 mit Verfolgung und Gewalt in den von der Regierung gehaltenen Gebieten rechnen müssen. Einheiten der Rebellen, also der sog. „SPLM in Opposition“ (oder auch „Anti-Government Forces“/ SPLM-IO) verübten ihrerseits Gewalttaten, auch gegen Zivilisten, dies vor allem in den Gliedstaaten Upper Nile, Unity, Jonglei und den Äquatorias. Die Mehrzahl von Verbrechen und schwersten Menschrechtsverletzungen werde aber den Regierungskräften zugeschrieben. Ein effektiver Schutz durch staatliche Organe bestehe nicht. Vielfach seien neben der Armee auch Angehörige von Polizei sowie von Zoll und Wildschutz an Gewalttaten beteiligt. Insgesamt sei der Konflikt durch einen Zerfall der Gruppen mit wechselnden Zielen und auch Loyalitäten gekennzeichnet. (Lagebericht vom 25.3.2021, S. 7). Bewaffnete Gewalt sei 2020 vor allem in den Bundesstaaten Jonglei und Warrap feststellbar gewesen (Lagebericht vom 25.3.2021, S. 5). Bis heute gebe es in den Bundesstaaten Unity, Upper Nile, Jonglei und den Equatorias regelmäßig gewaltsame Auseinandersetzungen mit Waffen (Lagebericht vom 25.3.2021, S. 9).

Die Nuer-Rebellen, auch „SPLM in Opposition (SPLM-IO)“ oder „Anti-Government Forces“ genannt, kontrollierten nur noch kleine Teile der vor allem von der Nuer besiedelten Gliedstaaten Jonglei, Upper Nile, Unity und Gebiete in den Equatoria-Bundesstaaten. Die lokale Verwaltung sei dort weitgehend zu ihnen übergelaufen und funktioniere partiell auf sehr niedrigem Niveau weiter. Eine Vielzahl von Milizen und Banden übe beschränkt lokale Macht aus. Auch die Bildung einer Übergangsregierung habe an der weiteren Existenz verschiedener Armeen unter der Kontrolle verschiedener Gruppen nicht viel geändert. Im Rahmen des Friedensprozesses sollten vereinigte Streitkräfte (Armee, Polizei, Wildschutz, NSS u.a.) geschaffen werden. Dazu würden seit Ende 2019 Kantonierungslager und Ausbildungslager eingerichtet. In diesen befänden sich aber nur Teile der bisherigen Oppositions- und Regierungskräfte. Eine Graduierung dieser Kräfte bzw. Dislozierung habe bisher nicht stattgefunden. Es sei davon auszugehen, dass alle Seiten ihre Elitekräfte bisher nicht dem Vereinigungsprozess zugeführt hätten. Dies gelte insbesondere für die Regierungseinheiten Tiger Division und die bewaffneten Kräfte des Geheimdienstes NSS. In den Equatoria-Bundesstaaten komme es regelmäßig zu Auseinandersetzungen unter Beteiligung von SPLM-IG und SPLM-IO, teilweise auch mit Truppen der NAS, einem Nichtunterzeichner des Friedensabkommens (Lagebericht vom 25.3.2021, S. 14). Unabhängig von den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und der in immer mehr einzelne Gruppen zerfallenden bewaffneten Opposition komme es immer wieder zu gewalttätigen innerethnischen Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen der Dinka, Nuer und Murle. Auch innerhalb der Ethnien würden Konflikte um Vieh, Frauen und Land sehr häufig gewaltsam ausgefochten (Lagebericht vom 25.3.2021, S. 5).

Die Lager der UNMISS werden seit September 2020 sukzessive in Lager für Binnenvertriebene unter der Verantwortung der südsudanesischen Regierung umgewandelt, angefangen mit Bor, Wau und Dschuba. Ausgenommen davon bleibt aber bisher das Schutzlager für Zivilisten in Malakal, Upper Nile, da auf Grund der dortigen Spannungen zwischen Dinka Padeng und Schilluk das Lager vorerst noch einen besonderen Schutzzweck erfüllt (Lagebericht vom 25.3.2021, S. 5). (Lagebericht vom 25.3.2021, S. 13).

Accord berichtet, dass im Jahr 2021 in Upper Nile im Rahmen von 72 Vorfällen von 258 Todesopfern berichtet worden sei (Accord, South Sudan, year 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074181/2021ySouthSudan_en.pdf). Im 1. Quartal 2022 sei im Rahmen von 26 Vorfällen von 44 Todesopfern berichtet worden (https://www.ecoi.net/en/file/local/2074178/2022q1SouthSudan_de.pdf). Malakal und sogar das dortige Schutzlager, sind von Accord jeweils als Tatorte erfasst worden (a.a.O.).

UNMISS berichtet, dass Zivilisten trotz des Umstandes, dass es im Jahr 2021 im Vergleich zum Jahr 2020 landesweit etwa 42 Prozent weniger zivile Opfer gegeben habe, weiterhin Gefahr liefen, Opfer von Gewalt zu werden. Es seien Zivilpersonen, die weiterhin den Großteil der Last trügen, die die bewaffneten Konflikte im Südsudan auslösten (UNMISS, annual brief on violence affecting civilians vom 17.2.2022, S. 1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068186/unmiss_hrd_annual_brief_2021.pdf).

Nach alledem liegen stichhaltige Gründe für die Annahme vor, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach J., Upper Nile, einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt sein würde.

Der Kläger ist auch nicht auf Juba als innerstaatliche Schutzalternative zu verweisen, weil er auch dort der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) und nicht vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG).

Gemäß § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer subsidiärer Schutz nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keiner tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist oder Zugang zu Schutz vor der Gefahr eines ernsthaften Schadens nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

Bei der Prüfung der Frage, ob Juba die Voraussetzungen des § 3e Abs. 1 AsylG erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 QRL zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen (§ 3e Abs. 2 AsylG).

Zu den persönlichen Umständen, die zu berücksichtigen sind, gehören gemäß Art. 4 Abs. 3 c) QRL Faktoren wie der familiäre und soziale Hintergrund sowie Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht der persönlichen Umstände die Handlungen, denen die Person ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind.

Der 22 Jahre alte Kläger vom Stamm der Schilluk gab im Rahmen der mündlichen Verhandlung an, unterdessen ein wenig Lesen und Schreiben gelernt zu haben. Auf Arabisch könne er nur sehr wenig Lesen und Schreiben. Er arbeite in Deutschland als Aushilfe in Supermärkten und bei Postdienstleistern. Im Südsudan hat er als Hirte gearbeitet. Enge Verwandte hat er im Südsudan nicht.

Gegen Juba als innerstaatliche Schutzalternative sprechen durchgreifend die allgemeinen Gegebenheiten vor Ort. Gemäß § 3e Abs. 2 AsylG sind die aktuellen Informationen des UNHCR und von EASO für die Prüfung der allgemeinen Gegebenheiten vor Ort von besonderer Relevanz. Nach diesen Informationen ist der Kläger auch in Juba der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt und ist ihm Juba als innerstaatliche Schutzalternative auch nicht zumutbar.

UNHCR appelliert an alle Staaten, keine Abschiebungen nach Südsudan vorzunehmen. Die Situation im Südsudan ist nach Auffassung von UNHCR im Hinblick auf Sicherheit, Recht und Ordnung sowie Menschenreche nicht vereinbar mit einer sicheren und würdevollen Rückkehr von Geflüchteten. Dies gelte unabhängig davon, ob ihnen internationaler Schutz zustehe oder nicht (UNHCR, Position on Returns to South Sudan – Update II, April 2019, S. 4, https://www.refworld.org/country,,,,SSD,,5cb4607c4,0.html). Dem Auswärtigen Amt liegen auch keine Erfahrungswerte über Abschiebewege nach Südsudan vor (Lagebericht vom 25.3.21, S.18). UNHCR vertritt darüber hinaus jüngst die Auffassung, dass Menschen, die aus Südsudan geflohen sind, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Konventionsflüchtlinge seien (UNHCR, Position on Returns to South Sudan – Update III, Oktober 2021, S. 11, https://www.refworld.org/country,,,,SSD,,617676f04,0.html). Letzteres ist hier zwar wie zuvor dargestellt nicht der Fall. Die Einschätzung von UNHCR, dass eine Abschiebung in den Südsudan nicht sicher und würdevoll möglich sei, der sich die Einzelrichterin grundsätzlich anschließt, wirkt sich aber im Rahmen der Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Schutzalternative aus, weil der Zumutbarkeitsmaßstab über die Beachtlichkeit einer existenziellen Notlage hinausgeht (Nds. OVG, Urteil vom 19.9.2016 - 9 LB 100/15 -, juris Rn. 75; BVerwG, Urteil vom 29.5.2008 - 10 C 11.07 - juris Rn. 35). Wenn eine Abschiebung grundsätzlich ausscheidet, weil mangels Sicherheit, Recht und Ordnung sowie mangels Menschenrechten eine erzwungene Rückkehr nicht sicher und würdevoll möglich ist, so ist derselbe Ort als innerstaatliche Schutzalternative grundsätzlich auch nicht zumutbar.

Accord berichtet in Bezug auf (ganz) Central Equatoria, dass dort im Jahr 2021 im Rahmen von 141 Vorfällen von 160 Todesopfern berichtet worden sei (Accord, South Sudan, year 2021, Update on incidents according to the Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), 8 June 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074181/2021ySouthSudan_en.pdf). Im 1. Quartal 2022 sei im Rahmen von 20 Vorfällen von 17 Todesopfern berichtet worden (Accord, Kurzübersicht Südsudan, 1. Quartal 2022, Südsudan, 1. Quartal 2022: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) (ecoi.net); https://www.ecoi.net/en/file/local/2074178/2022q1SouthSudan_de.pdf). Dabei stellt Accord Juba jeweils als einen der Tatorte fest (a.a.O.).

EASO bezieht sich wie Accord auf die Zahlen von ACLED und listet beispielhaft einen Vorfall am 3. Juni 2020, bei dem nationale “Sicherheitskräfte“ in Juba im Zuge von Streitigkeiten um Land, in deren Folge Proteste entstanden waren, mindestens fünf Zivilisten getötet haben. Auch am 20. und 21. August 2020 sei es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen NAS und SSPDF in der Hauptstadt gekommen (EASO, Anfragebeantwortung zu Südsudan, Sicherheitslage zwischen 1.1.2020 und 31.1.2021, vom 26.2.2021, S. 20 f. https://www.ecoi.net/en/file/local/2046429/2021_02_Q1_COI_South_Sudan_Security_Situation.pdf).

In der Gesamtschau ist besonders zu berücksichtigen, dass der Kläger, der dem Stamm der Schilluk angehört, in Juba damit rechnen muss, schon aufgrund dieses Umstandes Opfer von Gewalt zu werden. Denn nach den Informationen des Auswärtigen Amtes müssen Angehörige der Nuer, Schilluk und anderer Ethnien in den von der Regierung gehaltenen gebieten, wozu Juba gehört, mit Verfolgung und Gewalt rechnen (Lagebericht vom 25.3.21, S. 7). Nicht nur wird die Mehrzahl von Verbrechen und schwersten Menschrechtsverletzungen den Regierungskräften selbst zugeschrieben. Daneben besteht auch ein effektiver Schutz durch staatliche Organe nicht (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. § 3d AsylG; Lagebericht vom 25.3.21, S. 7).Nach alledem ist der Kläger nicht auf Juba als innerstaatliche Schutzalternative zu verweisen.

Die Kostenentscheidung folgt hinsichtlich des zurückgenommenen Begehrens aus § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.