Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 19.08.2002, Az.: 4 B 1390/02
Eingliederungshilfe; Schulbildung; Tagesbildungsstätte
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 19.08.2002
- Aktenzeichen
- 4 B 1390/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 43529
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs 2 BSHG
- § 4 Abs 2 BSHG
- § 39 Abs 1 S 1 BSHG
- § 40 Abs 1 Nr 3 BSHG
- § 14 Abs 2 S 1 SchulG ND
- § 68 Abs 1 S1 SchulG ND
Gründe
Die 7-jährige Antragstellerin, bei der durch Bescheid der Bezirksregierung L. vom 13. Mai 2002 ein sonderpädagogischer Förderungsbedarf festgestellt und die daher zum Besuch einer geeigneten Sonderschule verpflichtet worden ist, begehrt von dem Antragsgegner im Wege der Eingliederungshilfe die Übernahme der monatlichen Kosten von 2.076,28 € für den Besuch der von der L. i. L. V. e. V. betriebenen Tagesbildungsstätte in V..
Den entsprechenden Antrag der Eltern der Antragstellerin lehnte der Antragsgegner durch Bescheid vom 28. Juni 2002 ab, weil mit der L. d. R. W. der I. M. i. R. eine weitere geeignete Sonderschule "G" mit freien Plätzen vorhanden sei und die Kosten für den Besuch dieser Schule monatlich nur 408,33 € betrügen. Da den Wünschen des Hilfeempfängers gemäß § 3 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) grundsätzlich nur entsprochen werden solle, sofern sie nicht mit unverhältnismäßig hohen Mehrkosten verbunden seien, sehe er aufgrund der hier gegebenen erheblichen Mehrkosten keine Möglichkeit, dem Antrag auf Kostenübernahme für die Tagesbildungsstätte stattzugeben.
Gegen diesen Bescheid ist unter dem 4. Juli 2002 Widerspruch eingelegt und am 31. Juli 2002 bei Gericht um Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht worden. Zur Begründung wird im Wesentlichen geltend gemacht, dass die L.Schule im Hinblick auf ihr schulisches Konzept und ihre konfessionelle Bindung nicht geeignet sei, dem Förderungsbedarf der Antragstellerin ausreichend Rechnung zu tragen. Insbesondere finde in der Tagesbildungsstätte ein gemeinsamer Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern statt, weil eine entsprechende Kooperation mit einer Regelschule bestehe, was bei der L. nicht der Fall sei. Damit könne allein an der Tagesbildungsstätte die zuvor bereits in dem von der Antragstellerin besuchten Heilpädagogischen Kindergarten der L. R.-V. g. i. A. praktizierte integrative Betreuung fortgesetzt werden. Da die L. für die Beschulung der Antragstellerin nicht gleich gut geeignet sei, spiele das Mehrkostenargument keine Rolle.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO bleibt ohne Erfolg.
Gemäß § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Gemäß den §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 ZPO hat der Antragsteller sowohl die Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund) als auch seine materielle Anspruchsberechtigung (Anordnungsanspruch) glaubhaft darzulegen.
Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
Die Antragstellerin gehört zu dem Personenkreis des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG. Bei ihr liegt ein Chromosom-18-Syndrom (sog. Grouchy-Syndrom) vor, das heißt, bei ihr ist unter anderem eine ausgeprägte geistige Behinderung mit verzögerter Sprachentwicklung gegeben. Sie ist, was auch zwischen den Beteiligten nicht umstritten ist, wesentlich behindert im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG und hat daher grundsätzlich Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe, wobei allerdings über Form und Maß, also das "Wie" der Hilfe durch den Sozialhilfeträger nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden ist (vgl. § 4 Abs. 2 BSHG). Dabei soll Wünschen des Hilfeempfängers, die sich auf die Gestaltung der Hilfe richten, entsprochen werden, soweit sie angemessen sind (§ 3 Abs. 2 Satz 1 BSHG). Allerdings braucht der Träger der Sozialhilfe gemäß § 3 Abs. 2 Satz 3 BSHG Wünschen nicht zu entsprechen, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre. Zu den Maßnahmen der Eingliederungshilfe gehört gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung, die bei Behinderten, die nicht am allgemeinen Schulunterricht teilnehmen können, sondern bei denen ein sonderpädagogischer Förderungsbedarf besteht, durch den Besuch der für sie geeigneten Sonderschule oder des für sie geeigneten Sonderunterrichts gewährleistet wird (vgl. §§ 14 Abs. 2 Satz 1, 68 Abs. 1 Satz 1 Nds. Schulgesetz - NSchG -).
Ausgehend hiervon ist die Entscheidung des Antragsgegners, eine Übernahme der durch den von der Antragstellerin gewünschten Besuch der Tagesbildungsstätte in V. entstehenden Kosten in Höhe von monatlich 2.076,28 € unter Verweisung auf den wesentlich kostengünstigeren, lediglich 408,33 € im Monat verursachenden Besuch der L. in R. abzulehnen, nicht zu beanstanden. Die L., bei der es sich um eine seit 25 Jahren staatlich anerkannte Schule für geistig Behinderte (Sonderschule G) in der freien Trägerschaft der R. W. d. I. M., also um eine private Ersatzschule nach §§ 142 ff. NSchG handelt, ist nach Auffassung der Kammer geeignet, den bei der Antragstellerin festgestellten sonderpädagogischen Förderungsbedarf, der bei ihr in einer Förderung der Bereiche Ausdauer, Konzentration und Aufmerksamkeit sowie in lebenspraktischen Bereichen besteht, zu gewährleisten und ihr damit eine angemessene Schulbildung im Sinne des § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG zu ermöglichen.
Hierfür spricht zum einen schon der Bescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 13. Mai 2002. Dieser bringt zwar zum Ausdruck, dass die Förderung der Antragstellerin, wenn ein Kostenträger ermittelt ist, in der Tagesbildungsstätte der Lebenshilfe in V. geschehen kann. Eine auf der Grundlage des § 68 Abs. 2 Satz 2 NSchG grundsätzlich mögliche Entscheidung der zuständigen Schulbehörde, dass die Antragstellerin eine anerkannte Tagesbildungsstätte zu besuchen hat, ist aber nicht erfolgt, sondern der Bescheid der Bezirksregierung Lüneburg erschöpft sich in der allgemeinen Verpflichtung der Antragstellerin zum Besuch einer geeigneten Sonderschule, zu denen nach Ansicht der Schulbehörde neben der Tagesbildungsstätte offensichtlich auch die L. gehört, was dadurch belegt wird, dass beide Einrichtungen eine Durchschrift des Bescheides vom 13. Mai 2002 erhalten haben.
Zum anderen kann aber auch nicht festgestellt werden, dass im Falle der Antragstellerin eine angemessene Förderung nur im Rahmen einer sogenannten integrativen Beschulung möglich sein soll, insbesondere wird sie auch an der Tagesbildungsstätte in V. keine Integrationsklasse, also eine aus behinderten und nichtbehinderten Kindern bestehende Klasse im Sinne des § 4 NSchG besuchen können.
Vorauszuschicken ist dabei zunächst, dass die Antragstellerin in dem von ihr bisher besuchten Kindergarten in A. ebenfalls keiner integrativen, das heißt aus nichtbehinderten und behinderten Kindern zusammengesetzten Gruppe angehört hat. Vielmehr bestand ihre dortige Kindergartengruppe ausschließlich aus behinderten Kindern, allerdings mit der Besonderheit, dass im Rahmen der Kindergartenerziehung - anders als bei dem nunmehr aufzunehmenden Schulbesuch - noch keine Differenzierung nach unterschiedlichen Behinderungsformen, wie Geistig- oder Körperlich- oder Lernbehinderten erfolgt ist. Entsprechend kann daher aber, insbesondere auch unter Berücksichtigung der vorliegenden Konzeption des Heilpädagogischen Kindergartens in A. keine Rede davon sein, dass die Antragstellerin im Rahmen des Kindergartenbesuches ihre Fortschritte in der Vergangenheit "vornehmlich durch die Anschauung und Nachahmung von nicht behinderten Kindern gemacht hat", weil abgesehen von der räumlichen Anbindung dieses Kindergartens an die Grundschule (gemeinsamer Pausenhof) eine gemeinsame Betreuung mit nicht behinderten Kindern gerade nicht erfolgt ist. Entsprechendes ergibt sich folgerichtig auch an keiner Stelle aus dem vorgelegten Beratungsgutachten vom 21. März 2002, in dem lediglich allgemein festhalten wird, dass die Antragstellerin andere Kinder, die ihr anschaulich vorführen, wie man eine Aufgabe bearbeiten und bewältigen kann, als Lernmodell benötigt. Solchen anderen Kinder wird die Antragstellerin aber auch bei einem Besuch der L.-Schule begegnen. Schließlich führt in diesem Zusammenhang auch das eingereichte Attest der Fachärzte für Kinderheilkunde D. und M. vom 8. Juli 2002 zu keinem anderen Ergebnis. Zwar spricht dieses privatärztliche Attest davon, dass die Antragstellerin besonders gut von gesunden Kindern lerne, es ist aber insoweit nur eingeschränkt verwertbar, weil auch die die Antragstellerin behandelnden Kinderärzte fälschlich davon ausgehen, dass sie "eine Integrationsklasse der Lebenshilfe V.-E." besuchen soll.
Daher bestehen im vorliegenden Fall die Unterschiede zwischen der Tagesbildungsstätte und der L. allein darin, dass im Falle der Tagesbildungsstätte für den Bereich der Grundschule bereits eine feste Kooperation (vgl. auch § 25 NSchG) mit staatlichen Regelschulen besteht, das heißt, durch Nutzung von Räumlichkeiten in den staatlichen Grundschulen ist ein gemeinsamer Unterricht in einzelnen Bereichen sowie allgemein die Begegnung von behinderten und nichtbehinderten Schülern häufiger und einfacher als in der L. möglich, bei der sich die Kooperation zur Zeit noch auf einen gemeinsamen Sportunterricht mit der S.-Schule (Grundschule) in R. beschränkt. Insoweit ist der Antragstellerin bzw. ihren Eltern zwar zuzugestehen, dass wegen der bei der Tagesbildungsstätte in V. bereits gegebenen häufigeren Möglichkeiten zu gemeinsamem Unterricht und Begegnung mit nicht behinderten Grundschülern ein Besuch für die Antragstellerin durchaus als vorteilhaft und wünschenswert einzustufen wäre, gleichwohl ändert dies nichts an der Eignung der L. in R., ihren sonderpädagogischen Förderungsbedarf abzudecken und ihr damit eine ihrer Behinderung angemessene Schulausbildung zu ermöglichen, zumal ein insoweit gegebener Nachteil möglicherweise auch dadurch in gewissem Maße kompensiert wird, dass ein Besuch der L. der Antragstellerin eine ortsnahe Beschulung ermöglichlicht und ihr einen nicht unerheblich weiteren Schulweg erspart.
Schließlich vermag die Kammer eine fehlende Eignung der L. auch nicht daraus herzuleiten, dass es sich bei ihr nach dem Vorbringen der Antragstellerin angeblich um eine Konfessionsschule handeln soll. Allein der Umstand, dass Träger dieser Einrichtung die R. A. der I. M. sind, macht eine Schule in freier Trägerschaft im Sinne der §§ 139 ff. NSchG noch nicht zu einer Bekenntnisschule, wie ein Blick in § 129 NSchG eindeutig belegt. Entsprechend wird die L. von Schülern unterschiedlicher Konfessionen besucht und auch die Lehrkräfte gehören unterschiedlichen Bekenntnissen an. Sie unterliegt denselben Bestimmungen wie staatliche Schulen, also insbesondere dem NSchG und leistet auch dieselbe Arbeit wie eine staatliche Sonderschule für geistig Behinderte.
Steht nach alledem fest, dass die L. i. R. ebenso wie die Tagesbildungsstätte in V. geeignet ist, dem sonderpädagogischen Förderungsbedarf der Antragstellerin angemessen Rechnung zu tragen, ist die Entscheidung des Antragsgegners für den kostengünstigeren Schulbesuch im Rahmen der L. auf der Grundlage der §§ 4 Abs. 2, 3 Abs. 2 Satz 2 BSHG rechtlich nicht zu beanstanden. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass mehrere Kinder aus dem Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners bereits unter Kostenübernahme im Wege der Eingliederungshilfe die Tagesbildungsstätte besuchen. Es ist zum einen weder vorgetragen noch ersichtlich, dass diese Fälle mit dem hier zu entscheidenden tatsächlich vergleichbar sind. Zum anderen ergibt sich aus der Stellungnahme der Lebenshilfe im L. V. e. V. vom 9. August 2002, dass die "13 Schüler aus dem L. R. (W.) die Tagesbildungsstätte mit der Empfehlung für diese besondere Konzeption besuchen". Eine solche Empfehlung für den Besuch der Tagesbildungsstätte fehlt aber bei der Antragstellerin.