Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 28.08.2002, Az.: 4 A 472/01
Behinderung; Eingliederungshilfe; Legasthenie
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 28.08.2002
- Aktenzeichen
- 4 A 472/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 43525
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 27 SGB 8
- § 35a SGB 8
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Eine Lese- und Rechtschreibschwäche führt regelmäßig nur dann zu einer (drohenden) seelischen Behinderung, wenn konkrete Anhaltspunkte dies nahelegen. Hierzu kann z. B. die auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, der Rückzug aus jeden sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule gehören.
Tatbestand:
Der Kläger zu 3.) begehrt die Bewilligung von Eingliederungshilfe für die Therapie einer Lese- und Rechtschreibschwäche.
Er ist am 9. O. 1988 geboren und besuchte bis zum 31. Juli 2001 die Orientierungsstufe der A.-B.-S. in B.. Diese verließ er mit einem Eignungsgutachten für die Hauptschule. Er besucht seitdem die Realschule. Seine Eltern beantragten am 4. Juli 2000 beim Jugendamt des Beklagten die Gewährung von Hilfe zur Erziehung bzw. eine Fördermaßnahme zur Abwendung einer seelischen Behinderung. Dem Antrag beigefügt war eine Stellungnahme des Diakonischen Werks vom 17. Mai 2000. Dort hatte sich T. im Februar 2000 zu einer testpsychologischen Untersuchung vorgestellt. Im Einzelnen heißt es in dieser Stellungnahme:
Verhaltensbeobachtung während des Erstgesprächs und der Diagnostik:
T. wirkte sehr unsicher und schüchtern; es war ihm unangenehm, dass über seine schulischen Probleme gesprochen wurde. Als es um das Procedere einer notwendigen Diagnostik ging, fing er an zu weinen. T. freundlich, still, zurückhaltend und sehr sensibel. Die Beratungssituation war für ihn zunächst stark angstbesetzt, vor allem als es um die Leistungsuntersuchung ging. Es machte den Eindruck, dass er sich schnell unter großen Leistungsdruck setzt und Ängste vor Versagen hat, was an seiner zunehmenden Nervosität zu spüren war. Dies legte sich jedoch schnell, als er nach der ersten Untersuchungsphase wusste, was auf ihn zukommt. Er zeigte sich stets motiviert und freute sich über die Aufgaben. Besonders fiel seine schnelle Auffassungsgabe bei der Aufgabenerklärung und die rasche Erledigung des geforderten auf.
T. erreicht im Kaufman-Assessment-Battery for Children (K-ABC) in der Skala intellektueller Fähigkeiten einen Prozentrang von 84, was bedeutet, dass nur 16 % der Kinder seines Alters gleich gute oder bessere Ergebnisse erzielen.
Eine signifikante Stärke zeigt sich im Untertest "Rätsel" (Prozentrang 99), was bedeutet, dass T. über ein sehr großes sprachliches Verständnis, über verbale Merkfähigkeit und über logische, sprachlich gebundene Kombinierfähigkeit verfügt.
Im Untertest "Lesen/Verständnis" (Prozentrang 72) schneidet er gut durchschnittlich ab, d. h. er versteht gut, was er liest, benötigt aber viel Zeit, die Worte zu erlesen. Er liest stockend, und je länger die zu lesenden Sätze waren, um so schwieriger wurde es für T.. Testdiagnostisch liegt jedoch keine Leseschwäche vor.
Im diagnostischen Rechtschreibtest erzielte T. einen Prozentrang von 7, was einer weit unterdurchschnittlichen Rechtschreibleistung entspricht. Die qualitative Auswertung ergibt, dass T. vor allem Regelfehler macht, zum Beispiel im Bereich der Doppelung und Dehnung, das heißt beim Schreiben von betonten kurzen oder langen Vokalen.
Zusammenfassung und Empfehlung:
T. allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit liegt am oberen Durchschnittsrand. Seine Fähigkeiten im einzelheitlichen und ganzheitlichen Denkbereich sind signifikant klaffend zugunsten der weit überdurchschnittlich formal-logischen und räumlich-gestalthaften Denkfähigkeiten. Dennoch liegen auch seine seriellen Fähigkeiten in der Durchschnittsmitte. Im Bereich des Lesens fällt trotz der durchschnittlichen Leistungen auf, dass T. noch nicht flüssig und schnell lesen kann und längere Leseabschnitte ihm größere Anstrengung bereiten.
T. hat eine ausgeprägte Rechtschreibschwäche, weshalb eine Benotung in diesem Bereich nicht erfolgen sollte, um ihm nicht ganz seine Freude an der Schule durch ständige Misserfolgserlebnisse zu nehmen. T. Teilleistungsschwäche in Verbindung mit einer starken Selbstunsicherheit und ängstlichen Angepasstheit macht es unbedingt erforderlich, dass T. zu einer gezielten Förderung der Rechtschreibschwäche in Verbindung mit einem Aufbau seines Selbstwertgefühls kommt, um eine Chronifizierung der psychischen Problematik und eine daraus folgende drohende seelische Behinderung abzuwenden.
Die Klassenlehrerin von T. führte in einem Schulbericht vom 12.09.2000 u. a. folgendes aus:
Zum Verhalten
T. ist im Klassenverband eher zurückhaltend, hat keine besonders engen Freunde in der Klasse, bleibt in den Pausen oft allein. Er sondert sich aber nicht völlig von den Mitschülerinnen und Mitschülern ab. Wenn er einbezogen wird, mach er ihre Spiele und Späße auch mit. Empfindlich reagiert T. auf kleine Hänseleien (Spitznamen etc.). Er fängt dann leicht an zu weinen, sucht Schutz bei der Lehrkraft ("petzt") oder schreit auch mal laut. Diese Situationen kommen aber nicht oft vor. Zu mir ist T. höflich und freundlich. Er zeigt sich in vielen Situationen hilfsbereit. Auf der Klassenfahrt (Juni 2000) gab es keinerlei Probleme mit ihm.
T. hat die größten Schwierigkeiten in Deutsch im Rechtschreiben. Besondere Fehlerschwerpunkte kann ich nicht erkennen. Er macht Fehler in allen Bereichen. T. hat in der Grundschule die sogenannte "Vereinfachte Ausgangsschrift" gelernt. Nach meiner Beobachtung erschwert diese Schrift den Kindern, die ohnehin Lese- und Schreibprobleme haben, das Wiedererkennen von Wortbildern, sobald die einzelnen Buchstaben nicht ganz exakt geschrieben werden. Eine gesonderte Förderung - etwa durch Förderunterricht oder Unterricht in Teilgruppen - ist wegen der schlechten Unterrichtsversorgung an unserer Schule nicht möglich. Ich kann nur versuchen, T. im Deutschunterricht immer wieder kleine Hilfestellungen zu geben und ihn zu ermutigen. In Diktaten gebe ich z. B. nicht mehr seine Fehlerzahl an, sondern die Zahl der richtig geschriebenen Wörter. Leider sind meine Möglichkeiten sehr begrenzt. Außer T. haben noch sieben weitere Kinder dieser Klasse erhebliche Schwierigkeiten im Rechtschreiben (Zensur 5 oder 6). Alle diese Kinder kommen aus der gleichen Grundschulklasse wie T.. Das kann ein Zufall sein. Mir scheint es eventuell aber auch damit zusammen zu hängen, dass die Grundschulklasse durch die Erkrankung ihrer Klassenlehrerin mehrere Lehrerwechsel zu verkraften hatte. Ich halte es für wahrscheinlich, dass der Lese- und Schreiblehrgang nicht vollständig oder nicht kontinuierlich durchgeführt wurde.
Zusammenfassung
Klammert man Deutsch und Englisch einmal aus, hat T. bislang Leistungen gezeigt, mit denen er gut zur Realschule gehen könnte. Seine Lese- und Rechtschreibschwäche bereitet ihm nicht nur in Deutsch und Englisch, sondern auch bei Textaufgaben oder Sachtexten Probleme. Trotz all der Schwierigkeiten ist T. immer wieder bemüht, mitzuarbeiten. Wenn er sich sicher fühlt, arbeitet er gut mit. Beim Lesen und Schreiben fehlt ihm diese Sicherheit. Es wäre für T. wünschenswert und hilfreich, wenn durch gezielte Förderung seine Lese- und Rechtschreibschwierigkeit wenigstens gemindert würden. Damit könnte auch seine Unsicherheit abgebaut werden. Seine Konzentration scheint mir durch diese Unsicherheit gestört zu werden. Ein professioneller Förderunterricht wäre eine Möglichkeit, ihm zu helfen und seine Freude am Lernen, die ja noch vorhanden ist, zu erhalten.
In dem dem Antrag beigefügten Elternbogen ist dargelegt, dass durch die schulische Situation T. LRS sich des öfteren eine gespannte Familiensituation wegen der Hausaufgaben ergibt. Mit der beantragten Hilfemaßnahme werde die Erwartung verknüpft, dass T. nach der Orientierungsstufe die Realschule und nicht die Hauptschule besuchen könne. Die Entwicklung des Kindes sei normal und ohne Auffälligkeiten gewesen.
Mit Bescheid vom 17. Oktober 2000 lehnte der Beklagte den Antrag auf eine schulische Fördermaßnahme gemäß § 35 a SGB VIII ab und bot zugleich Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII an. Diesem Bescheid lag eine Entscheidungsteambesprechung des Jugendamtes des Beklagten am 4. Oktober 2000 zugrunde. Die Voraussetzung für eine Eingliederungshilfemaßnahme gemäß § 35 a SGB VIII lägen nicht vor. Seelische Störungen allein genügten noch nicht für die Annahme einer seelischen Behinderung. Hinzu kommen müsse die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft. Zwar sei aus dem Schulbericht zu ersehen, dass eine gesonderte Förderung von T. wegen der schlechten Unterrichtsversorgung an der Schule nicht möglich sei. Trotzdem bleibe die Tatsache unbestritten, dass seine Schwierigkeiten in der Schule lägen und es somit auch Aufgabe der Schule sei, dieses schulische Problem anzugehen und zu beheben. Zur Beurteilung der psychosozialen Anpassung sei festzustellen, dass T. Kontakt zu anderen Kindern bekomme. So sei er in seiner Freizeit in die Feuerwehr integriert. Den Eltern von T. werde anheim gestellt, sich an das soziale Beratungszentrum des Landkreises C. in H. zu wenden. Dort könne eine Einbindung von T. in die dortige Leseschule erfolgen. Nach Absprache mit dem zuständigen Bezirkssozialarbeiter wäre auch eine weitere soziale Integration durch die soziale Gruppenarbeit nach § 29 SGB VIII denkbar.
Die Eltern von T. haben gegen diesen Bescheid mit Schreiben vom 16. November 2000 Widerspruch eingelegt. T. habe nicht nur Schwierigkeiten im Lesen und insbesondere in der Rechtschreibung. Bei ihm liege darüber hinaus eine Legasthenie vor, und hierbei handele es sich um eine Krankheit. Durch diese Krankheit sei die Eingliederung T. in die Gesellschaft mehr als beeinträchtigt und eine seelische Behinderung zwingend die Folge, wenn die Krankheit nicht entsprechend behandelt werde. Ein Kind, das unter dieser Krankheit leidet, stehe immer am Rande der Gesellschaft, hier insbesondere der schulischen Gemeinschaft, weil es ausgegrenzt und gehänselt werde. Dass eine gesonderte Förderung T. durch die Schule nicht möglich sei, liege nicht an der schlechten Unterrichtsversorgung, sondern daran, dass kein qualifiziertes Personal für diese krankhafte Störung vorhanden sei. Die Behandlung könnten nur spezielle Praxen leisten, die entsprechende Sonderpädagogen hätten. Der Verweis an das Soziale Beratungszentrum in H. gehe fehl.
Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens holte der Beklagte eine Stellungnahme des Leiters seiner Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern vom 23. Januar 2001 ein. In dieser Stellungnahme geht der Diplompsychologe T. auf die vorgelegten Stellungnahmen des Diakonischen Werkes und der Schule ein. Danach gebe es aus seiner Sicht keine ausreichenden Hinweise für die Begründung einer Zuordnung T. zum Personenkreis des § 35 a SGB VIII. Ein Bedarf an Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII werde jedoch gesehen. Dieser beziehe sich auf die Belastungen, die Eltern und Kind bei den Hausaufgaben erlebten sowie auf die Überwindung der von den Eltern beklagten Selbstunsicherheit T.. Er könne in einer stressfrei gestalteten Atmosphäre des Sozialen Beratungszentrums in H. in der Nähe seines Wohnortes den akzeptierten Rahmen durch Einzelförderung und Gruppenkontakte finden, um spezifische Lernprobleme zu mildern oder sogar zu überwinden. Die dort tätigen Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen seien im Umgang mit Lernproblemen und Motivationsproblemen von Kindern und Jugendlichen durch Qualifikation und mehrjährige praktische Erfahrung vertraut. Auch die Anwendung spezifischer Förderprogramme, zum Beispiel im Rechtschreiben, sei in Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern des Landkreises C. oder der schulpsychologischen Beratung dort sehr wohl möglich.
Mit Bescheid vom 8. März 2001 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Schulische Leistungsprobleme führten nicht automatisch zur Zuordnung "seelisch behindert bzw. davon bedroht". Ausmaß und Grad der seelischen Störung sei vielmehr entscheidend. Dadurch müsse die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt sein. Hinzu kommen müsse zudem ein soziales Integrationsrisiko. Es müssten von der Norm abweichende Verhaltensweisen vorliegen, wie zum Beispiel Essstörungen, Einnässen oder Schulphobie. Bei T. sei dies nicht der Fall. Hänseln durch Mitschüler schränke die Integration in die Gesellschaft nicht ein. In seiner Freizeit sei T. bei der Feuerwehr engagiert, habe also Kontakt zu anderen Kindern. Ein Rechtschreibtest habe bei T. einen Prozentrang von sieben ergeben. Nach der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation liege eine Entwicklungsstörung erst bei weniger als drei Prozentpunkten vor. Auch ansonsten sei dieser Bericht des Diakonischen Werkes eher positiv. Aus dem von den Eltern ausgefüllten Fragebogen ergäben sich keine Hinweise auf eine seelische Störung von T.. Die Klassenlehrerin führe seine Schwächen im Lesen und Rechtschreiben auf Probleme in der Grundschule zurück. So hätten sieben weitere Kinder, die aus der selben Grundschulklasse stammten, erhebliche Probleme. Die angebotene Hilfe zur Erziehung werde nach wie vor für erforderlich gehalten.
Die Kläger haben am 10. April 2001 Klage erhoben, mit der sie geltend machen:
Der Beklagte habe den Antrag ohne Prüfung des Einzelfalles abgelehnt. Seine Begründung beruhe auf dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. November 1998, ohne diese auf den Einzelfall von T. zu übertragen. Der Beklagte gehe einfach davon aus, dass T. Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft nicht beeinträchtigt sei. Es habe aber weder mit der Schule gesprochen noch die vorliegenden Jugendamtsberichte ausgewertet. Es sei paradox, wenn darauf verwiesen werde, es sei Aufgabe der Schule, schulische Probleme zu lösen, wenn die Schule zugleich erkläre, dieses wegen der vorhandenen schlechten Unterrichtsversorgung nicht gewährleisten zu können. Die Einrichtungen, an die die Eltern bzw. T. verwiesen würden, könnten keine qualifizierte Hilfe leisten. Es gebe dort keine Pädagogen, die dieses Problem lösen könnten. Es sei eine politische Entscheidung, eine Einrichtung wie die pädagogisch-therapeutische Einrichtung in Bremerhaven (PTE) nicht zu fördern. T. besuche die PTE und habe dabei schon diverse Fortschritte erzielt. Legasthenikern werde der Schlüssel zur Gesellschaft versagt, wenn eine Lese- und Rechtschreibschwäche nicht behandelt werde. Dieses Problem sei keine Frage der Intelligenz, sondern von Störungen in der Wahrnehmung und der Informationsverarbeitung. Dass der Beklagte den Einzelfall nicht sehe, ergebe sich schon daraus, dass er darauf hinweise, T. sei bei der Feuerwehr aktiv. Richtig sei vielmehr, dass T. sich beim DRK-Jugend-Rotkreuz in L. betätige.
Die Kläger zu 1.) und 2.) haben die Klage im Termin zur mündlichen Verhandlung zurückgenommen.
Der Kläger zu 3.) beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, ihm Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII für eine Therapie bei der pädagogisch-therapeutischen Einrichtung in Bremerhaven zu bewilligen und den Bescheid vom 17. Oktober 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 2001 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist auf sein Vorbringen in den angefochtenen Bescheiden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Soweit die Kläger zu 1.) und 2.) die Klage zurückgenommen haben, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
Die Klage des Klägers zu 3.) ist unbegründet. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe nicht. Dazu im Einzelnen:
Nach § 35 a SGB VIII haben Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe. Anspruchsvoraussetzung ist damit eine (drohende) seelische Behinderung als Folge einer seelischen Störung. Hinsichtlich der Intensität (wesentlich, nichtwesentlich, nur vorübergehend) differenziert die Vorschrift anders als § 39 Abs. 1 BSHG nicht. Seelisch behindert sind Kinder und Jugendliche, bei denen infolge seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt ist (BVerwG, Urteil vom 26. November 1998, FEVS 49, S. 487 ff.). Seelische Störungen können eine seelische Behinderung zur Folge haben, müssen es aber nicht. Seelische Störungen genügen also noch nicht für die Annahme einer seelischen Behinderung; hinzu kommen muss noch die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft. Für die Frage, ob ein Kind oder Jugendlicher seelisch behindert ist, kommt es damit auf das Ausmaß, den Grad der seelischen Störung, an (BVerwG, Urteil vom 28. September 1995, FEVS 46, 360 ff.). Entscheidend ist, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen. Damit ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn einerseits bei bloßem Schulproblemen und auch bei Schulängsten, die andere Kinder teilen, eine seelische Behinderung verneint und andererseits beispielhaft als behinderungsrelevante seelische Störungen, die auf Versagensängsten drohende Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, der Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule angenommen werden.
Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder und Jugendliche, bei denen eine seelische Behinderung als Folge seelischer Störungen noch nicht vorliegt, der Eintritt der seelischen Behinderung aber nach allgemeiner ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (BVerwG, Urteil vom 26. November 1998, aaO). Zu der bereits geschilderten Beurteilung, unter welchen Voraussetzungen seelische Störungen eine seelische Behinderung bewirken, tritt im Falle einer bisher noch nicht eingetretenen Behinderung die Prognosebeurteilung hinzu, ob und gegebenenfalls wann und mit welcher Wahrscheinlichkeit der Eintritt einer Behinderung zu erwarten ist. Dabei ist eine Wahrscheinlichkeit von wesentlich mehr als 50 vom Hundert zu verlangen. Für diese Prognose ist besonders bedeutsam, auf welche Zeit bezogen die Wahrscheinlichkeit eines Eintritts einer Behinderung beurteilt werden soll. Hierfür kommt kein starrer Zeitrahmen in Betracht, sondern eine nach Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe bemessene Zeit. Ist es nämlich Ziel der Eingliederungshilfe, für von einer seelischen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche den Eintritt einer solchen Behinderung zu verhüten, so ist der Beginn der Bedrohung so früh, aber auch nicht früher anzusetzen, dass noch erfolgversprechende Eingliederungshilfemaßnahmen gegen den Eintritt der Behinderung eingesetzt werden können.
Ausgehend von dieser Auslegung des § 35 a SGB VIII ist die Kammer der Überzeugung, dass beim Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum, also bis zum Ergehen des Widerspruchsbescheides, weder eine seelische Behinderung vorgelegen hat, noch über vorübergehende seelische Störungen hinaus der Eintritt einer seelischen Behinderung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten war. Dabei stützt sich die Kammer im Wesentlichen auf die vorliegenden schriftlichen Stellungnahmen der Klassenlehrerin des Klägers, des Diakonischen Werkes und die Einschätzung von Mitarbeitern des Jugendamtes des Beklagten, das während des Verwaltungsverfahrens im Zuge der Antragstellung persönlichen Kontakt zur Familie des Klägers aufgenommen hat, wodurch der Beklagte im Übrigen den Vorgaben der §§ 8, 36 SGB VIII Rechnung getragen hat. Dabei kann insbesondere der Äußerung der Klassenlehrerin des Klägers nicht entnommen werden, dass diese konkrete Anhaltspunkte für die Annahme einer seelischen Störung oder Behinderung festgestellt hat. Dabei ist die Einschätzung der Klassenlehrerin deshalb von großer Bedeutung, weil diese den Kläger während der Orientierungsstufe begleitet und damit im besonderen Maße in die Lage versetzt ist, Angaben zu eventuellen Auffälligkeiten in seiner Person zu machen. Die Klassenlehrerin hat zwar festgestellt, dass T. in seinem Arbeitsverhalten zunächst häufig unsicher ist, aber bei entsprechendem Zuspruch die meisten Aufgaben dann doch allein und oft auch zufriedenstellend erledigt. Er reagiert zwar ängstlich, wenn er Textaufgaben zunächst nicht genügend überblickt, ist trotz all der Schwierigkeiten aber immer bemüht, mitzuarbeiten, was ihm auch gut gelingt, wenn er sich sicher fühlt. Für eine Vereinzelung T. innerhalb der Schulgemeinschaft hat die Klassenlehrerin keine Anhaltspunkte festgestellt. Im Gegenteil sucht T. Kontakt zu anderen Kindern, wenn er z. B. einen längeren Text still lesen soll und seine Konzentration dann nachlässt.
Das Diakonische Werk hebt in seiner Stellungnahme hervor, dass T. nach anfänglichen Ängsten und sich daraus ergebender Nervosität sich stets motiviert zeigte und sich über die zu bewältigenden Aufgaben freute, wobei besonders seine schnelle Auffassungsgabe und rasche Erledigung des Geforderten auffielen. Beachtlich ist nach dieser Stellungnahme das sprachliche Verständnis, die verbale Merkfähigkeit und die Kombinierfähigkeit T.. Diese Fähigkeiten begründen zusammen mit seinen intellektuellen Möglichkeiten, die erheblich über dem Durchschnitt liegen, in den schulischen Bereichen außerhalb der Rechtschreibung eine gute Grundlage für die Heranbildung des erforderlichen Selbstbewusstseins. Für die Schlussfolgerung des Diakonischen Werkes in seiner Zusammenfassung, es sei eine drohende seelische Behinderung bei T. abzuwenden, lässt sich demgegenüber aus den inhaltlichen Angaben nichts herleiten.
Auch die Eltern des Klägers haben in dem von ihnen ausgefüllten Elternbogen keine Auffälligkeiten genannt, die aufgrund der vorhandenen Leistungsschwäche entstanden sein können und die Anhaltspunkt für die Annahme einer möglicherweise drohenden seelischen Behinderung sein könnten. Vielmehr lässt sich diesen Angaben entnehmen, dass die angespannte Situation in der Familie bei der Anfertigung der Hausaufgaben durch T. als Problem gesehen wird, ebenso wie die Sorge, dass T. nach der Orientierungsstufe nicht wie gewünscht die Realschule, sondern vielmehr die Hauptschule besuchen müsste. Zur gleichen Einschätzung kommt der Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern des Beklagten. Auch er kann den vorgelegten Stellungnahmen nicht entnehmen, dass eine seelische Störung im Falle von T. vorhanden ist oder drohte. Die Kammer folgt dieser Einschätzung, zumal sie gegenteilige Feststellungen den vorliegenden Äußerungen nicht entnehmen kann, und zwar auch unter Berücksichtigung der Angaben der Kläger im Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahren.
Bei dieser Sachlage war die Kammer nicht gehalten, ein Fachgutachten einzuholen, zu der Frage, ob und in welchem Umfang T. Eingliederungshilfe zu gewähren ist, zumal dieses sich auf den vergangenen Zeitraum von der Antragstellung bis zur letzten Behördenentscheidung beziehen müsste. Inwieweit möglicherweise in der Zeit nach Ergehen des Widerspruchsbescheides zusätzliche Auffälligkeiten beim Kläger festzustellen sind, die auf eine drohende seelische Behinderung hindeuten mögen, ist für die Entscheidung des Rechtstreites nicht zwingend von Belang, da der vom Gericht seiner Beurteilung zu Grunde zu legende Zeitraum durch den Erlass des Widerspruchsbescheides begrenzt wird. Insbesondere kann deshalb dem Umstand nicht Rechnung getragen werden, dass der Kläger nunmehr nach den Angaben seiner Prozessbevollmächtigten seit geraumer Zeit die PTE besucht und hierdurch bereits positive Ergebnisse erzielt worden seien.
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass ausgehend davon, dass ein Eingliederungshilfebedarf beim Kläger nicht besteht, Überwiegendes dafür spricht, dass die vom Beklagten angebotene Hilfe nach Maßgabe der §§ 27 ff. SGB VIII geeignet erscheint, dem Hilfebedarf des Klägers gerecht zu werden. Dabei ist für die Kammer nicht ersichtlich, dass die in den vom Beklagten genannten Einrichtungen vorhandenen Mitarbeiter hierfür nicht hinreichend qualifiziert sind.
Bei dieser Sach- und Rechtslage war die Klage abzuweisen.