Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 16.10.1990, Az.: 11 L 25/89

Asylantrag; Asylbewerber; Anerkennung; Ausländischer Flüchtling; Ausländer; Nachfluchtgrund; Politische Verfolgung; Türkei

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
16.10.1990
Aktenzeichen
11 L 25/89
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1990, 13017
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1990:1016.11L25.89.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Schleswig 24.10.1988 - 15 A 308/88
nachfolgend
BVerwG - 30.07.1991 - AZ: BVerwG 9 B 68/91

Tenor:

Auf die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten werden das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 15. Kammer - vom 24. Oktober 1988 und der Bescheid der Beklagten vom 28. April 1988 aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Der am ... 19... geborene Beigeladene ist türkischer Staatsangehöriger aus dem Dorf .../Kreis ... in der Provinz .... Er verließ am 24. August 1987 - nach seinen Angaben ohne Reisepaß - die Türkei, ließ aber seine Ehefrau und sein Kind dort zurück. Nach Zwischenaufenthalt in verschiedenen Ländern reiste er am 10. November 1987 in die Bundesrepublik Deutschland ein und begab sich zu seiner in Flensburg lebenden Schwester ....

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Nach seiner Einreise stellte er einen Asylantrag. Diesen begründete er durch seinen Prozeßbevollmächtigten sowie in der Vorprüfung wie folgt: Er habe zunächst das Gymnasium in ... besucht. Dort habe es 1977/1978 Auseinandersetzungen zwischen rechts- und linksgerichteten Schülern gegeben. Im Anschluß daran sei er polizeilich festgenommen und auch mißhandelt worden. Er habe Sympathie für die Gruppierungen Dev Genc (Devrimci Genclik, Revolutionäre Jugend) und THCP (unbekannt,) gehabt. Deshalb habe er nicht in Dogansehir bleiben können, sondern sei an ein Gymnasium in ... übergewechselt. Nach einer Demonstration in ... aus Anlaß des ersten Jahrestages des "Massakers von Kahramanmaras" vom 22./23. Dezember 1978 sei er festgenommen und 18 Tage lang in polizeilicher Haft geblieben. Er habe beweisen können, daß er an jenem Tage in ... gewesen sei, und sei daraufhin von der Staatsanwaltschaft freigelassen worden. Das Verfahren sei aber gleichwohl vor dem Militärgericht in ... durchgeführt worden. Dort sei er durch Urteil vom 1. Juli 1983 zu sechs Monaten und 20 Tagen Haft und 3.750 TL. Geldstrafe verurteilt worden. Schon vorher habe er die Abiturprüfung sowie die Aufnahmeprüfungen für eine Pädagogische Hochschule und das Studium der Elektrotechnik bestanden. Er habe das Studium nicht begonnen, sondern sich monatelang verborgen gehalten. Einmal sei er für 42 Tage unter dem Vorwurf, Bomben gelegt, Plakate geklebt und politisch Andersdenkende belästigt zu haben, polizeilich festgehalten worden. Auch während seines Militärdienstes, den er im März 1982 angetreten habe, sei er 58 Tage lang in Haft gewesen. Im März 1984 habe er sich um eine Anstellung im Bereich des Landwirtschaftsministeriums beworben, diese Bewerbung sei aber - aus politischen Gründen - nicht angenommen worden. Er habe deshalb seine Ausreise betrieben. Obwohl er gesagt habe, er wolle lediglich seine Schwester in Deutschland besuchen, habe man ihm keinen Paß ausgestellt. Ihm sei eine Meldepflicht auferlegt worden. Am 17. Juli 1987 seien Sicherheitskräfte im Hause seiner Eltern erschienen, offenbar um ihn festzunehmen. Er sei jedoch geflohen. Wenn er in die Türkei zurückkehre, müsse er mit einem neuen Verfahren rechnen. Man werde ihn mit illegalen politischen Organisationen in Verbindung bringen und ihm vorwerfen, er sei Kommunist.

3

Mit Bescheid vom 28. April 1988 anerkannte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Kläger als Asylberechtigten. Zur Begründung heißt es, es sei nicht auszuschließen, daß er in der Türkei mit asylrechtlich relevanten Maßnahmen rechnen müsse.

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Gegen diesen ihm am 3. Mai 1988 zugestellten Bescheid hat der Kläger am 1. Juni 1988 Klage erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen: Die Glaubwürdigkeit des Asylvorbringens sei fraglich, da es erhebliche Ungereimtheiten enthalte. Die Schwierigkeiten des Beigeladenen beruhten möglicherweise darauf, daß er bis heute die gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe nicht angetreten und die Geldstrafe nicht bezahlt habe. Unglaubhaft sei auch, daß der Beigeladene Bulgarien ohne den erforderlichen Paß nebst Sichtvermerk passiert habe. Ein künftiges Verfahren wegen Unterstützung der Gruppierung Dev Genc sei asylrechtlich nicht erheblich. Diese Gruppierung sei terroristisch verfassungsumstürzlerisch, weil sie mit Waffengewalt ein marxistisches Gesellschaftssystem in der Türkei errichten wolle. Dem Asylbegehren stehe schließlich § 2 AsylVfG entgegen. Der Beigeladene habe vor Erreichen der Bundesrepublik Deutschland zumindest in Jugoslawien und Österreich eine objektive Verfolgungssicherheit genossen.

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Der Kläger hat beantragt,

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den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 28. April 1988 aufzuheben.

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Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

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Der Beigeladene hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er hat sein Asylvorbringen in der mündlichen Verhandlung weiter ausgeführt: Anläßlich seiner ersten Festnahme 1977/78 sei er erkennungsdienstlich behandelt worden. Deshalb habe man ihn "jedesmal geholt, wenn irgendetwas geschehen" sei, egal ob er teilgenommen habe oder nicht. Vor seiner Festnahme in Dogansehir habe es "große Auseinandersetzungen" gegeben. Es habe Verletzte gegeben, viele Fenster seien zerschlagen worden. Er sei politisch linksgerichtet, aber kein Militanter, insbesondere kein Sympathisant der THCP. Er habe allerdings Flugblätter und Zeitschriften gelesen, diese jedoch nicht verkauft. Zum Gymnasium nach Malatya sei er gewechselt, weil er sich wegen der ständigen Auseinandersetzungen zwischen den Schülern nicht mehr habe auf die Prüfungen konzentrieren können. Während seiner Verhaftung in der Militärzeit sei er ständig danach gefragt worden, welche Banken er beraubt und welche Menschen er getötet habe. Er sei dann aber mit den Worten entlassen worden: "Das war ein Irrtum". Aber auch später habe man ihn beim Militär als "gefährlichen Mann" angesehen und ihm das Waffentragen nicht gestattet.

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Mit Urteil vom 24. Oktober 1988 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und ausgeführt, der Beigeladene sei zu Recht als Asylberechtigter anerkannt worden. Die Verfolgungsmaßnahmen gegen ihn berührten nicht nur seine Menschenwürde, sondern seien auf Existenzgefährdung bzw. -vernichtung gerichtet gewesen. Es sei eine politische Verfolgung, da die Verurteilung wegen der angeblichen Beteiligung an einer Demonstration offensichtlich nur vorgeschoben gewesen sei, um ihn als sog. "Linken" zu disziplinieren. Auch mit den späteren Maßnahmen sei nur bezweckt worden, den Beigeladenen von jeglicher politischer Meinungsäußerung oder -betätigung abzuhalten. Der Beigeladene sei auch nicht im Sinne des § 2 Nr. 1 AsylVfG in einem anderen Lande sicher gewesen. Er sei bis zum Erreichen der Bundesrepublik Deutschland offenbar nur bemüht gewesen, den Fluchtweg fortzusetzen.

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Gegen dieses Urteil richtet sich die von dem Senat zugelassene Berufung des Klägers. Er tritt der Auffassung des Verwaltungsgerichts entgegen und trägt vor: Die bisherigen Maßnahmen gegen den Beigeladenen seien nicht politisch motiviert gewesen. Die Verurteilung habe seiner Beteiligung an einer nicht genehmigten Demonstration während der chaotischen Verhältnisse kurz vor der Machtübernahme des Militärs in der Türkei gegolten. Auch später sei er unter dem Vorwurf, an Bombenattentaten teilgenommen zu haben, festgenommen worden. Wegen einer Beziehung zu Dev Genc oder auch Dev Yol (Devrimci Yol, Revolutionärer Weg) wäre im übrigen keine politische Verfolgung anzunehmen. Wahrscheinlich würde allein § 146 des Türkischen Strafgesetzbuches - TStGB -, der den deutschen Hoch- und Verfassungsverratsvorschriften entspreche, angewendet werden.

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Der Kläger beantragt,

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das angefochtene Urteil aufzuheben und nach dem erstinstanzlichen Antrag zu erkennen.

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Die Beklagte stellt keinen Antrag.

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Der Beigeladene beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Er trägt vor, er müsse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damit rechnen, daß er in der Türkei erneut Opfer staatlicher politischer Willkürmaßnahmen, insbesondere auch Opfer von Folterungen werde.

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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der dem Senat vorliegenden Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

20

II.

Die Berufung des Klägers ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Der Beigeladene ist zu Unrecht als Asylberechtigter anerkannt worden.

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In Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht sieht der Senat allerdings den Asylanspruch des Beigeladenen nicht schon als nach § 2 AsylVfG ausgeschlossen an. Danach wird nicht als Asylberechtigter anerkannt, wer bereits in einem anderen Staat vor politischer Verfolgung sicher war. Der Beigeladene hat sich zwar nach Verlassen der Türkei knapp drei Monate lang in anderen Staaten aufgehalten, bevor er in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Er hat es auch nicht vermocht, in seiner dem Verwaltungsgericht vorgelegten persönlichen Darstellung (Anlage zum Schriftsatz vom 19. Oktober 1988) diese Zeit durch Angabe der jeweiligen Aufenthaltsdauer in Bulgarien, Jugoslawien und Österreich voll zu belegen. Der Senat geht jedoch davon aus, daß der Beigeladene schon bei dem Verlassen der Türkei den Wunsch hatte, zu seiner Schwester nach Flensburg zu reisen, und daß mithin seine "Flucht" während der Aufenthalte in den genannten Ländern noch nicht beendet war. Nur dann aber greift § 2 AsylVfG ein (aus neuerer Zeit: BVerwG, Urt. v. 21. 11. 1989 - 9 C 55.89 -, BVerwGE 84, 115 = DVBl 1990, 491). Der Asylanerkennung steht aber entgegen, daß der Beigeladene kein politisch Verfolgter ist.

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Nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG genießen "politisch Verfolgte" Asylrecht. Das Asylgrundrecht beruht damit auf dem Zufluchtgedanken und ist von seinem Tatbestand her grundsätzlich durch den Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung, Flucht und Asylgewährung geprägt. Asylberechtigt ist typischerweise, wer aufgrund politischer Verfolgung gezwungen ist, sein Land zu verlassen und im Ausland Schutz und Zuflucht zu suchen, und deshalb in die Bundesrepublik Deutschland kommt (BVerfG, Beschl. v. 26. 11. 1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51 = DVBl 1987, 130; Beschl. v. 10. 7. 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315, 335 = DVBl 1990, 101; BVerwG, Urt. v. 15. 5. 1990 - 9 C 17.89 -, DVBl 1990, 1064). Neben diesen "Vorfluchtgründen" können unter gewissen Voraussetzungen auch Umstände, die erst während des in der Bundesrepublik Deutschland begründeten Aufenthalts des Asylbewerbers entstanden sind, zur Asylanerkennung führen (BVerfG, Beschl. v. 26. 11. 1986, wie vor; BVerwG, Urt. v. 19. 5. 1987 - 9 C 184.86 -, BVerwGE 77, 258 = DVBl 1987, 1115). Derartige "Nachfluchtgründe" stehen dem Beigeladenen auch nach seinem eigenen Vorbringen nicht zur Seite. Der Beigeladene ist aber auch nicht aus seiner Heimat wegen "bestehender oder unmittelbar bevorstehender politischer Verfolgung ausgereist" (BVerwG, Urt. v. 15. 5. 1990, wie vor).

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Vor seiner Ausreise aus der Türkei hat sich der Beigeladene nicht politisch engagiert gehabt. Dies hat seine Anhörung sowohl vor dem Verwaltungsgericht als auch vor dem Senat eindeutig ergeben. Der Beigeladene hat sich zwar allgemein als "linksgerichtet" bezeichnet, hat jedoch schon vor dem Verwaltungsgericht seine frühere Behauptung zurückgenommen, "Sympathisant" einer offenbar als ebenfalls "linksgerichtet" anzusehenden Gruppierung THCP gewesen zu sein. Seine Beziehung zu dieser Gruppierung erschöpfte sich nach den Angaben vor dem Verwaltungsgericht darin, daß er zu ihr 1979/80 "Verbindungen" gehabt, ihre Flugblätter und Zeitschriften besessen und gelesen, nicht jedoch selbst verteilt oder verkauft habe. Wie oberflächlich diese "Verbindungen" waren, zeigt das vergebliche Bemühen des Beigeladenen, den vollen Namen der Gruppierung darzustellen. Zum Schluß der Anhörung vor dem Verwaltungsgericht verfiel er darauf, die von ihm stets verwandte Abkürzung THCP als Kurznamen der militanten prosowjetischen Front der Türkischen Volksbefreiungspartei "THKP-C" (Türk Halk Kurtulus Partise Cephesi) auszugeben, die in den siebziger Jahren ihr Ziel einer bewaffneten Revolution durch terroristische Anschläge auf Türken und US-Amerikaner verfolgte und bereits seit dem Ausnahmezustand des Jahres 1971 in der Illegalität agierte (zu allem Auswärtiges Amt - AA, Auskünfte vom 22. 1. 1981 an VGH Kassel, 25. 10. 1982 an VG Neustadt und 20. 6. 1986 an VG Ansbach). Gerade ein "Militanter" will der Beigeladene nach seiner weiteren Erklärung vor dem Verwaltungsgericht nicht gewesen sein. Ähnliches gilt für die von dem Beigeladenen zunächst hergestellte Verbindung zur Gruppierung Dev Genc (Devrimci Genclik, Revolutionäre Jugend), bei der es sich in der Zeit vor dem Militärputsch vom 12. September 1980 um zahlreiche einzelne autonome Gruppierungen linksgerichteter Personen mit unterschiedlicher revolutionärer Zielsetzung handelte (AA vom 20. 6. 1986, wie vor, ferner vom 13. 3. 1981 an VG Gelsenkirchen; zu den Strafprozessen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand 1971 auch Auskunft vom 11. 4. 1984 an VGH Mannheim und Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg vom 29. 8. 1984, S. 43/45). Auch deren Schriften will er gelesen haben. Seine erstmals wieder vor dem Senat aufgestellte Behauptung, Schriften vor 1980 auch verteilt zu haben, ist angesichts der gegenteiligen ausführlichen Darstellung vor dem Verwaltungsgericht nicht glaubhaft. Der Beigeladene ist zwar wiederholt festgenommen gewesen. Es ist auch gegen ihn ein Strafverfahren durchgeführt worden, alle diese Maßnahmen hatten jedoch keinerlei politische Betätigung des Beigeladenen, insbesondere nicht etwa eine wie auch immer geartete Tätigkeit für die beiden genannten Gruppierungen zum Gegenstand. Demgemäß ist der Beigeladene in der Türkei nicht politisch verfolgt gewesen und hat seine Heimat auch nicht verlassen, um einer solchen Verfolgung zu entgehen.

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Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist eine Verfolgung dann eine politische, wenn sie die in der "Genfer Konvention" (Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, BGBl II 1953, 559 f, daselbst Art. 1 A Abs. 2) angeführten Merkmale erfüllt, insbesondere also die Betroffenen "wegen ihrer politischen Überzeugung" trifft. Eine staatliche Verfolgung von Taten, die aus sich heraus eine Umsetzung politischer Überzeugung darstellen, ist politische Verfolgung, nicht jedoch die Verfolgung kriminellen Unrechts, d.h. von - selbst politisch motivierten - Straftaten, die sich gegen Rechtsgüter anderer Bürger richten (BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989, wie vor, auch Beschl. v. 20. 12. 1989 - 2 BvR 958/86 -, BVerfGE 81, 1452 = DVBl 1990, 472[BVerfG 20.12.1989 - 2 BvR 958/86]; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 19. 5. 1987, wie vor). Die Zugriffe der türkischen Strafverfolgungsbehörden auf den Beigeladenen erfolgten allein zur Ahndung des ihm vorgeworfenen kriminellen Unrechts.

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Die erste kurzfristige Festnahme des Beigeladenen geschah im Anschluß an tätliche Auseinandersetzungen an dem Gymnasium der Kreisstadt Dogansehir. Wie der Beigeladene berichtet hat, ist es an dieser von ihm 1977/78 besuchten Schule wiederholt zu derartigen Auseinandersetzungen zwischen einander feindlich gesonnenen Schülergruppen gekommen. Die Schule war damit in die allgemeine Polarisierung des öffentlichen Lebens in der Türkei einbezogen, die in vielen Provinzen in terroristische Gewaltakte - wie dem Massaker von Kahramanmaras am 22./23. Dezember 1978 - ausartete, derer die Sicherheitsbehörden nur mit Mühe Herr wurden und die schließlich zum Militärputsch vom 12. September 1980 führten (dazu Archiv der Gegenwart - AdG - 23067, 23887). Der Anlaß für die Festnahme mehrerer Schüler einschließlich des Beigeladenen waren schwere Ausschreitungen, bei denen Fenster und Türen zerschlagen wurden und es mehrere Verletzte gab. Zur Einleitung von Strafverfahren gegen die Festgenommenen kam es indessen nicht. Der Beigeladene verließ jedoch die Schule und wechselte an das Gymnasium der Provinzhauptstadt Malatya über, weil er sich in Dogansehir "nicht mehr auf Prüfungen konzentrieren" konnte, wie er dem Verwaltungsgericht erklärt hat. Das Gymnasium in Malatya war nicht in die politischen Auseinandersetzungen einbezogen, da Schüler- und Lehrerschaft homogen zusammengesetzt waren (linksorientiert). Der Beigeladene bestand die Abiturprüfung im Sommer 1980 und absolvierte auch mit Erfolg zwei Hochschulzugangsprüfungen, und zwar im Fach Elektrotechnik und als Zugang zu einer Pädagogischen Hochschule.

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In die Zeit des Schulbesuchs in Malatya fällt eine erneute und diesmal auf 18 Tage erstreckte polizeiliche Festnahme des Beigeladenen. Aus Anlaß des Jahrestages der Vorfälle in Kahramanmaras, der Hauptstadt der Nachbarprovinz, fand am 22. Dezember 1979 in Dogansehir eine nicht genehmigte Demonstration statt. Der Beigeladene, der bereits anläßlich der Krawalle in der Schule in Dogansehir aufgefallen und von der Polizei erkennungsdienstlich behandelt worden war, wurde der Teilnahme an diesen Ausschreitungen beschuldigt und festgenommen. Er kam aus der Polizeihaft wieder frei, weil er glaubhaft machte, sich an dem fraglichen Tage in Malatya am Gymnasium aufgehalten zu haben. Das Strafverfahren wurde gleichwohl weitergeführt und endete - während des von März 1982 bis September 1983 absolvierten Militärdienstes des Beigeladenen - mit der Verurteilung der Beschuldigten zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, 20 Tagen und 3.750 TL Geldstrafe. Das Gericht sah den Beigeladenen als durch einen Zeugen überführt an.

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Über die Geschehnisse seit der Beendigung der Schulzeit des Beigeladenen hat der Senat keine endgültige Klarheit gewinnen können. Der Beigeladene gab dafür, warum er das ihm eingeräumte Studium nicht antrat, verschiedene Gründe an. In der von ihm selbst abgegebenen Begründung des Asylgesuchs heißt es, er sei neun Monate lang auf der Flucht gewesen, in der persönlichen Anhörung hingegen erklärte er, er habe "aus politischen Gründen" nicht studieren dürfen. In der Anhörung durch das Verwaltungsgericht erklärte der Beigeladene, das Haus seines Vaters habe "überfallen" werden sollen, deshalb habe er sich nicht eintragen können. Vor dem Senat schließlich erklärte der Beigeladene, die Polizei habe nach ihm wegen der Teilnahme an einer Straßenschlacht in Dogansehir im Sommer 1980 gefahndet und auch sein Elternhaus durchsucht; dieser Vorwurf sei unberechtigt gewesen, er habe sich aber an anderen "schweren Auseinandersetzungen" im Jahre 1981 in Malatya beteiligt. Es erscheint naheliegend, daß der Beigeladene sich dem noch anhängigen Strafverfahren wegen der Teilnahme an den Vorfällen vom 22. Dezember 1979 entziehen wollte; der Senat hält es auch für glaubhaft, daß der Beigeladene sich anschließend an weiteren tätlichen Auseinandersetzungen beteiligt hat. Diese Teilnahme führte zur erneuten Festnahme des Beigeladenen Ende 1981/Anfang 1982 in Malatya.

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Der Beigeladene hat über die Gründe seiner weiteren Festnahme ebenfalls unterschiedliche Angaben gemacht, so daß der Senat sich außerstande sieht, konkrete Feststellungen zu treffen. Er geht allerdings davon aus, daß der Beigeladene sich noch zweimal in Polizeihaft bzw. Militärhaft befunden hat und während dieser auch gefoltert worden ist, und zwar einmal 42 Tage lang im Anschluß an die erwähnte Festnahme Ende 1981/Anfang 1982, dann für 58 Tage während seiner Militärzeit. Nach seiner Angabe in der Vorprüfung wurde ihm schon während der erstgenannten Haft vor allem vorgeworfen, Bomben gelegt zu haben. In den Anhörungen vor dem Verwaltungsgericht und dem Senat gab er einen entsprechenden Haftgrund allerdings erst für die Festnahme während der Militärzeit an. Der Senat unterstellt daher, daß gegen den Beigeladenen die 42-tägige Haft in Malatya allein zur Aufklärung des Vorwurfs, sich an den bereits genannten schweren Auseinandersetzungen beteiligt zu haben, verhängt wurde. Der Beigeladene zeigte sich vor dem Senat nämlich imstande, die Gründe für die Festnahme während der Militärzeit anders als die der vorangegangenen aus seiner Sicht zusammenhängend darzustellen: Ein Freund habe ihn, um der eigenen Folter zu entgehen, fälschlich bezichtigt, an einem Bankeinbruch und einem Bombenanschlag beteiligt gewesen zu sein; da er selbst sich während der fraglichen Zeit in Haft in Malatya befunden habe, habe er keine Bedenken getragen, die Berechtigung dieser Vorwürfe zuzugeben und zu hoffen, daß der wahre Sachverhalt herauskomme; das sei dann auch geschehen. Weshalb der Beigeladene die von ihm als unmenschlich empfundenen Haftbedingungen gleichwohl 58 Tage lang hingenommen hat, obwohl er sie durch sofortige Offenbarung der Wahrheit hätte vermeiden können, erscheint dem Senat allerdings nicht ohne weiteres nachvollziehbar.

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Alle die angeführten Strafverfolgungsmaßnahmen gegen den Beigeladenen können einen Asylanspruch nicht begründen. Sie waren schon "nach der erkennbaren Gerichtetheit" (BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989, wie vor) keine politische Verfolgung, sie zielten nicht auf die politische Überzeugung des Beigeladenen, sondern auf die von ihm begangenen Rechtsgüterverletzungen. An dieser Wertung ändern die Foltermaßnahmen, denen der Beigeladene nach seiner Darstellung ausgesetzt gewesen ist, nichts. Auch eine Folter ist nur asylerheblich, wenn sie wegen asylrelevanter Merkmale eingesetzt oder im Hinblick auf diese Merkmale in verschärfter Form angewendet wird (BVerfG, Beschl. v. 20. 12. 1989 - 2 BvR 958/86 -, BVerfGE 81, 142 = DVBl 1990, 472[BVerfG 20.12.1989 - 2 BvR 958/86]). Vor der Gefahr der einem Asylbewerber in seiner Heimat drohenden derartigen menschenrechtswidrigen Behandlung schützt in jedem Fall ungeachtet des Bestehens oder Nichtbestehens eines Asylrechts das aus Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK - (BGBl II 1952, 685, 953) abgeleitete Abschiebungsverbot (BVerfG, Beschl. v. 20. 12. 1989, wie vor; schon BVerwG, Urt. v. 19. 5. 1987, wie vor). Gegen den Beigeladenen sind auch keinerlei aufenthaltsbeendende Maßnahmen getroffen oder auch nur in Aussicht. Vielmehr duldet die zuständige Ausländerbehörde auch den Aufenthalt der Ehefrau und des Kindes des Beigeladenen, die er zu sich nach Flensburg geholt hat und die selbst nicht Asylbewerber sind.

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Vor allem aber steht dem Asylanspruch des Beigeladenen entgegen, daß er nicht wegen bestehender oder unmittelbar bevorstehender (politischer) Verfolgung im August 1987 aus seiner Heimat ausgereist ist. Die genannten Ermittlungsmaßnahmen hatten nicht die Einleitung von Strafverfahren zur Folge. Die gegen ihn verhängte Strafe hat der Beigeladene, wie er dem Senat erklärt hat, etwa vier Monate nach dem Militärdienst angetreten und vollen Umfangs verbüßt. Wie wenig sich der Beigeladene noch durch den türkischen Staat verfolgt fühlte und wie wenig ihn die zeitweilig gegen ihn verhängte Meldepflicht innerlich belastete, folgt schon daraus, daß er sich ausgerechnet bei dem türkischen Staat, von dem er doch nach seiner Darstellung so viel Böses erfahren hatte, um eine Anstellung bewarb. Auch insofern hat der Beigeladene indessen mit der Offenbarung des vollständigen Sachverhalts zurückgehalten. Nach seiner Schilderung vor dem Bundesamt hat er diese Bewerbung im März 1984 an das Türkische Landwirtschaftsministerium gerichtet, sie sei aber "aus politischen Gründen" nicht angenommen worden. Vor dem Senat hingegen erklärte der Beigeladene, er habe die mehrfach erwähnte Strafhaft von sechs Monaten, 20 Tagen erst vier Monate nach Beendigung der Militärzeit, mithin nach September 1983 angetreten, sich dann aber nach der Entlassung aus der Strafhaft beworben. Das wäre frühestens im Juli 1984 gewesen. Es erscheint dem Senat nachvollziehbar, daß das Ministerium mit Rücksicht auf diese strafgerichtliche Verurteilung und Strafverbüßung andere Bewerber dem Beigeladenen vorzog. Auf eine wie auch immer geartete politische Überzeugung des Beigeladenen zielte diese Nichtberücksichtigung der Bewerbung nicht, sie wäre auch wegen ihrer geringen Auswirkungen auf das berufliche Schicksal des Beigeladenen schon der Intensität nach keine Verfolgungsmaßnahme im asylrechtlichen Sinne gewesen.

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Bis zur Ausreise drei Jahre später wurden gegen den Beigeladenen keine Verfolgungsmaßnahmen mehr ergriffen. Der Beigeladene lebte auf dem landwirtschaftlichen Betrieb seines Vaters und gründete hier eine Familie. Nebenher bemühte er sich um die Ausstellung eines Passes für die Ausreise zu seiner Schwester in Flensburg. Daß ihm, der mehrfach strafrechtlich auffällig geworden war, ein Paß nicht ausgestellt wurde, so daß er schließlich ohne Paß die Türkei verließ, hatte ebenfalls mit einer mußmaßlichen politischen Gesinnung des Beigeladenen nichts zu tun. Dasselbe gilt für den Besuch von Polizeibeamten auf dem Grundstück seines Vaters im Juni 1987, bei dem auch nach ihm gefragt worden sein soll. Einen Anlaß für Ermittlungen gegen den Beigeladenen, der sich jahrelang unauffällig verhalten hatte, gab es nicht. Der Beigeladene hat auch vor dem Verwaltungsgericht eingeräumt, er habe nicht erfahren, warum die Polizei gekommen sei. Auf den bereits nach der Ablehnung seiner Bewerbung an das Landwirtschaftsministerium gefaßten Ausreiseentschluß hatte dieser Vorfall ohnehin keinen Einfluß. Die Ausreise erfolgte nach allem nicht wegen erlittener oder bevorstehender politischer Verfolgung.

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Nach allem waren der anerkennende Asylbescheid der Beklagten vom 28. April 1988 und das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Es erscheint billig, die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen gemäß § 162 Abs. 3 VwGO der Beklagten aufzuerlegen.

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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO iVm § 708 Nr. 10 ZPO.

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Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.

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Stelling

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Behrens

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Arndt