Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.04.1999, Az.: VI 621/96 Ki
Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld; Anspruch eines türkischen Kindes, das die deutsche Staatsangehörigkeit erlangte, auf Kindergeld für Studienzeit im Ausland; Innehaben einer inländischen Wohnung
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 20.04.1999
- Aktenzeichen
- VI 621/96 Ki
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 20450
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1999:0420.VI621.96KI.0A
Rechtsgrundlagen
- § 62 Abs. 1 EStG
- § 73 Abs. 1 S. 3 EStG
Verfahrensgegenstand
Kindergeld Änderungsbescheid vom 26.09.1996
Amtlicher Leitsatz
Kindergeldanspruch eines türkischen Kindes, das die deutsche Staatsangehörigkeit erlangte, für Studienzeit im Ausland.
In dem Rechtsstreit
hat der VI. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
nach mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 20. April 1999,
an der mitgewirkt haben:
Präsident des Finanzgerichts ... als Vorsitzender ...
Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
ehrenamtliche Richterin Dipl.-Kauffrau ...
ehrenamtlicher Richter Landwirt ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Unter Änderung des Bescheides vom 3. Juli 1996 in der Fassung vom 26. August 1997 wird das Kindergeld fürdas Kind M ab September 1996 auf 200 DM monatlich und ab Januar 1997 bis einschließlich Juli 1997 auf 220 DM monatlich festgesetzt.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der zu erstattenden Kosten abwenden, sofern nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in der selben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Kindergeldanspruch des Klägers für seine Tochter M, die im streitigen Zeitraum in der Türkei studierte.
Der Kläger und seine Ehefrau sind gebürtige Türken, die im Februar 1995 die deutsche Staatsangehörigkeit erwarben. Ihre am 26. Mai 1976 in H geborene Tochter M. besitzt seit dem 24. Februar 1995 ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit. Einige Tage zuvor, am 8. Februar 1995 wurde M. auf eigenen Antrag aus der türkischen Staatsbürgerschaft entlassen.
M. hielt sich von ihrer Geburt an bis November 1984 in der Bundesrepublik Deutschland auf und besuchte anschließend die Schule in der Türkei. In der Zeit vom September 1987 bis Juli 1990 lebte sie bei ihren Eltern in Deutschland und besuchte dort die Schule. Im September 1990 kehrte sie zum Zwecke des Schulbesuchs in die Türkei zurück. Dort erwarb sie die allgemeine Hochschulreife. Auf ihre Bewerbung um einen Studienplatz für Physik, vorrangig für die Universitäten Ankara und Instanbul, erhielt sie einen Studienplatz in Konya zugewiesen. In Konya studierte M. in der Zeit von 1993 bis Juli 1997 Physik. Das Studium schloß sie mit dem Diplom Fizikci (TR) im Juli 1997 ab. Dieser Hochschulgrad wurde durch Genehmigungsurkunde vom 15.02.1999 in der Bundesrepublik anerkannt. Während der Studienzeit wohnte die Tochter des Klägers in einer Wohngemeinschaft. Die Eltern besuchte sie jeweils nur in den Ferien.
Mit Bescheid vom 3. Juli 1996 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 26. September 1996 entzog der Beklagte dem Kläger den Anspruch auf Kindergeld für M. zunächst ab August und anschließend durch Bescheid vom 26. August 1997 ab September 1996. Dies hat der Beklagte im wesentlichen damitbegründet, daß M. weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland habe. Den Einspruch des Antragstellers wies der Beklagte mit Einspruchsbescheid vom 2. Oktober 1996 zurück.
Mit seiner hiergegen erhobenen Klage begehrt der Kläger die Weitergewährung des Kindergeldes für die Zeit des Studiums seiner Tochter. Er ist der Ansicht, ihm stehe ein Kindergeldanspruch für seine Tochter M. zu. Subjektive und objektive Umstände sprächen für einen vorübergehenden Aufenthalt seiner Tochter in der Türkei. Das Studium sei zeitlich bis voraussichtlich Mitte 1997 begrenzt gewesen, so daß es auf die tatsächliche Ausbildungsdauer nicht ankommen könne. In seiner Wohnung habe jederzeit ein Zimmer für seine Tochter zur Verfügung gestanden. Er sei stets davon überzeugt gewesen, daßseine Tochter nach dem Studium wieder bei ihm und seiner Frau in Deutschland wohnen werde. Es sei nicht gerechtfertigt, ihn wegen seiner Herkunft anders zu behandeln als andere deutsche Staatsangehörige. Zudem widerspreche die Auffassung des Beklagten derjenigen des Bundessozialgerichts im Urteil vom 30.09.1996 (10 KG R 29/95). Hiernach könne ein ausländisches Kind von Migranten, wenn es sich nur zum Zweck einer zeitlich begrenzten Ausbildung im Heimatland seiner Eltern aufhalte, seinen Wohnsitz in Deutschland beibehalten. Hiernach sei der Anspruch auf Kindergeld gerechtfertigt. Wegen des weiteren Vorbringens wird auf auf den Schriftsatz des Klägers vom 29.03.1999 (Bl. 22 ff. der Finanzgerichtsakte) Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 3. Juli 1996 bzw. 2. August 1996 und des Änderungsbescheids vom 26. September 1996 sowie vom 26. August 1997 zu verurteilen, dem Kläger ab September 1996 weiterhin Kindergeld für das Kind M für die Dauer ihres Studiums zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält an der in der Einspruchsentscheidung vertretenen Rechtsauffassung fest. Die sehr lange Dauer des Auslandsaufenthaltes deute darauf hin, daß ein inländischer Wohnsitz im Jahre 1996 nicht mehr bestanden habe. Diese Auffassung entspreche dem Urteil des BFH vom 22.04.1994 (BStBl. II 1994, 887). Im vorliegenden Streitfall weiche der Sachverhalt zwar insoweit von der Entscheidung des BFH ab, als die Eltern und auch das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hätten. Hierauf komme es jedoch nicht entscheidend an. Entscheidener Gesichtspunkt sei die sprachliche, verwandtschaftliche und kulturelle Herkunft.
Dem stehe auch nicht entgegen, daß die Tochter des Klägers in einer Wohngemeinschaft gelebt habe. Angesichts der langen Dauer des Auslandsaufenthaltes von rund 7 Jahren müsse davon ausgegangen werden, daß der Mittelpunkt der Lebensbeziehung des Kindes nicht bei den Eltern, sondern im Ausland gelegen habe. Dem widerspreche auch das Urteil des Bundessozialgerichts vom 30.09.1996 nicht. Das Bundessozialgericht habe lediglich entschieden, daß für einen Auslandsaufenthalt von unter 3 Jahren das Fortbestehen eines inländischen Wohnsitzes angenommen werden könne. In früheren Urteilen sei jedoch auch das Bundessozialgericht bei einem fünfjährigen oder über sechsjährigen Auslandsaufenthalt von der Aufgabe des Wohnsitzes in Deutschland ausgegangen. Die Klage sei deshalb unbegründet.
Der Kläger hat beantragt, den Änderungsbescheid vom 26. August 1997, mit dem der Kindergeldanspruch für M nur noch ab September 1996 entzogen wird, zum Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens zu machen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Dem Kläger steht nach § 62 Abs. 1 EStG für seine Tochter M. ab September 1996 weiterhin auf Kindergeld zu. Gemäß § 62 Abs. 1 EStG hat Anspruch auf Kindergeld für berücksichtigungsfähige Kinder im Sinne des § 63 EStG, wer im Inland einen Wohnsitz oder einen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Voraussetzung für die Berücksichtigung von Kindern ist es u.a., daß diese einen Wohnsitz im Inland oder einen weiteren Staat im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 EStG haben. Hierzu zählt die Türkei nicht.
Die Tochter M. ist als Kind für die Gewährung von Kindergeld zu berücksichtigen, da sie in den Streitjahren 1996 und 1997 ihren Wohnsitz bei ihren Eltern im Inland hatte. Der Wohnsitzbegriff im Sinne der §§ 62, 63 EStG in Verbindung mit § 8 AO setzt neben zum dauerhaften Wohnen geeigneten Räumlichkeiten das Innehaben der Wohnung in der Weise voraus, daß der Steuerpflichtige bzw. sein Kind tatsächlich über sie verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit, wenn auch in größeren Zeitabständen, aufsucht. Ein nur gelegentliches Verweilen währendunregelmäßig aufeinander folgender kurzer Zeiträume zu Erholungszwecken reicht dabei nicht aus (BFH-Urteil vom 23. November 1988 II R 139/87, BFHE 155, 29, BStBl. II 1989, 182). Außerdem Innehaben einer Wohnung setzt der Wohnsitzbegriff zudem Umstände voraus, die darauf schließen lassen, daß die Wohnung durch den Inhaber beibehalten und als solche genutzt werden soll. Die Begründung, Beibehaltung und Aufgabe des Wohnsitzes ist anhand der tatsächlichen Gestaltungssachverhaltes zu beurteilen. Deshalb kann auch ein Minderjähriger einen steuerlichen Wohnsitz begründen. Auf den Willen des gesetzlichen Vertreters kommt es hierbei nicht an (BFH-Urteil vom 22.04.1994 III R 22/92, BFHE 174, 523, BStBl. II 1994, 887).
Für ausländische Kinder hat der BFH ein Innehaben einer inländischen Wohnung verneint, wenn das ausländische Kind zum Schulbesuch in das Heimatland seiner Eltern zurückkehrt. Dies soll auch dann gelten, wenn das Kind während der Ferien die Eltern im Inland besucht (vgl. BFH-Urteil vom 22.04.1994 III R 22/92, BFHE 174, 523, BStBl. II 1994, 887; Urteil vom 27.04.1995 III R 57/93, BFH/NV 1995, 967). Das Fehlen eines inländischen Wohnsitzes folgert der BFH daraus, daß der Auslandsaufenthalt nicht in erster Linie durch den Zweck der Ausbildung bestimmt sei, sondern nach der Lebenserfahrung der Aufenthalt vielmehr dem Zweck diene, die Heimat der Eltern kennenzulernen und sich längerfristig die dortigen Lebensverhältnisse einzuleben. Der Schluß, das Kind benutze und behalte die Wohnung der Eltern im Inland bei, könne wegen der Verwurzelung im Ausland und der Einschränkung der bisherigen Wohnungs- und Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und Kind nicht gezogen werden.
Demgegenüber wird für deutschstämmige Kinder die Auffassung vertreten, daß diese in der Regel ihren Wohnsitz bei den Eltern behalten, auch wenn sie sich vorübergehend zu Ausbildungszwecken auswärts aufhalten (vgl. RFH, RStBl. 1940, 514; Nds.Finanzgericht, EFG 1993, 135, Hessisches Finanzgericht, EFG 1998, 882; Tipke/Kruse, § 8 AO, Tz. 4; Beermann/Buciek, § 8 AO, Rz. 49 m.w.N.; Schmidt/Reinecke, EStG, § 1 Rz.24; Flick/Flick-Pistorius, DStR 1989, 623). Dieser Auffassung liegt die Annahme zugrunde, daß der auswärtige Aufenthalt durch den Zweck, die Schulausbildung bzw. das Studium abzuschließen, zeitlich begrenzt ist und deshalb nicht den Schluß zuläßt, daß durch den auswärtigen Aufenthalt die Verbindung zu den Eltern unterbrochen seien. Dies gilt auch für volljährige Kinder (Beermann/Buciek, § 8 AO, Rz. 33).
Nach den tatsächlichen Umständen des Falles liegen in den Streitjahren die Voraussetzungen für einen Wohnsitz der Tochter des Klägers im Inland vor.
Bei der Wohnung des Klägers handelt es sich um Räumlichkeiten, die zur Aufnahme der Tochter geeignet waren. Diese Wohnung hatte die Tochter unter Umständen inne, die darauf schließen lassen, daß sie sie beibehalten und benutzen werde. Dabei istzu berücksichtigen, daß für einen Wohnsitz im Sinne des § 8 AO nicht erforderlich ist, daß sich der Steuerpflichtige in der Wohnung während einer Mindestzahl von Tagen oder Wochen für Zwecke des eigenen Wohnens aufhält. Entscheidend ist allein, ob objektiv erkennbare Umstände dafür sprechen, daß der Steuerpflichtige die Wohnung für Zwecke des eigenen Wohnens beibehält (BFH-Urteil vom 19.03.1997, I R 69/96, BFHE 182, 296, BStBl. II 1997, 447).
Die Tochter M. hatte die Familienwohnung unter Umständen inne, die darauf schließen lassen, daß sie diese beibehalten und nutzen wollte.
M. hat die Bindung zu ihrer Familie im Inland nie aufgegeben. Zwar ist sie bereits früh zum Zwecke des Schulbesuchs in die Türkei geschickt worden. Dieser frühe Auslandsaufenthalt ist entgegen der Auffassung des Beklagten jedoch unmaßgeblich, weil die Kläger und ihre Tochter spätestens 1990 einen möglichen Rückkehrwillen in die Türkei anläßlich eines dort verlebten Urlaubs entgültig aufgegeben haben. Hierfür spricht nicht nur, daß der Kläger und seine Ehefrau sowie ihre Tochter einige Zeit später die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt haben, sondern auch, daß der Sohn in der Türkei dauerhaft verblieben ist.
Demgegenüber war der weitere Auslandsaufenthalt von M. von vornherein zeitlich auf Schulbesuch und Studium begrenzt, dader alleinige Zweck war, das Abitur zu erlangen und das nachfolgende Physikstudium abzuschließen sowie anschließend wieder zu ihren Eltern nach Deutschland zurückzukehren, um hier als Pädagogin zu arbeiten. Die Wahl des Studienortes in der Türkei war dabei weniger durch die Nähe zu ihrem Heimatland motiviert als vielmehr durch die unterschiedlichen Bildungssysteme bedingt. So berechtigte der Gymnasialabschluß in der Türkei nicht zu einem Studium an einer deutschen Hochschule, so daß es nahe lag, auch das Studium in der Türkei zu absolvieren.
Der Wille zur Rückkehr nach Deutschland wird letztlich dadurchbelegt, daß die Tochter 1995, zu einem Zeitpunkt als sie bereits volljährig war, aus der türkischen Staatsbürgerschaft entlassen wurde und die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hat. Hierdurch kommt in besonderem Maße eine räumliche und kulturelle Neuausrichtung der Tochter zum Ausdruck. Insofern unterscheidet sich der Streitfall auch von den bisher zu Ausländerkindern und entschiedenen Urteilen des BFH. Die in diesen Fällen festgestellte Lebenserfahrung, daß mit dem Schulbesuch in der Heimat die natürlichen Bindungen in sprachlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht an den heimatlichen Kulturkreis hergestellt oder wieder hergestellt und gefestigt werden sollen, basiert stets auf der Annahme, daß die schulische Ausbildung den weiteren Lebensweg im Heimatland vorbereiten soll. Hierdurch war das Studium in der Türkei jedoch nicht motiviert.
Die mit der Unterbringung in der Wohngemeinschaft während des Studiums gegebene räumliche Trennung von den Eltern bedingt allein keine Auflösung der familiären Bindungen und die Aufgabe des Familienwohnsitzes. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, daß M. stets während der Ferien zu ihren Eltern nach Deutschland zurückgekehrt ist. Während dieser Zeit hielt sie sich jeweils in ihrem Zimmer in der elterlichen Wohnung auf.Zudem kehrte sie unmittelbar nach Abschluß des Studiums in die elterliche Wohnung zurück, um in Deutschland ihren weiteren beruflichen Werdegang fortzusetzen.
Allein aus der langen Dauer des Auslandsaufenthalts kann entgegen der Auffassung des Beklagten ebensowenig wie bei gebürtigen deutschen Kindern auf eine Aufgabe des Wohnsitzes geschlossen werden. Denn nicht die Dauer des Aufenthaltes im Ausland ist für das Beibehalten eines Wohnsitzes entscheidend, sondern die anhand objektiver Beweisanzeichen feststellbare Absicht, die Wohnung im Inland beizubehalten und auch künftignutzen zu wollen. Nach den gesamten Umständen des Streitfalles hatte die Tochter des Klägers auch während ihres Auslandsaufenthaltes einen inländischen Wohnsitz, so daß der Klage stattzugeben war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruhen auf § 151 Abs. 1 Satz 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozeßordnung. Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.