Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 04.06.2019, Az.: 5 A 12714/17

Abschiebungsanordnung; Abschiebungsverbot; besonders verletzliche Person; individuelle Garantieerklärung; Italien; schwere psychische Erkrankungen; unmenschliche Behandlung; vulnerable Person

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
04.06.2019
Aktenzeichen
5 A 12714/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69511
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.

Im Übrigen wird der Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 2017 hinsichtlich der Ziffern 2. bis 4. aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, festzustellen, dass für die Klägerin Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Italien vorliegen.

Die Klägerin und die Beklagte tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens je zur Hälfte.

Die Entscheidung ist – soweit streitig entschieden wurde – wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Die Klägerin ist sudanesische Staatsangehörige und wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrages als unzulässig, verbunden mit der Anordnung ihrer Abschiebung nach Italien.

Die Klägerin reiste im September 2017 in die Beklagte ein und stellte am 28. September 2017 einen förmlichen Asylantrag. Sie gab im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Beklagten (Bundesamt) am 02. Oktober 2017 u.a. an, dass sie in Italien in einem Lager untergebracht worden sei. Dort sei sie die einzige Sudanesin gewesen und deshalb gehänselt worden. Mit Unterstützung einer Somalierin sei sie in eine andere Einrichtung gekommen, wo die Lebensverhältnisse aber auch nicht sehr gut gewesen seien. Eine medizinische Behandlung habe sie gar nicht erhalten, obwohl sie krank gewesen sei. Als eine in der letzten Unterkunft mit ihr lebende sudanesische Familie Italien verlassen habe, habe sie sich der Familie angeschlossen.

Da Anhaltspunkte für die Zuständigkeit Italiens hinsichtlich der Durchführung des Asylverfahrens – insbesondere eine EURODAC-Treffermeldung der Kategorie 2 (illegal Eingereiste) – vorlagen, bat die Beklagte die italienischen Behörden am 16. Oktober 2017 um die Übernahme der Klägerin. Diese reagierten auf die Anfrage nicht innerhalb der Frist gemäß Art. 22 Abs. 7 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO).

Mit Bescheid vom 19. Dezember 2017 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin als unzulässig ab (1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (2.), ordnete die Abschiebung der Klägerin nach Italien an (3.) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (4.). Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig, da Italien wegen der Einreise der Klägerin in dieses Land gemäß Art. 25 Abs. 2, Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO zuständig sei. Es könne nicht vom Vorliegen systemischer Mängel hinsichtlich Italiens ausgegangen werden. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Antragsgegnerin veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben, seien nicht ersichtlich.

Aus einem fachärztlichen Kurzbrief vom 05. März 2018 (Bl. 52f. d.A.) geht hervor, dass die Klägerin seit ihrer Kindheit an „unwillkürlichen Harnabgängen“ leide, wobei sich diese Problematik seit ihrer Beschneidung verschlimmert habe. Sie erlebe sich deshalb als stigmatisiert. Als Diagnosen stellte der Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie „unwillkürliche Harnabgänge unklarer Genese (ICD-10: R32)“, „V.a. somatoforme autonome Funktionsstörung: Urogenitalsystem (ICD-10: F45.34)“ sowie „V.a. Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1)“. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den vorbezeichneten Kurzbrief Bezug genommen.

Unter dem 17. Mai 2018 (Bl. 61f. d.A.) stellte eine Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie des Sozialpsychiatrischen Dienstes der Region A-Stadt für die Klägerin eine „Fachpsychiatrische Stellungnahme“ aus, in der sie insbesondere zu dem Schluss kam, dass diagnostisch bei der Klägerin am ehesten von dem Vorliegen einer schweren Posttraumatischen Belastungsstörung auszugehen sei. Auf die weiteren Ausführungen in dieser Stellungnahme wird Bezug genommen.

Ein weiterer fachärztlicher Kurzbrief vom 25. Juni 2018 Bl. 69f. d.A.) enthält als Diagnosen „Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F.43.1G)“, „V.a. somatoforme autonome Funktionsstörung: Urogenitalsystem (ICD-10: F45.34)“ sowie „unwillkürliche Harnabgänge unklarer Genese (ICD-10: R32)“. Die Klägerin leide – neben den unwillkürlichen Harnabgängen – insbesondere auch an Ein- und Durchschlafstörungen sowie an Alpträumen und Angst. Zwar habe sich ihr Befinden zuletzt etwas stabilisiert, sodass man habe die Medikation absetzen können, jedoch sei eine weiterführende Psychotherapie erforderlich. Bezüglich des weiteren Inhalts wird auf den Kurzbrief vom Juni 2018 Bezug genommen.

In einer ausführlichen gutachterlichen psychotherapeutischen Stellungnahme vom 20. August 2018 (Bl. 78ff. d.A.) stellte die begutachtende Fachärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie die Diagnose einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung mit depressiver und dissoziativer Komponente (ICD-10: F43.1) und führte u.a. aus, bei einer Abschiebung der Klägerin nach Italien sei eine Verstärkung der depressiven Symptomatik bis hin zum Suizid zu befürchten. Auf die weiteren Ausführungen im Gutachten wird umfänglich Bezug genommen.

Dem Entlassungsbericht einer Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie vom 06. September 2018 (Bl. 104ff. d.A.) über einen stationären Aufenthalt der Klägerin im Zeitraum vom 27. August bis 06. September 2018, in welchem eine schwere depressive Episode (ICD-10: F32.2) und eine Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) diagnostiziert wurden, ist zu entnehmen, dass bei der Klägerin von einer latenten Suizidalität ausgegangen werde. Auf die weiteren Ausführungen des Entlassungsberichtes wird Bezug genommen.

Schließlich werden hinsichtlich der Klägerin in einer fachärztlichen Stellungnahme vom 11. Oktober 2018 (Bl. 124f. d.A.) als Diagnosen „Komplexe posttraumatische Belastungsstörung mit depressiver, dissoziativer und halluzinativer Komponente (F43.1)“ und „Enuresis nocturna (F 98.0)“ (nächtliches Einnässen) gestellt. Für den Fall einer Rückkehr nach Italien habe die Klägerin glaubhaft versichert, dass sie sich das Leben nehmen würde, weshalb die Eigengefährdung bei Fortbestehen der drohenden Rückführung als hoch eingeschätzt werde. In Bezug auf die weiteren Einzelheiten wird auf die fachärztliche Stellungnahme Bezug genommen.

Gegen den vorbezeichneten Bescheid vom 19. September 2017 hat die Klägerin bereits am 27. Dezember 2017 Klage erhoben und zugleich um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Sie meint, das italienische Asylsystem weise systemische Mängel auf. Für alle Personen, die nach Italien überstellt werden sollen, müsse es vorab individuelle Garantieerklärungen geben. Dies gelte besonders für sie als alleinstehende Frau, die in besonderem Maße schutzbedürftig und gesundheitlich angeschlagen sei.

Die Klägerin hat ursprünglich beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 2017 aufzuheben. Nach teilweiser Rücknahme beantragt sie nunmehr,

den Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 2017 – – hinsichtlich der Ziffern 2-4 aufzuheben und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Italiens vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

Der Rechtsstreit ist mit Beschluss vom 25. Oktober 2018 gemäß § 76 Abs. 1 AsylG auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen worden. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 101 Abs. 2 VwGO erklärt.

Wegen des weiteren Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO eingestellt.

II.

Im Übrigen ist die zulässige Klage, über die der Berichterstatter als Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, auch begründet.

Soweit der Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 2017 die Feststellung enthält, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2.), die Abschiebung nach Italien anordnet (Ziffer 3.) und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4.), ist er rechtswidrig und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

1.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Italiens. Die Abschiebungsanordnung beruht vorliegend auf §§ 29 Abs. 1 Nr. 1a), 34a) AsylG. Gemäß § 31 Abs. 3 AsylG hat das Bundesamt in diesen Fällen festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen. Dies ist vorliegend der Fall, sodass der Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 2017, soweit er feststellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegen, rechtswidrig und aufzuheben ist.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Gleichlautend verbietet dies auch Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: EUGrCh).

Eine solche Behandlung muss hierbei ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK zu gelten. Dazu können nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 (M.S.S./ Belgien und Griechenland) -, NVwZ 2011, 413) ausnahmsweise auch auf Armut zurückzuführende schlechte humanitäre Bedingungen gehören. Das gilt zwar nicht in dem Sinne, dass die Vertragsparteien verpflichtet sind, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen, Flüchtlingen allgemein finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011, a.a.O.; ders.: Beschluss vom 02. April 2013 – 27725/10 –, juris). Auch reicht die drohende Abschiebung in ein Land, in dem die eigene wirtschaftliche Situation schlechter sein wird als in dem ausweisenden Vertragsstaat, nicht aus, die Schwelle einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu erreichen. Art. 3 EMRK schützt aber davor, monatelang und ohne Perspektive in extremer Armut leben zu müssen und außerstande zu sein, für die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Hygieneartikel und Unterkunft aufzukommen (ebenso: VG Oldenburg, Beschluss vom 27. Januar 2015, - 12 B 245/15 -, juris). Einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im vorstehenden Sinne sind Personen, die vollständig auf staatliche Hilfe angewiesen sind, insbesondere dann ausgesetzt, wenn sie sich in einer mit der menschlichen Würde unvereinbaren Situation ernsthafter Entbehrungen und Not einer behördlichen Gleichgültigkeit gegenübersehen. Eine solche Situation liegt nach Auffassung des Einzelrichters nicht erst dann vor, wenn die betreffenden Personen ohne staatliche Hilfe hilflos dem Tod durch Hunger und Krankheit ausgesetzt wären, sondern auch dann, wenn sie ohne staatliche Hilfe erheblich unterhalb des jeweiligen wirtschaftlichen Existenzminimums leben müssten. Im Rahmen der Prognose, ob Ausländer im Falle ihrer Überstellung in einen anderen Staat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer in diesem Sinne unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein werden, ist dabei nicht allein auf die Rechtslage in diesem Staat abzustellen; maßgeblich ist auch deren Umsetzung in die Praxis (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 (M.S.S./ Belgien und Griechenland) -, a. a. O.; Hailbronner, Ausländerrecht, Band 3, Stand: Juni 2014, § 34a AsylVfG Rn. 21). Dabei ist zu berücksichtigen, ob staatliche Stellen es durch ihr vorsätzliches Handeln oder Unterlassen betroffenen Personen praktisch verwehren, von ihren gesetzlich verankerten Rechten Gebrauch zu machen (vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, HUDOC Rn. 96).

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) muss die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Erfordernissen der EUGrCh sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, - C-411/10, juris -, Rn. 80). Diese Vermutung kann widerlegt werden, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass ein Ausländer Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden. Die Prüfung, ob eine derartige Gefahr besteht, hat nach strengen Maßstäben zu erfolgen, da damit die Verwirklichung des gemeinsamen europäischen Asylsystems auf dem Spiel steht (EuGH, a.a.O.). Diese Rechtsprechung hat der EuGH mit einem Urteil aus dem März 2019 noch einmal bestätigt (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris). Darin führt er aus, das Unionsrecht sei dahin auszulegen, dass die Frage, ob Art. 4 EUGrCh dem entgegensteht, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gemäß Art. 29 der Verordnung Nr. 604/2013 in den nach dieser Verordnung normalerweise für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird, wenn dieser Antragsteller im Fall der Gewährung eines solchen Schutzes in diesem Mitgliedstaat aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort als international Schutzberechtigten erwarten würden, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGrCh zu erfahren, in seinen Anwendungsbereich fällt. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit sei dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre; diese Schwelle sei daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, Urteil vom 19. März 2019, a.a.O., Rn. 92f.).

Nach diesen Vorgaben ist für die Klägerin das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu bejahen. In ihrer Person liegen besondere, individuelle Gründe vor, die eine Zuordnung zur Gruppe der besonders verletzlichen (vulnerablen) Personen erfordern und eine Überstellung nach Italien als menschenrechtswidrig erscheinen lassen, da sie Gefahr liefe, sich ohne Steuerungsmöglichkeit in einer Situation extremer materieller Not im vorbeschriebenen Sinne wiederzufinden.

Zur Gruppe der vulnerablen Personen gehören nach der Rechtsprechung des EGMR insbesondere Familien mit Neugeborenen und Kleinkindern. Dieser hat in seiner „Tarakhel“-Entscheidung (EGMR, Urteil vom 04. November 2014 – 29217/12 –, a.a.O.) insoweit ausgeführt, dass insbesondere minderjährige Asylbewerber eines besonderen Schutzes bedürften, weil sie besondere Bedürfnisse hätten und extrem verwundbar seien. Das gelte auch, wenn die Kinder von ihren Eltern begleitet würden. Die Aufnahmeeinrichtungen für minderjährige Asylbewerber müssten an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entstehe. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des EGMR muss deshalb bei der Abschiebung von alleinerziehenden Müttern mit Kleinstkindern nach Italien vom Bundesamt eine konkrete und einzelfallbezogene Zusicherung der italienischen Behörden eingeholt werden, dass die Familie in Italien eine gesicherte Unterkunft für alle Familienmitglieder erhalten werde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 2015 - 2 BvR 3024/14 u.a. -; EGMR, Urteil vom 04. November 2014 – 29217/12 –, a.a.O.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juni 2017 – 8 L 203/17.A –, Rn. 20, juris). Nach Überzeugung des Einzelrichters gelten diese Vorgaben unter Berücksichtigung der aktuell zur Situation von Asylsuchenden in Italien verfügbaren Erkenntnismittel über den vom EGMR in dem zitierten Urteil konkret entschiedenen Einzelfall hinaus auch für sonstige vulnerablen Personen, insbesondere für Personen mit schweren psychischen Erkrankungen (vgl. hierzu auch: VG Würzburg, Urteil vom 11. Oktober 2018 – W 2 K 18.50343 –, Rn. 17, juris), wie sie bei der Klägerin vorliegen. Diese leidet insbesondere unter einer schwerwiegenden und behandlungsbedürftigen Posttraumatischen Belastungsstörung. Das Vorliegen einer solchen ergibt sich zur Überzeugung des Einzelrichters aus den diversen ärztlichen Unterlagen, die dem Gericht vorgelegt wurden und die diesbezüglich ein einheitliches und widerspruchsfreies Bild ergeben. Dabei konnte der Einzelrichter seine Überzeugung insbesondere auf Grundlage der umfangreichen gutachterlichen psychotherapeutischen Stellungnahme vom 20. August 2018 (s.o.) bilden.

Da sich die Situation für schutzsuchende, vulnerable Personen in Italien nicht nur nicht maßgeblich verbessert hat, sondern seit dem Regierungswechsel im Juni 2018 vollständig zu erodieren droht, gilt diese Voraussetzung auch im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Ein aktueller Monitoring-Bericht (Schweizerische Flüchtlingshilfe und Danish Refugee Council, MUTUAL TRUST IS STILL NOT ENOUGH – The situation of persons with special reception needs transferred to Italy under the Dublin III, 12. Dezember 2018: Regulatiohttps://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/dublin/italien/monitoreringsrapport-2018.pdf) nährt erhebliche Bedenken in Bezug auf eine menschenrechtskonforme Art der Unterbringung und Versorgung (insbesondere) vulnerabler Personen in Italien; insofern liegen greifbare Anhaltspunkte dafür vor, dass solche Personen im italienische Asylsystem Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden. In der dem Bericht zugrundeliegenden Studie wurden über einen längeren Zeitraum 13 Flüchtlinge bzw. Flüchtlingsfamilien vom Zeitpunkt ihrer Rückführung nach Italien im Rahmen des Dublin-Verfahrens begleitet, die alle dem Kreis der sog. vulnerablen Personen bzw. Personengruppen zuzuordnen sind. Diese Stichproben, die sich nicht lediglich auf bestimmte Gebiete in Italien bezogen, ergaben ein verheerendes Bild, welches die Stichprobenergebnisse des vorangegangenen Monitoring-Berichtes aus dem Jahr 2017 (Schweizerische Flüchtlingshilfe und Danish Refugee Council, Is mutual trust enough? – The situation of persons with special reception needs upon return to Italy, 09. Februar 2017: https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/news/2017/drc-osar-drmp-report-090217.pdf) bestätigt. So kam es zu Situationen, in denen sich die Betroffenen zunächst auf der Straße wiederfanden, in einigen Fällen war der Zugang zur (dringend notwendigen) Gesundheitsversorgung (zunächst) nicht gegeben, in mehreren der im Bericht genannten Aufnahmeeinrichtungen war nicht einmal das niemandem zu verwehrende Minimum an Privatsphäre gewährleistet (so wird beispielsweise von Toiletten ohne Türen oder solchen, die sich nicht abschließen lassen, berichtet) und die hygienischen Bedingungen waren teilweise untragbar. Gerade in Bezug auf psychische Erkrankungen lässt sich aus den Berichten ersehen, dass notwendige Behandlungen (in den meisten Fällen) nicht gewährleistet sind. Auch wenn es sich (beide Monitoring-Berichte zusammengenommen) lediglich um 19 beobachtete Fälle handelt, so genügt dies, damit der Einzelrichter überzeugt ist, dass es sich um Zustände handelt, die weit verbreitet sind und mit denen sich insbesondere auch vulnerable Asylbewerber in Italien regelmäßig konfrontiert sehen. Es wäre ein großer Zufall, wenn es sich bei den 19 dokumentierten Fällen lediglich um Ausnahmen handelte, zumal die vorbezeichneten Angaben auch durch andere Erkenntnismittel zur aktuellen Situation Bestätigung finden. Eine Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur aktuellen Situation von Asylsuchenden in Italien aus dem Mai 2019 (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 08. Mai 2019: https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/dublin/italien/190508-auskunft-italien.pdf) lässt erkennen, dass sich unter der neuen Regierung die Versorgung der Asylbewerber in Italien verschlechtert und insbesondere die zur Verfügung stehenden Geldmittel reduziert werden, was sich insbesondere in gravierendem Maße für die Situation der vulnerablen Personen auswirkt, welche einer intensiveren und damit kostenträchtigeren Betreuung und Versorgung bedürfen. Für die Klägerin, die dringend auf eine psychische Betreuung angewiesen ist, wäre insofern im Falle einer Rückkehr nach Italien mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass sie diese notwendige (psychologische bzw. psychiatrische) Betreuung nicht erhielte. Daraus resultierend würde sich die Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung ihrer psychischen und in der Folge auch ihrer physischen Gesundheit ergeben. Ein beschränkter Zugang zu medizinischer Versorgung und der schlechte Zustand vieler Aufnahmeeinrichtungen werden in anderen Berichten ebenfalls hervorgehoben (vgl. z.B. USDOS – US Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2018 – Italy, 13. März 2019: https://www.ecoi.net/de/dokument/2004308.html; Ärzte ohne Grenzen, Italy Report 2018: https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/sites/germany/files/2018-italy-report-informal-refugee-settements.pdf). Zudem ist es zur Überzeugung des Einzelrichters wahrscheinlich, dass die Klägerin – zumindest vorübergehend – obdachlos würde, würde sie nach Italien zurückkehren. Dass im Rahmen des Dublin-Systems nach Italien rücküberstellte Personen der reellen Gefahr der Obdachlosigkeit ausgesetzt sind, lässt sich zur Überzeugung des Einzelrichters nicht nur aus den vorbezeichneten Monitoring-Berichten, sondern auch anhand der in Italien bestehenden Rechtslage und ihrer praktischen Umsetzung ersehen. Aus der vorzitierten Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Mai 2019 (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, a.a.O.) geht hervor, dass eine gesetzliche Regelung in Italien (Dekret 142/2015) vorsieht, dass eine Person, die ohne Meldung das Zentrum (im Sinne der Unterkunft) verlässt, ihren Anspruch auf Unterbringung verliert, da in diesem Fall von einer freiwilligen Abreise ausgegangen werde. Dies führe dazu, dass insbesondere sog. Dublin-Rückkehrer, die vor Abschluss ihres Asylverfahrens Italien verlassen hätten, kein Obdach erhielten. Es würden in solchen Fällen kaum Möglichkeiten bestehen, erneut einen Platz zu erhalten. Eine aktuelle Reportage des Nachrichtenmagazins Monitor (ARD, Monitor, Hilflos, obdachlos, chancenlos: Das Elend der Flüchtlinge in Italien, Sendung vom 23. Mai 2019, in der Mediathek der ARD abrufbar unter: http://mediathek.daserste.de/Monitor/Hilflos-obdachlos-chancenlos-Das-Elen/Video?bcastId=438224&documentId=63176882, verschriftlicht abrufbar unter: https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/fluechtlinge-italien-100.html) bestätigt dies. Das vorbezeichnete Dekret werde extensiv angewendet und das auch teilweise schon in Fällen, in denen die Betroffenen lediglich eine Nacht außerhalb der Unterkunft verbracht hätten. Insgesamt sei – nach Auskunft der italienischen Behörden – allein in den Jahren 2016 und 2017 mehreren zehntausend Personen auf diese Weise das Recht auf Unterkunft entzogen worden, wobei insbesondere auch die Asylbewerber betroffen seien, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien zurückkehrten, da diese gewöhnlich vor der Ausreise eine Unterkunft besessen und diese dann verlassen hätten. In der Sendung wurden mehrere aus Deutschland nach Italien Abgeschobene interviewt, welche seit ihrer Rückkehr dorthin auf der Straße leben. Da die Klägerin bereits in Italien in einer Einrichtung untergebracht war, bevor sie das Land verlassen hat, ist es wahrscheinlich, dass die vorbezeichnete gesetzliche Regelung zur Anwendung kommt und sie – zumindest vorläufig – im Falle einer Rückkehr nach Italien wird auf der Straße leben müssen, sofern sie nicht durch private oder kirchliche Hilfe ein Obdach erhält. Dies würde für die psychisch schwer kranke Klägerin einen nicht steuerbaren Zustand extremer materieller Not im o.g. Sinne darstellen.

Nicht einschlägig im hiesigen Kontext sind nach Auffassung des Einzelrichters die Entscheidungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichtes (vgl. insbesondere: Urteil vom 04. April 2018 – 10 LB 96/17 –, juris; Beschluss vom 28. Mai 2018 – 10 LB 202/18 –, juris; Beschluss vom 6. August 2018 – 10 LA 320/18 –, BeckRS 2018, 21808), welche allesamt auf Personen bezogen sind, die keiner vulnerablen Gruppe zuzurechnen sind bzw. waren.

Der psychische Krankheitszustand der Klägerin (s.o.) ist der Beklagten (nunmehr auch) bekannt. Eine individuelle Garantieerklärung durch die Republik Italien wurde von dem Bundesamt nicht angefragt und durch die italienischen Behörden auch nicht abgegeben. Eine Abschiebung ist unter diesen Bedingungen und Heranziehung der Grundsätze der eingangs zitierten Rechtsprechung nicht mit Art. 3 EMRK bzw. Art 4 EUGrCh zu vereinbaren. Die Klägerin hat deshalb einen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Italiens, solange eine individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden nicht vorliegt.

Insofern kann dahinstehen, ob wegen eines möglichen Suizidrisikos im Falle einer Abschiebung nach Italien auch der Tatbestand des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt wäre.

2.

Da die in den Ziffern 3. und 4. getroffenen Regelungen auf der rechtswidrigen und aufzuhebenden Feststellung in Ziffer 2. beruhen, sind diese ebenfalls rechtswidrig und aufzuheben.

III.

Die Kostenentscheidung folgt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist, aus § 155 Abs. 2 VwGO und im Übrigen aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.