Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 27.08.2021, Az.: 1 A 1511/20
Bewerbungsverfahrensanspruch; Klagebefugnis; Kommunalverfassungsstreitverfahren; Prozessstandschaft; Feststellung der Rechtswidrigkeit zweier Kreistagsbeschlüsse (Ausschreibungsverzicht und Wahl zum Ersten Kreisrat, § 109 Abs. 1 NKomVG) und die Frage der Klagebefugnis (verneint)
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 27.08.2021
- Aktenzeichen
- 1 A 1511/20
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2021, 35741
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGSTADE:2021:0827.1A1511.20.00
Die Beteiligten streiten über die Nichtigkeit bzw. Rechtswidrigkeit zweier Beschlüsse des beklagten Kreistages.
Die Klägerin ist eine aus vier Personen bestehende Fraktion im beklagten Kreistag.
Herr H. wurde mit Kreistagsbeschluss vom 21. Mai 2013 mit Wirkung vom 1. August 2013 bis zum 31. Juli 2021 zum Kreisrat (Dezernent II) gewählt. Die Stelle des Ersten Kreisrats wurde seit dem Ruhestand des vorherigen Amtsinhabers am 1. März 2017 formal nicht nachbesetzt. Die Aufgaben des Allgemeinen Vertreters wurden seitdem vom Kreisrat I. wahrgenommen. Dieser trat mit Ablauf des 31. August 2020 in den Ruhestand.
Der beklagte Kreistag (nachfolgend: Beklagter zu 2.) fasste auf der Grundlage der Sitzungsvorlage Nr. J. in öffentlicher Sitzung vom 23. September 2020 unter dem Tagesordnungspunkt 7 folgende Beschlüsse:
"Von der öffentlichen Ausschreibung der Stelle eines Ersten Kreisrats wird gem. § 109 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 NKomVG abgesehen".
"Kreisrat H. wird für die Dauer von acht Jahren mit Wirkung vom K. bis zum L. zum Ersten Kreisrat gewählt".
Die Ernennungsurkunde wurde Herrn M. im Anschluss ausgehändigt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Sitzungsvorlage Nr. J. und die Sitzungsniederschrift vom 23. September 2020 (abrufbar unter N.) verwiesen.
Gegen die beiden vorgenannten Beschlüsse hat die Klägerin am 12. Oktober 2020 Klage erhoben.
Sie begründet die Klage im Wesentlichen wie folgt:
Die Beschlüsse seien rechtswidrig bzw. nichtig. Ein Verzicht auf die Ausschreibung könne nicht, wie in der Sitzungsvorlage Nr. J. angegeben, auf § 109 Abs. 1 Satz 2 NKomVG gestützt werden. Vermutlich sei § 109 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 NKomVG gemeint. Das stehe dort aber nicht. Ungeachtet dessen lägen auch die Voraussetzungen des § 109 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 NKomVG nicht vor, da sich der Zuschnitt des bisher von Kreisrat M. geleiteten Dezernates ändere. Dazu werde auf die Angaben in der Sitzungsvorlage Nr. J. verwiesen, wo es u.a. heiße:
"Mit der Nachbesetzung der Stelle eines Kreisrates zur Leitung des Dezernates I zum 01.01.2021 (Vorlage O.) soll sich der Zuschnitt des bisher von Kreisrat H. geleiteten Dezernates ändern. Es soll ab diesem Zeitpunkt voraussichtlich das Amt Schulen und Kultur (40), das Amt Strategische Sozialplanung (50), das Jugendamt (51), das Gesundheitsamt (53), das Amt Soziale Leistungen (58) sowie der Einrichtungen Burg Bederkesa/Archäologische Denkmalpflege (01), des Kreisarchives (02) und des Museums Gegenstandsfreier Kunst (03) umfassen. Das Rechnungsprüfungsamt (14) wird ab 01.01.2021 direkt dem Landrat zugeordnet".
Der Verweis des Landrates des Beklagten zu 1. in der Sitzung vom 23. September 2020 darauf, dass die Zuständigkeitsveränderung nicht am Tage der Sitzung bzw. Wahl, sondern zu einem späteren Zeitpunkt erfolge, überzeuge nicht. Dies stelle eine Umgehung von § 109 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 NKomVG dar. Hinzu komme, dass es ausweislich eines Artikels in der P. einen Zusammenhang zwischen der Wahl von Herrn M. und der geplanten Zuständigkeitsänderung gebe.
Von den Beschlüssen sei sie, die Klägerin, auch persönlich betroffen. Es sei ihr - auch im Sinne ihres Wählerauftrags - ein zentrales politisches Anliegen, bei Stellenbesetzungen "Hinterzimmer-Absprachen" zu vermeiden und für Transparenz und Fairness zu sorgen. Hinzu komme, dass dieser Rechtsstreit nicht nur verwaltungsrechtliche, sondern aufgrund von Art. 33 Abs. 2 GG auch verfassungsrechtliche Elemente beinhalte. Doch nicht nur Dritte, sondern auch die Fraktionsmitglieder der Klägerin seien direkt betroffen. Bei einer Ausschreibung der Stelle hätte für diese die Möglichkeit bestanden, sich auf die ausgeschriebene Stelle zu bewerben. Die vom Beklagten zu 1. angesprochene Qualifikation von Herrn M. werde von ihr, der Klägerin, nicht angezweifelt und sei daher unstreitig.
Die Klägerin beantragt,
festzustellen, dass die in öffentlicher Sitzung vom 23. September 2020 unter dem Tagesordnungspunkt 7 gefassten Beschlüsse (Verzicht auf Ausschreibung und Wahl von Herrn M. zum Ersten Kreisrat) nichtig bzw. rechtswidrig sind.
Der Beklagte zu 1. beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er tritt der Klage entgegen. Die Klage sei unzulässig. Er, der Beklagte zu 1., sei falscher Klagegegner. Richtiger Klagegegner sei vielmehr der Beklagte zu 2., da dieser die angegriffenen Beschlüsse gefasst habe. Der Klägerin fehle zudem die Klagebefugnis, da nicht ersichtlich sei, dass durch die beanstandeten Beschlüsse subjektive Organrechte nachteilig betroffen seien. Es gehe der Klägerin lediglich um eine allgemeine Rechtskontrolle mehrheitlich zustande gekommener Kreistagsbeschlüsse, woraus keine Klagebefugnis folge. Weiterhin fehle es am berechtigten Feststellungsinteresse. Auch nach der Klägerin liege die Qualifikation von Herrn M. unstreitig vor.
Ungeachtet dessen sei die Klage auch unbegründet. Der beklagte Kreistag habe den Ausschreibungsverzicht auf der Grundlage von § 109 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 NKomVG zu Recht beschlossen. Die bisherige Fachgebietszuständigkeit von Herrn M. mit Wirkung seiner Wahl zum Ersten Kreisrat ab dem 1. Oktober 2020 sei beibehalten worden und bestehe auch derzeit noch unverändert fort. Der Zuständigkeit des Dezernats II von Herrn M. unterfielen aktuell und seit vielen Jahren das Rechnungsprüfungsamt (14), das Kämmereiamt (20), das Amt Strategische Sozialplanung (50), das Jugendamt (51) und das Amt Soziale Leistungen (58). Nach dem Ausscheiden des vormaligen Kreisrates I. (Dezernat I) mit Ablauf des 31. August 2020 würden für ihn, den Beklagten zu 1., neben dem Landrat weiterhin bis zum 31. Dezember 2020 als Kreisräte Herr M. (ab dem 1. Oktober 2020 als Erster Kreisrat) und Frau Kreisrätin Q. amtieren. Ab dem 1. Januar 2021 komme als neuer Kreisrat und als Nachfolger von Herrn R. Herr S. hinzu, der ebenfalls in der Kreistagssitzung am 23. September 2020 mit Wirkung zum 1. Januar 2021 zum Kreisrat gewählt worden sei. Die abschließende Aufteilung der Fachämter ab dem 1. Januar 2021 auf die Dezernenten der drei dann amtierenden Wahlbeamten stehe noch nicht fest. Daher sei in der Sitzungsvorlage ausdrücklich auch nur eine "voraussichtliche" Aufteilung der Ämter angegeben worden. Die Behauptung der Klägerin, dass eine zukünftige Änderung der Fachgebietszuständigkeiten bereits beschlossen worden sei, treffe nicht zu. Ob und wann es künftig zu Veränderungen bei der Aufteilung der Fachämter komme, stehe noch nicht abschließend fest. Etwaige spätere Änderungen von Fachgebietszuständigkeiten der gewählten Dezernenten stellten keine nachträglichen Verstöße gegen die Vorschrift des § 109 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 NKomVG dar. Anderenfalls entfiele jegliche Flexibilität. Die grundsätzliche Möglichkeit späterer Änderungen der Fachgebietszuständigkeit von Dezernenten ergebe sich im Übrigen auch aus der Vorschrift des § 85 Abs. 3 NKomVG.
Zu beachten sei auch, dass zwischen dem Landrat und Herrn M. ein besonderes und langjähriges Vertrauensverhältnis bestehe, das den Verzicht auf die Ausschreibung gerechtfertigt habe. Es bestünden auch keine Zweifel daran, dass Herr M. geeignet sei, auch anderen Fachämtern vorzustehen.
Der Beklagte zu 2. beantragt,
die Klage abzuweisen.
Auch er tritt der Klage entgegen und schließt sich insoweit den Ausführungen des Beklagten zu 1. an.
Mit Beschluss vom 7. April 2021 ist der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.
Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage im vorliegenden Kommunalverfassungsstreitverfahren ist unzulässig.
Sie ist zwar als Feststellungsklage i.S.d. § 43 Abs. 1 VwGO statthaft (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 27. Juni 2012 - 10 LC 37/10 -, Rn. 28, juris).
Soweit sich die Klage gegen den Beklagten zu 1. richtet, fehlt es aber bereits an der Passivlegitimation. Richtiger Klagegegner ist nicht die Kommune, sondern das Organ bzw. der Organteil, demgegenüber die geltend gemachte Innenrechtsposition bestehen soll oder dem die behauptete Rechtsverletzung anzulasten ist. Die Rechtsverletzung soll nach dem Vorbringen der Klägerin von zwei Kreistagsbeschlüssen ausgehen. Die Verantwortung für diese Beschlüsse trägt der Beklagte zu 2., nicht der Beklagte zu 1. (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 03. Juli 2014 - 10 ME 38/14 -, Rn. 22, juris; Wefelmeier, in: KVR-Nds., NKomVG, Stand: September 2016, § 54 Rn. 35).
Für die gegen den Beklagten zu 2. erhobene Klage fehlt es der Klägerin an der notwendigen Klagebefugnis. Das Kommunalverfassungsstreitverfahren ist dadurch gekennzeichnet, dass Gemeindeorgane oder Organteile über Bestand und Reichweite zwischen- oder innerorganschaftlicher Rechte streiten. Eine Klage ist daher in entsprechender Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO nur zulässig, wenn es sich bei der geltend gemachten Rechtsposition um ein durch das Innenrecht eingeräumtes, dem klagenden Organ oder Organteil zur eigenständigen Wahrnehmung zugewiesenes wehrfähiges subjektives Organrecht handelt. Geht es, wie hier, um die Rechtmäßigkeit von Kreistagsbeschlüssen, setzt die Klagebefugnis dementsprechend voraus, dass diese ein subjektives Organrecht des klagenden Organs oder Organteils nachteilig betreffen. Denn das gerichtliche Verfahren dient nicht der Feststellung der objektiven Rechtswidrigkeit von Kreistagsbeschlüssen, sondern dem Schutz der dem klagenden Organ oder Organteil durch das Innenrecht zugewiesenen Rechtsposition (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 27. Juni 2012 - 10 LC 37/10 -, Rn. 30, juris).
Soweit die Klägerin geltend macht, die angegriffenen Beschlüsse seien rechtswidrig, da die Wahl von Herrn M. zum Ersten Kreisrat unter Verzicht auf die in § 109 Abs. 1 Satz 3 NKomVG vorgesehene öffentliche Ausschreibung der Stelle erfolgt sei, ohne dass die Voraussetzungen hierfür vorgelegen hätten, rügt sie die objektive Rechtswidrigkeit der Beschlüsse. Dies kann nach den vorgenannten Maßstäben jedoch keine Klagebefugnis der Klägerin begründen. Das verwaltungsgerichtliche Organstreitverfahren ist, wie ausgeführt, kein objektives Rechtsbeanstandungsverfahren. Es dient ausschließlich der Durchsetzung subjektiver Rechte. Auch sonst ist nicht ersichtlich, dass durch die angegriffenen Beschlüsse in eine subjektive kommunalverfassungsrechtliche Rechtsposition der Klägerin eingegriffen wurde. Dies gilt auch, soweit die Klägerin auf ihren Wählerauftrag und ihr zentrales politisches Anliegen verweist. Eine Klagebefugnis kann die Klägerin schließlich auch nicht mit Hinweis auf ihre Fraktionsmitglieder und deren entgangener Bewerbungsmöglichkeit auf die Stelle des Ersten Kreisrats begründen. Bei dem insoweit in Rede stehenden Bewerbungsverfahrensanspruch (vgl. dazu Wefelmeier, in: KVR-Nds., NKomVG, Stand: Januar 2018, § 109 Rn. 58 ff.) handelt es sich weder um ein subjektives Organrecht der Klägerin noch um subjektive Organrechte ihrer Mitglieder. Im Hinblick auf Letztgenannte würde es der Kläger im Übrigen auch an der Prozessführungsbefugnis fehlen. Diese könnte nur damit begründet werden, dass eine Fraktion in Prozessstandschaft im eigenen Namen die Rechte ihrer Mitglieder geltend machen kann. Ein Prozessführungsrecht von Vereinigungen zur Wahrnehmung der Rechte ihrer Mitglieder im eigenen Namen kennt das Verwaltungsprozessrecht indessen nicht (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 20. Februar 2019 - 4 KN 251/16 -, Rn. 7, juris).
Ob die Klage auch aus anderen Gründen unzulässig ist, bedarf daneben keiner Vertiefung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe für eine Zulassung der Berufung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 4 i.V.m. § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO) liegen nicht vor.