Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 27.08.2021, Az.: 1 A 1615/20

Klagebefugnis; Kommunalverfassungsstreitverfahren; Feststellung der Rechtswidrigkeit zweier Ratsbeschlüsse und die Frage der Klagebefugnis (verneint); Erforderlichkeit eines unmittelbaren (nicht nur mittelbaren) Eingriffs in eine subjektive kommunalverfassungsrechtliche Rechtsposition; Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Frage, ob und in welcher Höhe Fraktionszuwendungen nach § 57 Abs. 3 Satz 1 NKomVG gewährt werden

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
27.08.2021
Aktenzeichen
1 A 1615/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 35743
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2021:0827.1A1615.20.00

[Tatbestand]

Die Beteiligten streiten über die Nichtigkeit bzw. Rechtswidrigkeit zweier Beschlüsse des beklagten Rats.

Die Klägerin zu 1. ist eine aus drei Personen bestehende Fraktion im beklagten Rat. Der Kläger zu 2. ist Vorsitzender dieser Fraktion.

Der beklagte Rat fasste in öffentlicher Sitzung vom H. unter den Tagesordnungspunkten I.. und J.. zwei Beschlüsse entsprechend den Beschlussvorschlägen in den Sitzungsvorlagen Nr. K. und L.. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift vom H. (abrufbar unter M.) verwiesen.

Dagegen hat die Klägerin zu 1. am 10. November 2020 die vorliegende Klage erhoben. Mit Schreiben vom 4. Dezember 2020 hat sich der Kläger zu 2. der Klage angeschlossen. Mit Schreiben vom 31. Mai 2021 hat der Kläger zu 2. die von ihm erhobene Klage zurückgenommen.

Die Klägerin zu 1. begründet ihre Klage im Wesentlichen wie folgt:

Die Stadtverwaltung habe am 2. November 2020 die Sitzungsvorlage Nr. N. ausgefertigt. Darin schlage sie für das Haushaltsjahr 2021 einen Ergebnishaushalt mit einem Fehlbetrag von etwa 21,7 Millionen und für 2022 mit etwa 20,5 Millionen vor. Im Finanzhaushalt solle entsprechend dieses Vorschlags der Fehlbetrag für das Jahr 2021 etwa 16,8 Millionen und für 2022 etwa 17 Millionen betragen.

Der beklagte Rat habe am 29. Oktober 2020 entsprechend der Sitzungsvorlage Nr. K. bezüglich des Haushaltssicherungskonzepts für die Jahre 2019 bis 2023 eine Änderung der unter der laufenden Nr. 44 genannten Konsolidierungsmaßnahme "Einsparung von Personal- und Sachkosten" beschlossen. Die darin ursprünglich vorgesehene Besetzung der Leitung Dezernat II durch einen Tarifbeschäftigten oder Laufbahnbeamten und die Nicht-Wiederbesetzung der Stelle bei 400 (Naturschutzbehörde und Landwirtschaft) werde nicht weiterverfolgt, sondern es solle zukünftig die im Stellenplan bisher schon enthaltene B3-Stelle für einen Dezernenten besetzt werden.

Weiterhin habe der beklagte Rat am 29. Oktober 2020 entsprechend der Sitzungsvorlage Nr. L. den 2. Nachtrag zum Stellenplan 2020 mit der Schaffung einer weiteren B3-Stelle beschlossen.

Als Kompensation für diese zusätzliche Stelle und für die mit Wahlbeamten höheren Kosten sei die Nicht-Wiederbesetzung einer A11-Stelle beim Referat 100 - Büro des Oberbürgermeisters und einer A10-Stelle bei der Abteilung 7.1 Bürgerservice genannt worden.

Mit diesen Beschlüssen sei möglicherweise gegen höherrangiges Recht in Gestalt von §§ 110 Abs. 4 Satz 1 und 120 Abs. 1 Satz 1 NKomVG verstoßen worden. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb Vereinbarungen des Haushaltssicherungskonzeptes, die in der Vergangenheit erfolgreich umgesetzt worden seien, nicht weiterverfolgt würden. Es stelle sich die Frage, ob trotz mutmaßlicher Verletzung von Bestimmungen des NKomVG Konsolidierungsmaßnahmen wieder aufgehoben werden dürften. Bei voraussichtlichen Haushaltsfehlbeträgen von über 20 Millionen Euro müssten die in der Vergangenheit umgesetzten Konsolidierungsmaßnahmen beibehalten und zur Verbesserung der Haushaltslage echte Kompensationsmaßnahme ergriffen werden. Der geplante Wegfall von zwei Stellen stelle insoweit auch keine hinreichende Kompensation dar, weil in den vergangenen Jahren insgesamt 44 zusätzliche Stellen geschaffen worden seien, die den Haushalt erheblich belasteten.

Die Haushaltssituation in der Stadt O. stelle sich im Vergleich zur Haushaltssituation in den Gemeinden des Landkreises O. mit Abstand am Schlechtesten dar. Dies zeige, dass es mit entsprechender Haushaltsdisziplin möglich sei, ausgeglichene Haushalte zu verabschieden oder zumindest deutlich niedrigere Fehlbeträge auszuweisen.

Sie, die Klägerin zu 1., sei durch die angeführten Beschlüsse auch in ihrer kommunalverfassungsrechtlichen Stellung betroffen, weil diese zu erheblichen Mehraufwendungen führten und eine Kompensation nicht gegeben sei. Diese Mehraufwendungen führten dazu, dass sich die Haushaltslage weiter verschlechtere und in der Folge eine auskömmliche Finanzierung ihrer Arbeit nicht mehr möglich sei. Hierzu werde auf eine vom Landesrechnungshof P. durchgeführte Prüfung der Fraktionszuwendungen verwiesen. Die schon jetzt nicht auskömmliche Finanzierung in Höhe von 1.325,26 Euro im Haushaltsjahr 2020 habe gravierende Auswirkungen auf die Fraktionsarbeit. Es sei z.B. nicht möglich, eine Geschäftsstelle einzurichten oder Mitarbeiter zu beschäftigen.

Die Klägerin zu 1. beantragt,

festzustellen, dass die in öffentlicher Sitzung vom H. unter den Tagesordnungspunkten I.. und J.. gefassten Beschlüsse des beklagten Rats nichtig bzw. rechtswidrig sind.

Der beklagte Rat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er tritt der Klage entgegen und verweist darauf, dass ausweislich des Sitzungsprotokolls klägerseitig keine Rügen hinsichtlich einer Beeinträchtigung ihrer kommunalverfassungsrechtlichen Rechtsstellung durch die angegriffenen Beschlüsse erhoben worden seien. Die Klägerin zu 1. habe sich in dieser Angelegenheit parallel auch an die Kommunalaufsicht gewandt. Die Klage sei unzulässig. Es fehle den Klägern an der Beteiligtenfähigkeit bzw. an der Klagebefugnis i.S.d. § 42 Abs. 2 VwGO. Die Klage sei nur dann zulässig, wenn es sich bei der geltend gemachten Rechtsposition um ein durch Innenrecht eingeräumtes, dem klagenden Organ oder Organteil zur eigenständigen Wahrnehmung zugewiesenes, wehrfähiges subjektives Organrecht handele. Gehe es, wie hier, um die Rechtmäßigkeit eines Ratsbeschlusses setze die Klagebefugnis voraus, dass dieser Beschluss ein subjektives Organrecht des klagenden Organs bzw. Organteils nachteilig betreffe. Vorliegend sei weder ersichtlich noch dargelegt, welche subjektive kommunalverfassungsrechtliche Rechtsposition der Kläger durch die Beschlüsse betroffen sei.

Mit Beschluss vom 7. April 2021 ist der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.

Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Soweit der Kläger zu 2. die Klage zurückgenommen hat, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

Im Übrigen ist die Klage im vorliegenden Kommunalverfassungsstreitverfahren unzulässig.

Sie ist zwar als Feststellungsklage i.S.d. § 43 Abs. 1 VwGO statthaft (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 27. Juni 2012 - 10 LC 37/10 -, Rn. 28, juris) und der beklagte Rat ist passivlegitimiert (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 03. Juli 2014 - 10 ME 38/14 -, Rn. 22, juris; Wefelmeier, in: KVR-Nds., NKomVG, Stand: September 2016, § 54 Rn. 35).

Es fehlt der Klägerin zu 1. aber an der notwendigen Klagebefugnis. Das Kommunalverfassungsstreitverfahren ist dadurch gekennzeichnet, dass Gemeindeorgane oder Organteile über Bestand und Reichweite zwischen- oder innerorganschaftlicher Rechte streiten. Eine Klage ist daher in entsprechender Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO nur zulässig, wenn es sich bei der geltend gemachten Rechtsposition um ein durch das Innenrecht eingeräumtes, dem klagenden Organ oder Organteil zur eigenständigen Wahrnehmung zugewiesenes wehrfähiges subjektives Organrecht handelt. Geht es, wie hier, um die Rechtmäßigkeit von Ratsbeschlüssen, setzt die Klagebefugnis dementsprechend voraus, dass diese ein subjektives Organrecht des klagenden Organs oder Organteils nachteilig betreffen. Denn das gerichtliche Verfahren dient nicht der Feststellung der objektiven Rechtswidrigkeit von Ratsbeschlüssen, sondern dem Schutz der dem klagenden Organ oder Organteil durch das Innenrecht zugewiesenen Rechtsposition (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 27. Juni 2012 - 10 LC 37/10 -, Rn. 30, juris).

Soweit die Klägerin zu 1. geltend macht, die angegriffenen Beschlüsse würden möglicherweise gegen Haushaltsrecht in Gestalt von §§ 110 Abs. 4 Satz 1 und 120 Abs. 1 Satz 1 NKomVG verstoßen, rügt sie deren objektive Rechtswidrigkeit. Dies kann nach den vorgenannten Maßstäben jedoch keine Klagebefugnis der Klägerin zu 1. begründen. Das verwaltungsgerichtliche Organstreitverfahren ist, wie ausgeführt, kein objektives Rechtsbeanstandungsverfahren. Es dient ausschließlich der Durchsetzung subjektiver Rechte. Auch sonst ist nicht ersichtlich, dass durch die angegriffenen Beschlüsse in eine subjektive kommunalverfassungsrechtliche Rechtsposition der Klägerin zu 1. eingegriffen wurde. Dies gilt insbesondere auch, soweit die Klägerin zu 1. befürchtet, dass eine "auskömmliche Finanzierung" ihrer Arbeit infolge einer sich verschlechternden Haushaltslage nicht mehr möglich sei. Selbst wenn angenommen wird, dass Fraktionen aus der Vorschrift des § 57 Abs. 3 Satz 1 NKomVG, wonach die Kommune ihnen Zuwendungen zu den Sach- und Personalkosten für die Geschäftsführung gewähren kann, eine subjektive Rechtsposition in Gestalt eines Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Entscheidung herleiten können (vgl. dazu Mehde, in: BeckOK, Kommunalrecht Nds., Stand: 1. Juli 2021, § 57 Rn. 15), bleibt festzustellen, dass in diese Rechtsposition durch die angegriffenen Beschlüsse nicht, wie erforderlich, unmittelbar eingegriffen wurde (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 03. Juli 2014 - 10 ME 38/14 -, Rn. 18, juris). Die angegriffenen Beschlüsse befassen sich nicht mit der Frage, ob und in welcher Höhe der Klägerin zu 1. Zuwendungen gewährt werden.

Ob die Klage auch aus anderen Gründen unzulässig ist, bedarf daneben keiner Vertiefung.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2, 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Gründe für eine Zulassung der Berufung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 4 i.V.m. § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO) liegen nicht vor.