Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 27.08.2021, Az.: 1 A 1566/20

Klagebefugnis; Kommunalverfassungsstreitverfahren; Rüge; Abgrenzung eines formlosen Ordnungsrufs von einem förmlichen Ordnungsruf in einem Kommunalverfassungsstreitverfahren

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
27.08.2021
Aktenzeichen
1 A 1566/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 35742
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2021:0827.1A1566.20.00

[Tatbestand]

Der Kläger ist Mitglied des Kreistags des Landkreises H.. Der Beklagte ist Vorsitzender dieses Kreistags. Der Kläger wendet sich gegen einen - von ihm als solches bezeichneten - Ordnungsruf des Beklagten in der öffentlichen Kreistagssitzung vom I..

In der Sitzungsniederschrift vom I. heißt es dazu u.a.:

"10.2 Außerplanmäßige Aufwendung in Höhe von 330.000,00 €
hier: Unterstützung des Landkreises H. an der Stabilisierungsvereinbarung der Stadt H. mit dem Land J.

[...]

"Abg. Herr K. erklärt, dass die außerplanmäßigen Aufwendungen der Stabilisierungsvereinbarung der Stadt H. i. H. von 330.000,00 € im Haushaltsplan hätten berücksichtigt werden müssen, und somit ein Fehler der Verwaltung vorläge. Der Unterstützung wurde bereits 2016 beschlossen. Diese außerplanmäßige Ausgabe hätte also nicht vergessen werden dürfen. Er habe den Eindruck, dass sich die Verwaltung die Haushaltsgenehmigung der Kommunalaufsicht insoweit ,erschlichen' habe.

Landrat L. weist die Anschuldigungen nachdrücklich zurück. Die über- und außerplanmäßigen Ausgaben werden dem Kreistag offen dargelegt. Es werde lediglich ein Unterlassungsmangel in der Haushaltsplanung korrigiert.

Abg. Herr M. kritisiert mit scharfen Worten die Unterstellung der N..

Vorsitzender Herr O. rügt Abg. Herrn K. wegen unangemessener Wortwahl und bittet anschließend um Abstimmung".

In einem vom Beklagten im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Wortlautprotokoll heißt es u.a.:

"Sprecher Herr K.

[...] durch dieses Vergessen auch den, äh, Nebeneffekt, dass natürlich dann entsprechend der Haushalt, ähm, ähm, sie das bei der Genehmigung nicht geprüft wurde und so sich die Genehmigung, ich will es fast schon sagen, arglistig erschlichen wurde, also das kommt, zu dem Schluss komme ich nämlich, weil ich hier auch lese, dass sie ja gar keinen Deckungsvorschlag machen, äh, nach den, ähm, rechtlichen Bestimmungen müsste ja auch dann entsprechend ein Deckungsvorschlag gemacht werden und da steht lese ich denn hier, äh, eben [...]

Sprecher Herr O.

Ich nehme das jetzt als Rüge gegenüber Herrn K. vor. Ich sehe das genauso wie sie Herr P. und genauso wie der Landrat das eben gerade vorgenommen hat, ähm, und Herr K., ich bitte Sie, in der Zukunft auf ihre Wortwahl an der Stelle stärker zu achten. Ähm, wir haben jetzt an der Stelle damit dann auch das Thema abgeschlossen".

Mit Schreiben vom 7. Oktober 2020 teilte der Kläger dem Beklagten mit, dass er mit dem ihm erteilten Ordnungsruf nicht einverstanden sei und bat ihn u.a., diesen in der nächsten Kreistagssitzung als nicht rechtswirksam zurückzunehmen.

Mit Schreiben vom 18. Oktober 2020 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass er im Sinne einer Deeskalation zum Anfang der nächsten Sitzung alle Kreistagsabgeordneten bitten werde, künftig verstärkt auf ihre Wortwahl zu achten.

Am 22. Oktober 2020 hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben.

Zur Begründung dieser führt er u.a. das Folgende aus:

Der ihm in der Kreistagssitzung vom I. erteilte Ordnungsruf sei rechtswidrig, da keine in der Geschäftsordnung für den Kreistag des Landkreises H. genannte Voraussetzung zur Erteilung von Ordnungsrufen erfüllt sei. Der Ordnungsruf beeinträchtige ihn, den Kläger, bei der Erfüllung seines politischen Auftrags und der Wahrnehmung seiner politischen Rechte in unzulässiger Weise.

Weiterhin sei es willkürlich und verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, dass nur ihm, dem Kläger, ein Ordnungsruf erteilt worden sei. Anderen Kreistagsabgeordneten gegenüber sei ein solcher nicht ausgesprochen worden, obwohl diese ihn, den Kläger, in der Kreistagssitzung vom I. wie auch in vorangegangenen Kreistagssitzungen mehrfach scharf persönlich angegriffen hätten. Er, der Kläger, sei beispielsweise als "ein Fall für den Verfassungsschutz" betitelt worden.

Überdies habe die Kreisverwaltung nachweislich einen gravierenden Fehler begangen, als sie die jährliche Ausgabe von 330.000,00 Euro an die Stadt H. im Haushalt 2020 vergessen habe. Der Beschluss des Haushalts sei eines der zentralen Rechte des Kreistages, welches durch "Vergessen" großer Summen im Aufwandsbereich in Teilen verwirkt werde. Für diesen Fehler habe sich der Landrat politisch zu verantworten. Er, der Kläger, sei - auch wegen der vorherrschenden Kräfteverhältnisse im Kreistag - zu scharfer Kritik berechtigt gewesen. Diese Kritik an seinen Fehlern und Versäumnissen müsse der Landrat sich gefallen lassen. Eine Straftat habe er, der Kläger, damit nicht unterstellt. Es handele sich um seine politische Einschätzung. Statt ihm, dem Kläger, eine Rüge zu erteilen, hätte der Beklagte dies durch einfache Nachfrage klären können.

Außerdem sprächen im Einzelnen genannte Gründe dafür, dass der von ihm, dem Kläger, geäußerte Eindruck, wonach die Haushaltsgenehmigung erschlichen worden sei, zutreffend sei. Es liege nachweislich eine auffällige Häufung ähnlicher Ereignisse vor und es falle entsprechend schwer zu glauben, dass tatsächlich alles unbeabsichtigt erfolgt sei. Natürlich könne man die von ihm, dem Kläger, vorgenommene politische Einschätzung der Sachverhalte auch ablehnen und anders sehen. Er, der Kläger, beanspruche nicht, die Weisheit für sich gepachtet zu haben. Dennoch zeigten die Ausführungen, dass seine politische Einschätzung eine Berechtigung habe und durch die Meinungsfreiheit gedeckt sei.

Schließlich sei fraglich, ob die vom Landrat eingeräumte Nachlässigkeit bei der Haushaltsaufstellung tatsächlich besser sei, als beabsichtigtes verspätetes Vorbringen von Ausgabenposten.

Der Kläger beantragt,

festzustellen, dass der in der Kreistagssitzung vom I. ihm erteilte Ordnungsruf bzw. die Rüge des Beklagten rechtswidrig war.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er tritt der Klage entgegen. Die Klage habe keinen Erfolg. Soweit der Kläger sich gegen einen Ordnungsruf wende, fehle es bereits an einem tauglichen Klagegegenstand. Denn einen Ordnungsruf habe er, der Beklagte, dem Kläger nicht erteilt. Die dem Kläger erteilte Rüge sei hingegen rechtlich nicht zu beanstanden. Er, der Beklagte, leite als Vorsitzender des Kreistags, nach § 63 Abs. 1 NKomVG die Verhandlung, sorge für die Aufrechterhaltung der Ordnung und übe das Hausrecht aus. Der Kreistag des Landkreises H. habe sich auf Grundlage des § 69 NKomVG am 2. November 2016 eine Geschäftsordnung gegeben. In § 17 Abs. 1 der Geschäftsordnung sei bestimmt, dass persönliche Angriffe und Beleidigungen von dem Vorsitzenden sofort zu rügen seien. Der Kläger habe mit seinen Worten den Landkreis H. und den für ihn handelnden Landrat persönlich angegriffen und einer strafbaren Handlung bezichtigt. "Arglist" bedeute im juristischen Kontext, dass jemand vorsätzlich handele. "Erschleichen" bezeichne ein unredliches oder gar strafbares Verhalten. Hiergegen habe er, der Beklagte, im Wege einer Rüge einschreiten müssen. Die Rüge habe den Kläger nicht in seinen Rechten als Kreistagsabgeordneter verletzt oder beschränkt. Insbesondere habe diese keinen Einfluss auf das Rederecht des Klägers gehabt. Auf die Ausführungen des Klägers zum Haushaltsrecht komme es nicht an. Er, der Beklagte, habe nicht verkannt, dass in einer politischen Diskussion mitunter kräftige Worte benutzt würden. Die Freiheit des Redebeitrags habe ihre Grenze jedoch dort, wo die engagierte Argumentation, wie vorliegend, in persönliche Angriffe und Beleidigungen übergehe.

Mit Beschluss vom 7. April 2021 ist der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.

Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage im vorliegenden Kommunalverfassungsstreitverfahren ist unzulässig.

Sie ist zwar als Feststellungsklage i.S.d. § 43 Abs. 1 VwGO statthaft (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 27. Juni 2012 - 10 LC 37/10 -, Rn. 28, juris) und der Beklagte ist als Kreistagsvorsitzender, von dem die in Streit stehende Äußerung ausgegangen ist, auch passivlegitimiert (vgl. VG Neustadt (Weinstraße), Urteil vom 10. November 2015 - 3 K 1019/14.NW -, Rn. 39, juris).

Es fehlt dem Kläger aber an der notwendigen Klagebefugnis. Das Kommunalverfassungsstreitverfahren ist dadurch gekennzeichnet, dass Gemeindeorgane oder Organteile über Bestand und Reichweite zwischen- oder innerorganschaftlicher Rechte streiten. Eine Klage ist daher in entsprechender Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO nur zulässig, wenn es sich bei der geltend gemachten Rechtsposition um ein durch das Innenrecht eingeräumtes, dem klagenden Organ oder Organteil zur eigenständigen Wahrnehmung zugewiesenes wehrfähiges subjektives Organrecht handelt. Dabei ist zwar anerkannt, dass das durch einen förmlichen Ordnungsruf betroffene Kreistagsmitglied die Verletzung einer Rechtsposition innerorganschaftlicher Art geltend machen kann. Etwas anderes gilt allerdings im Falle eines formlosen Ordnungsrufes (z.B. Hinweis, Ermahnung, Rüge). Denn mit einem formlosen Ordnungsruf ist noch kein Eingriff in die Rechtsstellung des Kreistagsmitglieds verbunden. Dem Vorsitzenden, dem die Sitzungsleitung obliegt, ist es auf diese Weise ermöglicht, im Vorfeld einer rechtlich erheblichen Maßnahme steuernd auf die Ordnung in der Sitzung Einfluss zu nehmen, ohne sich in rechtliche Auseinandersetzungen verwickeln zu müssen. Dem Kreistagsmitglied kann ein Verzicht auf Rechtsbehelfe insoweit zugemutet werden, als er vor der Klarstellung, dass ein förmlicher Ordnungsruf erfolgt, in seinem Verhalten letztlich frei bleibt und nicht befürchten muss, aufgrund der Tatbestandswirkung des förmlichen Ordnungsrufs wegen wiederholt ordnungswidrigen Verhaltens von der Sitzung ausgeschlossen zu werden (§ 63 Abs. 2 Satz 1 NKomVG). Der förmliche Ordnungsruf mit seiner Feststellungs- und Warnfunktion stellt demgegenüber einen Eingriff in die Statusrechte des Kreistagsmitglieds dar. Dieses ist gezwungen, sich auf die Rechtsauffassung des Vorsitzenden einzustellen, will es nicht unwiederbringliche Nachteile im Hinblick auf seine Möglichkeit der weiteren Teilnahme und damit den Kern der Mandatsausübung in Kauf nehmen. Aus diesem Grund muss eine als förmlicher Ordnungsruf zu qualifizierende Maßnahme für das betroffene Kreistagsmitglied nach außen hin zweifelsfrei erkennbar sein; anderenfalls liegt nur ein formloser Ordnungsruf vor. Auf den inneren Willen des Vorsitzenden kommt es insoweit nicht an. Auch wenn der Vorsitzende sich nicht unbedingt der Worte "Ich rufe Sie zur Ordnung" bedienen muss, so muss er doch mit der erforderlichen Deutlichkeit zum Ausdruck bringen, dass das Kreistagsmitglied nicht nur unverbindlich ermahnt oder gerügt wird, sondern dass ein förmlicher Ordnungsruf erfolgt (vgl. zum Vorstehenden: VG Neustadt (Weinstraße), Urteil vom 10. November 2015 - 3 K 1019/14.NW -, juris; OVG RP, Urteil vom 29. November 1994 - 7 A 10194/94 -, juris; BVerfG, Beschluss vom 08. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374-383; s. auch Blum, in: Blum/Häusler/Meyer, NKomVG, § 63 Rn. 19).

Hieran fehlt es vorliegend. Weder der Sitzungsniederschrift vom I. noch dem vorgelegten Wortlautprotokoll lässt sich zweifelsfrei entnehmen, dass dem Kläger mit der ihm wörtlich erteilten "Rüge" ein förmlicher und nicht nur ein formloser Ordnungsruf erteilt wurde. Diese Zweifel teilte offenbar auch der Kläger selbst, als er in der nachfolgenden Kreistagssitzung ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 2. Dezember 2020 um Klarstellung gebeten hat,

"ob er eine Rüge oder einen Ordnungsruf erhalten habe".

Dass, worauf der Kläger in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat, § 17 der Geschäftsordnung des Kreistags des Landkreises H. mit "Verstöße" überschrieben ist, führt ebenfalls nicht zum Vorliegen eines - nach außen hin zweifelsfrei erkennbaren - förmlichen Ordnungsrufs des Beklagten. Denn ein formloser Ordnungsruf kann auch ausgesprochen werden, wenn der Vorsitzende des Kreistags von einem - in der Regel weniger schwerwiegenden - (Ordnungs-)Verstoß des Kreistagsmitglieds ausgeht (vgl. Blum, in: Blum/Häusler/Meyer, NKomVG, § 63 Rn. 19). Im Übrigen ist aber auch nicht zu ersehen, dass der Beklagte sein Handeln in der Sitzung nach außen erkennbar auf diese Vorschrift gestützt hat.

Ob die Klage auch aus anderen Gründen unzulässig ist, bedarf daneben keiner Vertiefung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Gründe für eine Zulassung der Berufung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 4 i.V.m. § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO) liegen nicht vor.