Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 02.04.2004, Az.: 2 B 1229/04

Antragsgegner; Geschäftsordnung; Informationspflicht; Klagebefugnis; Kommunalverfassungsstreit; Mitgliedschaftsrecht; Rechtsmissbrauch

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
02.04.2004
Aktenzeichen
2 B 1229/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 50550
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Geltendmachung der Verletzung des Rechts auf angemessene Information zu einem Tagesordnungspunkt der Ratssitzung im Wege des Kommunalverfassungsstreits setzt voraus, dass das Ratsmitglied seine Frage- und Antragsrechte ausgeschöpft hat.

2. Die Verletzung von Vorschriften über den ordnungsgemäßen Ablauf der Sitzung begründet keine Antrags-und Klagebefugnis im Kommunalverfassungsstreit.

Gründe

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Der Antrag des Antragstellers, mit dem dieser sinngemäß beantragt, den Antragsgegnern im Wege einer einstweiligen Anordnung im Kommunalverfassungsstreitverfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO zu untersagen, bis zur abschließenden Klärung der Rechtsmäßigkeit der Beschlüsse des Rates der Stadt Wilhelmshaven vom 5. März 2004 zu den Vorlagen 41/2004 (Grundsatzvereinbarung zwischen dem Land Niedersachsen und der Stadt Wilhelmshaven) und 42/2004 (Kooperationsvertrag zwischen dem Land Niedersachsen und der Stadt Wilhelmshaven) im Hauptsacheverfahren ( 2 A 1228/04 ) weitere Maßnahmen aus den genannten Beschlüssen einzuleiten, hat keinen Erfolg.

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Der in § 42 Abs. 2 VwGO für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen getroffenen Regelung entsprechend, ist im Kommunalverfassungsstreitverfahren nur klage- bzw. antragsbefugt, wer die Möglichkeit der Verletzung eigener Kommunalverfassungsrechte geltend machen kann ( OVG Lüneburg, Urteil vom 15. November 1966 - II OVG A 61/66 -, OVGE 22,508; Beschluss vom 22. Juni 1988 - 2 OVG B 55/88 -; Thiele, NGO, 5. Auflage 1999, § 47 Anm. 5). Danach kann ein Ratsmitglied einen Beschluss des Gemeinderats im organinternen Kommunalverfassungsstreit nur mit der Behauptung angreifen, dass der beanstandete Beschluss wegen Verletzung seiner eigenen Mitgliedschaftsrechte rechtswidrig ist (OVG Lüneburg, Beschluss vom 22. Juni 1988, aaO., mwN.). Eine Klage und ein Antrag auf Feststellung einer allein objektiv-rechtlichen Überschreitung oder Unterschreitung von Kompetenzen eines Organs, die nicht dem weiteren Erfordernis genügt, dass das Ratsmitglied durch rechtswidriges Organhandeln in einer ihm gesetzlich eingeräumten Rechtsposition verletzt sein kann, bleibt auch im Gewand des kommunalverfassungsrechtlichen Organstreits eine unzulässige Popularklage bzw. ein unzulässiger Popularantrag; eine lediglich mittelbare Betroffenheit ist grundsätzlich nicht geeignet, eine Klage- oder Antragsbefugnis zu begründen ( vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Dezember 1988 - 7 B 208.87 -, NVwZ 1989, 470; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 25. März 1999 - 1 S 2059/98 -, VBlBW 1999, 305 f. [VGH Baden-Württemberg 19.05.1999 - 4 S 1138/99]). Ratsmitglieder können sich im Wege eines kommunalverfassungsrechtlichen Organstreits auch nicht unter Berufung auf das Demokratieprinzip gegen Eingriffe anderer Gemeindeorgane in Ratszuständigkeiten zur Wehr setzen, ohne dass eigene Mitgliedschaftsrechte verletzt sind (BVerwG, Beschluss vom 7. Januar 1994 - 7 B 224.93 -, NVwZ-RR 1994, 352).

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Es bestehen bereits ernsthafte Zweifel, ob der Antragsteller den geltend gemachten Anspruch gegen die Antragsgegnerin zu 1), die Stadt Wilhelmshaven, verfolgen kann. Denn im Kommunalverfassungsstreitverfahren ist die Klage oder ein Antrag gegen das Organ bzw. den Funktionsträger zu richten, der die Rechtsverletzung begangen haben soll, und nicht gegen die rechtsfähige juristische Person, der das Organ angehört (Nds. OVG, Urteil vom 4. August 1994 - 10 L 5985/92 -, NVwZ-RR 1995, 215 [BVerwG 01.12.1994 - BVerwG 7 B 146/94]; Wefelmeier, in KVR-NGO, Stand Mai 2003, § 39 Rdnr. 33). Zwar will der Antragsteller im Wege einer Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO verhindern, dass die Antragsgegnerin zu 1) die angegriffenen Ratsbeschlüsse durch weitere Maßnahmen umsetzt. Unmittelbare Rechte gegen die Antragsgegnerin zu 1) dürften ihm aber nicht zustehen, da die beanstandeten Beschlüsse vom Rat der Antragsgegnerin zu 1) gefasst worden sind und sich somit allenfalls Antragsbefugnisse für Organstreitverfahren zwischen dem Antragsteller und dem Rat der Stadt Wilhelmshaven bzw. dem Vorsitzenden des Rates, dem der Antragsteller eine rechtswidrige Behandlung der Ratsvorlagen vorwirft, und dem Oberbürgermeister, dem er eine unzureichende Vorbereitung der Ratssitzung anlastet, ergeben könnten. Eine Antragsbefugnis könnte sich dem gemäß statt für einen Antrag gegen die Stadt Wilhelmshaven für einen Antrag gegen den Rat der Stadt Wilhelmshaven ergeben. Dadurch würde der Antragsteller keine Rechtsnachteile erleiden, weil bei Anordnung der von ihm begehrten Aussetzung des Vollzugs der umstrittenen Ratsbeschlüsse der Oberbürgermeister verpflichtet wäre, von Maßnahmen zur Ausführung der Beschlüsse abzusehen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 27. April 1989 - 10 M 13/89 -, DVBl. 1989, 937 f.). Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass der Antragsteller die Antragsgegnerin zu 1) nur falsch bezeichnet hat und sich der Antrag in Wahrheit (auch) gegen den Rat der Stadt Wilhelmshaven richten sollte, zumal es sich insofern um eine nicht einfach zu beurteilende prozessrechtliche Frage handelt. Unter diesen Umständen käme entweder eine Umdeutung oder ein entsprechender gerichtlicher Hinweis nach § 86 Abs.3 VwGO in Betracht. Dem musste aber nicht weiter nachgegangen werden, weil der Antrag auch dann, wenn er gegen den Rat der Stadt Wilhelmshaven gerichtet wäre, in der Sache keinen Erfolg hätte (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 27. April 1989, aaO.).

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Soweit der Antragsteller die Rechtswidrigkeit der Ratsbeschlüsse vom 5. März 2004 zu den Ratsvorlagen 41 und 42/2004 (Tagesordnungspunkte 2.2. und 2.3) aus deren geschäftsordnungswidrigem Einbringen in die Ratssitzung und deren Diskussion zum Tagesordnungspunkt 2.1 (Strukturkonzept über die zukünftige Entwicklung der Grodenflächen und Teilflächen des Sengwarder Landes - Ratsvorlage 200/2003) herzuleiten versucht, gilt hinsichtlich der Antragsbefugnis Folgendes:

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Die vom Antragsteller in Bezug genommenen §§ 6 und 17 der Geschäftsordnung des Rates sind reine Ordnungsvorschriften und begründen keine eigenen Mitgliedschaftsrechte der Ratsmitglieder, deren Verletzung im Wege einer kommunalen Verfassungsstreitigkeit erfolgreich gerügt werden könnten. Die Vorschriften über die „Ordnung in den Sitzungen“ und über die „Vorbereitung der Ratsbeschlüsse“ (§§ 17 Abs. 1 und 6 Abs. 3 Geschäftsordnung des Rates - GOR -), deren Verletzung der Antragsteller rügt, dienen vielmehr dem (formell) ordnungsgemäßen Ablauf der Ratssitzung. Sollte der Ratsvorsitzende insbesondere entgegen § 6 Abs. 3 GOR eine Diskussion der Ratsvorlagen 41 und 42/2004 zugelassen haben, ohne dass diese Beschlussvorlagen vom Vorsitzenden oder Sprecher des betreffenden Fachausschusses bzw. des Verwaltungsausschusses zuvor vorgetragen wurden, ergäbe sich daraus keine Verletzung von Mitgliedschaftsrechten des Antragstellers. Ein Beanstandungsrecht hätte allenfalls der Vorsitzende oder Sprecher des betreffenden Ausschusses. Ob eine solche Beanstandung überhaupt die Unwirksamkeit eines nachfolgenden Ratsbeschlusses nach sich ziehen würde, bedarf hier keiner Klärung.

6

Soweit der Antragsteller geltend macht, er sei zu den Tagesordnungspunkten 2.2 und 2.3 (Ratsvorlagen 41 und 42/2004) spät und nur unzureichend informiert worden und deshalb nicht in der Lage gewesen, das Ausmaß der Entscheidungen zu erfassen, ist die Antragsbefugnis gegeben. Insoweit kommt die Verletzung eigener Mitgliedschaftsrechte des Antragstellers in Betracht. Zu den Mitgliedschaftsrechten des Ratsmitglieds zählt auch das Recht auf ausreichende und rechtzeitige Information vor Beratung und Entscheidung über die jeweilige Angelegenheit (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. August 1985 - 2 OVG B 46/85 -). Zur Ausübung des Rechts auf das freie Mandat im Rahmen der Gesetze (§ 39 Abs.1 NGO) gehört nicht nur ein Teilnahmerecht, die Ausübung des Rede- und Antragsrechts, das Teilnahmerecht an der Beschlussfassung und ein Fragerecht. Um eine verantwortungsvolle und dem Auftrag entsprechende sachgerechte Behandlung der auf der Tagesordnung stehenden Themen durch die Gemeindevertreter zu ermöglichen, muss ihnen der Weg zu einer vorherigen inhaltlichen Befassung mit den Angelegenheiten eröffnet werden, was eine vorherige Information durch die Verwaltung voraussetzt. Denn nur so kann sich das Ratsmitglied vor einer Beschlussfassung über die einzelnen Beratungsgegenstände hinreichend kundig machen ( OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 20.Mai 1998 - 2 M 66/98 -, DÖV 1998, 1014 f.; vgl. auch Hess. VGH, Beschluss vom 29. März 2000 - 8 TZ 815/00 -, NVwZ 2001, 345 f. [VGH Baden-Württemberg 25.07.2000 - 4 S 1587/98]). Die Verpflichtung der Ratsmitglieder, ihre Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen unter Beachtung der Gesetze zu erfüllen (§ 42 Satz 1 NGO), setzt das Vorhandensein dieses Wissens voraus. Zu seiner Vermittlung steht insbesondere der Bürgermeister mit seiner Verwaltung zur Verfügung. Er muss deshalb als verpflichtet angesehen werden, im Rahmen der anstehenden Beratungen und Entscheidungen (aber auch sonst, vgl. § 40 Abs. 3 Satz 2 und 3 NGO, hierzu Thiele, aaO., § 40 Anm. 4) Auskünfte zu erteilen und Fragen zu beantworten (Thiele, aaO., § 42 Anm. 3).

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Ob die Informationspflicht zu den Tagesordnungspunkten 2.2. und 2.3 der Ratssitzung vom 5. März 2004 im oben dargelegten Sinne durch den Oberbürgermeister - insbesondere hinsichtlich der den Ratsmitgliedern zur Verfügung stehenden Einarbeitungszeit - hinreichend erfüllt wurde, mag angesichts der Äußerungen des Ersten Stadtrats zweifelhaft sein. Dieser wies nämlich in der Ratssitzung darauf hin, dass der zeitliche Vorlauf „für eine solche Vorlage sicherlich etwas kurz“ gewesen sei. Man stehe aber „mit dem Hafen unter einem enormen Zeitdruck“. Die Termine, zu denen etwas zu passieren habe, seien „festgeklopft, zum Beispiel auch der Termin am 8. März“. An dem Termin werde der Minister diesen Vertrag unterschrieben wollen, und deswegen habe man es für richtig gehalten, innerhalb dieser kurzen Frist diese Vorlage vorzulegen. Die Äußerung des Ersten Stadtrats wird indessen dadurch relativiert, dass er zum einen die vorangegangene Frage des Antragstellers zur Tischvorlage, insbesondere zu Gesellschaftsformen und Umbenennungen von Gesellschaften, inhaltlich beantwortete; zum anderen legte er dar, dass es sich bei den fraglichen Vereinbarungen zwischen dem Land Niedersachsen und der Stadt Wilhelmshaven im Wesentlichen um Absichtserklärungen handele und dass über die „konkreten Schritte“ mit den „kostenmäßigen Auswirkungen und den Gesellschaftsanteilen“ „selbstverständlich“ in nachfolgenden Sitzungen des Rates und der Ausschüsse noch entschieden werde. Das gelte auch für einzelne öffentlich-rechtliche Planungsschritte, die Inkommunalisierung und die einzelnen Bauleitverfahren. Der Wortlaut der Begründungen der Beschlussvorlagen einschließlich der Tischvorlage wie auch der Kooperationsvertrag vom 8. März 2004 bestätigen diese Einschätzung. Mit den zur Abstimmung gelangten Ratsbeschlüssen sollten offensichtlich keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden, sondern ein Handlungskonzept, auf dessen Grundlage das Land Niedersachsen und die Stadt Wilhelmshaven ihre weiteren, durch die zuständigen Gremien noch zu beschließenden Schritte einleiten konnte. Vor diesem Hintergrund ist ein Verstoß gegen das Informationsrecht des Antragstellers im Sinne einer Verletzung seiner kommunalverfassungsrechtlichen Mitgliedschaftsrechte nicht zu besorgen. Anhand der vorliegenden Unterlagen war der Antragsteller angesichts der weitgehend von Absichtserklärungen geprägten Vereinbarungen selbst unter Berücksichtigung der zeitlichen Komponente (noch) in die Lage versetzt, nach bestem Wissen und Gewissen eine verantwortbare Entscheidung über die Ratsvorlagen zu treffen. Mag auch - wie von der Verwaltung in der Ratssitzung selbst zum Ausdruck gebracht - ein längerer zeitlicher Vorlauf wünschenswert gewesen sein, ein kommunalverfassungsrechtlich relevanter Verstoß gegen Mitgliedschaftsrechte des Antragstellers ist jedenfalls nicht festzustellen.

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Dies gilt überdies auch aus einem weiteren Grund, weil der Antragsteller die Möglichkeit gehabt hätte, durch (weitere) gezielte Fragen oder einen Vertagungsantrag (§ 9 Abs. 1 lit. c GOR) die Angelegenheit einer eingehenderen Aufklärung zuzuführen. Von diesen Möglichkeiten hat der Antragsteller keinen ausreichenden Gebrauch gemacht. Das geht zu seinen Lasten. Zwar können - wie oben ausgeführt - die Verpflichtungen eines Ratsmitglieds nur dann verantwortlich ausgeübt werden, wenn der Einzelne vor der Abstimmung zur Sache ein Mindestmaß an Informationen erhält. Ist dies nicht sichergestellt, so kann es bereits an der Beschlussfähigkeit des Rates fehlen (OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. August 1985 - 2 OVG B 46/85 -). Daran ändert auch nichts, wenn eine Mehrheit bei der Abstimmung über einschlägige Geschäftsordnungsanträge zu der Ansicht gelangt, die Angelegenheit bedürfe nicht der weiteren Aufklärung, und daraufhin zur Sache entscheidet. Mehrheitsbeschlüsse, die eine weitere Sachaufklärung oder Beratung ablehnen, müssen von der Minderheit, die nach demokratischen Grundsätzen unterlegen ist, nur dann hingenommen werden, wenn jedenfalls ein Mindestmaß an Information und Beratung entsprechend der Bedeutung der jeweiligen Angelegenheit stattgefunden hat (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. August 1985, aaO.). Auf der anderen Seite handelt ein Ratsmitglied rechtsmissbräuchlich, wenn es sein vermeintlich verletztes Recht auf ein Mindestmaß an sachlicher Information nicht vor der beanstandeten Beschlussfassung des Gremiums durch umfassende Ausschöpfung seiner Frage- und Antragsrechte geltend macht, sondern das Gremium quasi sehenden Auges eine Sachentscheidung treffen lässt, um sie anschließend anzufechten. In diesem Sinne ist dem Antragsteller anzulasten, dass er die nunmehr geltend gemachten Informationslücken lediglich durch marginale Fragestellungen in der Ratssitzung vom 5. März 2004 zu beheben versuchte (vgl. auch OVG Lüneburg, Urteil vom 11. Oktober 1960 - V A 80/60 -, DÖV 1961, 548 f., wonach eine mit Zustimmung eines Ratsmitglieds getroffene Entscheidung von diesem nicht nachträglich mit der Begründung angefochten werden kann, die Entscheidung sei rechtswidrig).