Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 31.10.2016, Az.: 10 B 6264/16

Abschiebungsanordnung; Belgien; Dublin III VO; Non refoulement

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
31.10.2016
Aktenzeichen
10 B 6264/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 43488
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Es begründet keine systemischen Mängel des Asylsystems eines Mitgliedsstaats, wenn endgültig abgelehnte Asylbewerber keine staatlichen Leistungen, Unterkunft oder medizinische Versorgung erhalten.
2. Das Gebot des Non-Refoulement wird nicht durch eine drohende Kettenabschiebung verletzt, wenn der Mitgliedsstaat ein Schutzgesuch nach Maßgabe der Qualifikationsrichtlinie geprüft und einen Anspruch auf internationalen Schutz verneint hat.

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die Anordnung ihrer Abschiebung nach Belgien im Rahmen eines sog. Dublin-III-Verfahrens.

Die Antragsteller sind nach eigenen Angaben ruandische Staatsangehörige; der Antragsteller zu 1. ist Vater der Antragsteller zu 2.) bis 4.). Sie reisten ebenfalls nach eigenen Angaben des Antragstellers zu 1.) am 28. Juli 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 19. August 2016 einen Asylantrag.

In seiner Anhörung vor dem Bundesamt der Antragsgegnerin gab der Antragsteller zu 1.) an, er habe Ruanda erstmals 2003 verlassen und sei zunächst nach Uganda gezogen. Dort sei sein ältestes Kind geboren. Von Uganda aus sei er nach sechs Jahren nach Belgien gereist, wo seine zwei jüngeren Kinder geboren worden seien. Er habe dort am 22. September 2009 erfolglos Asyl beantragt. Neue Gründe und Beweismittel, die er im dortigen Verfahren nicht habe vorbringen können, gebe es nicht. Zu einer zweiten Anhörung, die für den 22. September 2016 geladen war, erschienen die Antragsteller nicht, ohne Hinderungsgründe mitzuteilen.

Die Überprüfung der Fingerabdrücke des Antragstellers im EURODAC-System ergab, dass der Antragsteller zu 1.) am 21. September 2009 und am 17. Dezember 2013 in Belgien Asyl beantragt hatte und jeweils erkennungsdienstlich behandelt worden war. Das Bundesamt richtete daher unter dem 26. September 2016 ein Übernahmeersuchen an Belgien. Die belgischen Behörden erklärten sich unter dem 3. Oktober 2016 zur Wiederaufnahme der Antragsteller bereit.

Auch zu einer persönlichen Befragung vor dem Bundesamt, die für den 20. Oktober 2016 geladen war, erschienen die Antragsteller nicht. Mit Bescheid vom 21. Oktober 2016 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Antragstellers als unzulässig ab, ordnete ihre Abschiebung nach Belgien an und befristete das gesetzliche Wiedereinreiseverbot auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung.

Am 24. Oktober 2016 haben die Antragsteller Klage erhoben – 10 A 6262/16 – und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.

Zur Begründung ihrer Klage und des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz macht der Antragsteller zu 1.) geltend, dass er nicht persönlich angehört worden sei. Er sei bei den Anhörungsterminen immer durch Arzttermine verhindert gewesen. Die Abschiebung nach Belgien sei rechtswidrig. Nach dem (negativen) Abschluss seines Asylverfahrens in Belgien sei er obdachlos gewesen und habe keine staatlichen Hilfen erhalten. Er sei HIV-positiv und bekomme in Belgien keine ärztliche Unterstützung. Er befürchte außerdem eine Kettenabschiebung von Belgien nach Ruanda. In Ruanda drohe ihm eine unmenschliche Behandlung, weil er gegen die dortige Regierung opponiere.

Die Antragsteller beantragen,

die aufschiebende Wirkung ihrer zum Aktenzeichen 10 A 6262/16 erhobenen Klage gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 21. Oktober 2016 ausgesprochene Abschiebungsanordnung anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid,

den Antrag abzulehnen.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

Die Entscheidung ergeht aufgrund von § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter.

I. Der Antrag ist zulässig. Er ist gemäß § 34 a Abs. 2 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, soweit sich die Klage gegen die unter Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides angeordnete Abschiebung der Antragsteller nach Belgien richtet, und innerhalb der gesetzlichen Frist von einer Woche ab Bekanntgabe des Bescheides gestellt worden.

II. Der Antrag ist jedoch nicht begründet. Das Aussetzungsinteresse der Antragsteller überwiegt nicht das öffentliche Interesse am Vollzug der Abschiebungsanordnung. Bei summarischer Prüfung bestehen in der Hauptsache keine Erfolgsaussichten, denn der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 21. Oktober 2016 begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Die Anordnung der Abschiebung der Antragsteller nach Belgien beruht auf § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Dublin III-VO –, die nach Art. 49 Abs. 2 anwendbar ist, da der Antrag auf internationalen Schutz nach dem 1. Januar 2014 gestellt worden ist.

Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.

Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Zuständigkeit Belgiens für den neuerlichen Asylantrag der Antragsteller ist nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO begründet worden, weil die Kläger zuerst in Belgien die Außengrenzen der Europäischen Union überschritten haben. Diese Zuständigkeit besteht auch nach Abschluss des Asylverfahrens in Belgien fort. Belgien ist daher gem. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin III-VO zur Wiederaufnahme der Antragsteller und zur Bearbeitung ihres weiteren Asylantrags verpflichtet. Zudem hat Belgien mit Schreiben vom 3. Oktober 2016 gegenüber dem Bundesamt die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers ausdrücklich anerkannt. Eine solche Erklärung würde entsprechend Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO selbst dann zuständigkeitsbegründend wirken, wenn nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO ein anderer Mitgliedstaat zuständig gewesen wäre.

Die Überstellung an Belgien als den zuständigen Mitgliedstaat ist möglich; insbesondere besteht keine Verpflichtung der Antragsgegnerin, gem. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO die Prüfung fortzusetzen, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Eine solche Pflicht zur Prüfung oder zum Selbsteintritt gem. Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO setzt voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Belgien systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen.

Solche Schwachstellen haben weder die Antragsteller substantiiert vorgetragen, noch sind sie sonst ersichtlich. Das nicht weiter spezifizierte Vorbringen der Antragsteller, sie hätten als endgültig abgelehnte Asylbewerber in Belgien keine Unterkunft, kein Essen und keine medizinische Versorgung erhalten, begründet keine hinreichenden Anhaltspunkte für systemische Schwachstellen im belgischen Asylsystem.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt entschieden, dass Artikel 3 EMRK die Vertragsparteien nicht allgemein dazu verpflichtet, jedem in ihrem Hoheitsgebiet ein Zuhause zur Verfügung zu stellen oder Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, Urteile vom 18.1.2001 (Große Kammer) – Nr. 27238/95, Chapman –, ECHR 2001-1 Rn. 99; vom 26.4.2005 – Nr. 53566/99, Müslim –, Rn. 85; und vom 21.1.2011 – Nr. 30696/09, M. S. S. – Rn. 249).

Zwar hat der Gerichtshof zugleich betont, dass Asylsuchende als Angehörige einer besonders unterprivilegierten und verletzlichen Bevölkerungsgruppe besonderen Schutzes bedürfen und Art. 3 EMRK verletzt wird, wenn sie in einer Situation extremer materieller Armut und vollkommener Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung der Betroffene in einer Lage schwerwiegender Entbehrungen oder Not, die nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist, mit behördlicher Gleichgültigkeit konfrontiert werden (vgl. EGMR, Entscheidung vom 18.6.2009 – Nr. 45603/05, Budina –). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Verpflichtung, Asylsuchenden Unterkunft und anständige materielle Bedingungen zu gewähren, Bestandteil des positiven Rechts geworden und die Behörden gehalten sind, ihre eigene Gesetzgebung zu befolgen, und ein dahingehendes Unterlassen es dem Betroffenen unmöglich macht, diese Rechte in Anspruch zu nehmen und für seine grundlegenden Bedürfnisse zu sorgen. Solche bindenden rechtlichen Vorgaben enthält die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180/96 - Aufnahmerichtlinie), die die zuvor gültig gewesene Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 (ABl. L 31/18) ersetzt hat. Die genannten Richtlinien haben Minimalstandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten festgelegt. Hier sind die konkreten Anforderungen an die festzustellende Schwere der Schlechtbehandlung niedriger anzusetzen.

Als endgültig abgelehnte Asylbewerber fallen die Antragsteller jedoch nicht in den Anwendungsbereich der Aufnahmerichtlinie. Soweit Art. 17 die allgemeinen Bestimmungen zu materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme und zu medizinischen Versorgung regelt, beschränkt sich der Anwendungsbereich auf „Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme“ (Abs. 1). Ein „Antragsteller“ ist nach der Begriffsbestimmung in Art. 2 Buchst. b jedoch nur ein solcher Drittstaatsangehörige oder Staatenloser, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck der Aufnahmerichtlinie. Sie bezweckt die unionsweite Gleichbehandlung von Antragstellern in allen Phasen und in allen Arten von Verfahren, die Anträge auf internationalen Schutz betreffen (Erwägungsgrund 8). Die Lebensverhältnisse endgültig abgelehnter Asylsuchender betreffen demgegenüber nicht mehr das asylrechtliche Verfahren im eigentlichen Sinn, sondern ausschließlich noch den materiellen Status von Ausreisepflichtigen.

Der Verlust des Anspruchs auf staatliche Leistungen stellt sich jedenfalls in einem solchen Fall nicht als eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 26. Februar 2014 – 13 L 171/14.A –, juris Rn. 40). Das zeigt auch schon die Wertung, welche in Art. 41 Abs. 1 Buchstabe b der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie n.F.) zum Ausdruck kommt. Danach können die Mitgliedstaaten Ausnahmen vom Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet machen, wenn eine Person nach einer bestandskräftigen Entscheidung, einen ersten Folgeantrag gemäß Artikel 40 Abs. 5 als unzulässig zu betrachten oder als unbegründet abzulehnen, in demselben Mitgliedstaat einen weiteren Folgeantrag stellt. Ist es demnach möglich, einer beständigen Wiederholung von Folgeanträgen durch die Ausweisung des Asylbewerbers zu begegnen, so begegnet es keinen Bedenken, die "Versorgung einzustellen", wenn der Ausreisepflichtige dieser Verpflichtung nicht nachkommt. Dies gilt mit Blick auf Belgien umso mehr, als abgelehnten Asylbewerbern in der Regel nach der Ablehnung des Asylantrags eine Rückkehrbegleitung angeboten wird (vgl. aida, Asylum Information Database, National Country Report Belgium, Stand Dezember 2015, S. 59).

Ob dies in einem Fall, in dem nach der letzten Ablehnung eines Asylantrags asylerheblich neue Umstände eintreten oder der Asylbewerber in der Lage ist – erst jetzt – weitere asylerhebliche Angaben vorzubringen, anders zu sehen wäre, bedarf hier keiner Entscheidung, da solche Umstände nach Angabe der Antragsteller nicht vorliegen und auch sonst nicht ersichtlich sind.

Soweit die Antragsteller geltend machen, Belgien könne sie im Wege der Kettenabschiebung nach Ruanda abschieben, wo ihnen Verfolgung drohe, kann auch dieser Einwand keine systemischen Mängel im Asylverfahren Belgiens begründen. Dort ist bereits eine Prüfung ihres Schutzgesuchs nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie – QRL –) durchgeführt worden. Die belgischen Behörden sind dabei offenbar zu dem Ergebnis gelangt, dass eine solche Furcht vor Verfolgung nicht begründet ist. In dieser Situation eine Abschiebung nach Ruanda vorzusehen, ist nicht zu beanstanden und verstößt insbesondere nicht gegen das Gebot des Non-refoulement. Dies gilt, zumal es den Antragstellern grundsätzlich freisteht, auch in Belgien um Rechtsschutz nachzusuchen oder ggf. einen (weiteren) Folgeantrag zu stellen. Dass der Antragsteller zu 1.) geltend macht, er habe nach Ablehnung des Asylantrags jahrelang in Belgien ohne Unterstützung gelebt, lässt eine Abschiebung nach Ruanda im Übrigen als wenig wahrscheinlich erscheinen. Schließlich bleibt dem Antragsteller eine freiwillige Ausreise nach Uganda, wo er nach eigenen Angaben mehrere Jahre mit einem Aufenthaltstitel gelebt und gearbeitet hat.

Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Antragsgegnerin veranlassen könnten oder im Einzelfall verpflichten würden, ihr Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, haben die Antragsteller weder substantiiert vorgetragen noch sind sie sonst erkennbar. Soweit der Antragsteller zu 1.) auf eine HIV-Infektion hinweist, ist diese weder ärztlich belegt und hinsichtlich ihrer Behandlungsbedürftigkeit einschätzbar, noch hat der Antragsteller zu 1.) sie im Zusammenhang mit seiner Reisefähigkeit vorgebracht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).