Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 31.01.2012, Az.: 8 K 196/10
Notwendigkeit der Durchführung einer einkommensteuerrechtlichen Amtsveranlagung beim Übersteigen der negativen Summe der Nebeneinkünfte über einen Betrag von 410 €
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 31.01.2012
- Aktenzeichen
- 8 K 196/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2012, 18694
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2012:0131.8K196.10.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BFH - 17.01.2013 - AZ: VI R 32/12
Rechtsgrundlage
- § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG
Amtlicher Leitsatz
Betragen neben Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit die Überschüsse der Werbungskosten über die Mieteinnahmen mehr als 410 EUR, ist für die Jahre 2002 bis 2004 innerhalb der Festsetzungsfrist eine Amtsveranlagung durchzuführen.
Tatbestand
Streitig ist, ob noch Einkommensteuerveranlagungen durchzuführen sind.
Der Kläger erzielt als Lebensmitteltechniker Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Daneben erzielte er nach den Angaben in seinen Einkommensteuererklärungen, die am 28.12.2009 beim Finanzamt eingingen, Überschüsse der Werbungskosten über die Mieteinnahmen aus der langfristigen Vermietung der Doppelhaushälfte in S. 2002 in Höhe von 2.833 €, 2003 in Höhe von 2.348 € und 2004 in Höhe von 2.030 €. Mit Bescheiden vom ... lehnte der Beklagte die Durchführung von Einkommensteuerveranlagungen ab, weil seiner Auffassung nach für die Streitjahre bereits Festsetzungsverjährung eingetreten war.
Der Kläger legte unter Hinweis auf das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 25.4.2007 2 K 379/04 Einspruch ein. Er vertrat die Auffassung, dass Festsetzungsverjährung für das Jahr 2002 erst mit Ablauf des Jahres 2009 eingetreten wäre.
Mit Einspruchsbescheid vom ... wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Der Beklagte legte dar, dass durch das Jahressteuergesetz 2007§ 46 Abs. 2 Nr.1 EStG zur Klarstellung dahingehend geändert worden sei, dass eine Pflichtveranlagung nur dann durchzuführen sei, wenn die Summe der nicht dem Steuerabzug unterliegenden Einkünfte positiv sei. Diese Änderung sei nach § 52 Abs. 55 j EStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes auch für Veranlagungszeiträume vor 2006 anzuwenden.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage. Der Kläger wiederholt im Wesentlichen das Vorbringen des Vorverfahrens. Er ist der Auffassung, dass er nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteil vom 21.9.2006 VI R 52/04, BStBl II 2007,45) einen verfestigten Anspruch dahingehend gehabt habe, dass eine Amtsveranlagung durchgeführt werde. Dieser Anspruch sei ihm, wie das Niedersächsische Finanzgericht mit Urteil vom 25.4.2007 2 K 379/04 (EFG 2007,1878) entschieden habe, auch nicht durch die Änderung des § 46 Abs. 2 Nr.1 EStG durch das Jahressteuergesetz 2007 und die Anwendungsregelung des § 52 Abs. 55 j EStG entzogen worden.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, Einkommensteuerveranlagungen unter Berücksichtigung der eingereichten Einkommensteuererklärungen durchzuführen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält an dem Vorbringen des Vorverfahrens fest.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Gerichts- und Steuerakten.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Das Finanzamt ist verpflichtet, gemäß § 46 Abs. 2 Nr.1 EStG in der in den Streitjahren gültigen Fassung den Kläger unter Berücksichtigung der vorgelegten Einkommensteuererklärungen zur Einkommensteuer zu veranlagen, denn die Einkünfte des Klägers, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, betrugen jeweils mehr als 410 €. Daher sind die Veranlagungen von Amts wegen durchzuführen.
Mit Urteilen vom 21.9.2006 VI R 52/04 (BStBl II 2007/45) vom 29.11.2006 VI R 14/06 (BStBl II 2007,149) hat der BFH entschieden, dass eine Veranlagung von Amts wegen auch dann durchzuführen ist, wenn die negative Summe der Nebeneinkünfte den Betrag von 410 € übersteigt (vgl. auch BFH-Urteil vom 15.1.2009 VI R 23/08, BFH/NV 2009,755). Danach hat der Kläger im vorliegenden Fall einen Anspruch auf Abgabe der Einkommensteuererklärungen innerhalb der Festsetzungsfrist und Durchführung der Amtsveranlagungen erworben, denn seine negativen Nebeneinkünfte aus der langjährigen und damit zu berücksichtigenden Vermietung der Doppelhaushälfte betrugen jährlich mehr als 2.000 €. Dieser Anspruch ist nämlich bereits mit Ablauf der jeweiligen Kalenderjahre und nicht erst mit Abgabe der Einkommensteuererklärungen entstanden und nicht durch Festsetzungsverjährung erloschen.
Die Rechtslage ist - wie das Niedersächsische Finanzgericht mit Urteil vom 25.4.2007 2 K 379/04 (EFG 2007,1878) überzeugend dargelegt hat, für die Streitjahre nicht durch das Jahressteuergesetz 2007 wirksam geändert worden. Zwar hat der Gesetzgeber die Vorschrift des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG inzwischen dahingehend geändert, dass nur weitere positive Einkünfte von mehr als 410 € zu einer Amtsveranlagung führen, diese Änderung des Einkommensteuergesetzes wirkt jedoch nicht auf die Streitjahre zurück.
Nach § 52 Abs. 55j EStG, der ebenfalls durch das Jahressteuergesetz 2007 eingefügt worden ist, ist zwar § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2007 "auch auf Veranlagungszeiträume vor 2006 anzuwenden". Diese Regelung erstreckt sich bei verfassungskonformer Auslegung aber nicht auf die Streitjahre. Erfasst werden nach dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck der Anwendungsvorschrift nur Veranlagungsjahre, bei denen durch die Neufassung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG nicht nachträglich die Möglichkeit zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung entfällt. Der Gesetzgeber hat nur eine "Klarstellung" der Vorschrift in den Mittelpunkt seiner Gesetzgebungsinitiative gerückt. Eine Absicht, darüber hinaus den Steuerpflichtigen auch bereits bestehende Ansprüche auf Veranlagung entziehen zu wollen, lässt sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Gesetzgebungsverfahren ableiten. Im Streitfall besteht daher weiterhin die Verpflichtung des FA, den Kläger zur Einkommensteuer zu veranlagen.
Eine andere Auslegung des Wortlauts des § 52 Abs. 55j EStG käme aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht in Betracht. In allen Fällen mit negativen Einkünften des Steuerpflichtigen von mehr als 800 DM (410 €) neben den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit handelte es sich nach der Gesetzesfassung bis zur Änderung durch das Jahressteuergesetz 2007 um Fälle der so genannten Amtsveranlagung. Abweichend von § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG mussten diese Steuerpflichtigen nach der zitierten Rechtsprechung des BFH nicht bereits bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahres einen Antrag auf Veranlagung stellen. Es galten vielmehr auch bei dem Bezug von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit die allgemeinen Fristen über die Festsetzungsverjährung nach der AO. Wollte man den Wortlaut dahingehend weit auslegen, dass die Anwendungsvorschrift auch diese Fälle erfassen sollte, wäre durch das Jahressteuergesetz 2007 rückwirkend die zuvor bestehende Möglichkeit zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung für Veranlagungsjahre, die die Zwei-Jahres-Frist überschritten, entfallen. Es läge ein Fall der echten Rückwirkung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor. Bei verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten ist der mit dem Rückwirkungsverbot vereinbaren Auslegung der Vorzug zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).