Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 02.01.2012, Az.: 6 K 63/11

Begründung einer sachlichen Unbilligkeit durch Mindestbesteuerung nach § 10d Abs. 2 EStG

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
02.01.2012
Aktenzeichen
6 K 63/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 10172
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2012:0102.6K63.11.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 20.08.2012 - AZ: I R 9/12

Fundstellen

  • EFG 2012, 1015-1017
  • KÖSDI 2012, 17799
  • StBW 2012, 155-156

abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen gem. § 163 AO für Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag 2008

Mindestbesteuerung nach § 10d Abs. 2 EStG kann sachliche Unbilligkeit begründen

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt eine abweichende Körperschaftsteuerfestsetzung i.H.v. 0 EUR aus Billigkeitsgründen gem. § 163 der Abgabenordnung (AO); streitig ist insbesondere die Frage einer sachlichen Unbilligkeit aufgrund der Verlustabzugsbeschränkungen des § 10d Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG).

2

Die Klägerin ist eine in Liquidation befindliche Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) und betrieb ein Unternehmen, dessen Gegenstand der Handel mit Textilien aller Art, insbesondere mit Kinderbekleidung und -moden gewesen ist. Gesellschafter der Klägerin waren zuletzt Frau A. und Herr B. jeweils mit einem Geschäftsanteil i.H.v. DM sowie Frau C. und Frau D. jeweils mit einem Geschäftsanteil i.H.v. DM. Die Klägerin ermittelte ihren Gewinn durch Bestandsvergleich nach § 4 Abs. 1, § 5 des Einkommensteuergesetzes i.V.m. § 8 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) unter Berücksichtigung eines Wirtschaftsjahres, welches dem Kalenderjahr entsprach.

3

Nachdem die bisherige Geschäftsführerin Frau E. am 6. November 2006 verstorben war, beschloss die Gesellschafterversammlung vom 30. November 2006 die Auflösung der Gesellschaft sowie die Bestellung der Liquidatoren Herr B. und Frau A.. Die Liquidation wurde zum 30. November 2008 beendet.

4

Die Klägerin reichte am 5. April 2007 beim Beklagten die Körperschaftsteuererklärung für 2006 sowie den Jahresabschluss zum 31. Dezember 2006 beim Beklagten ein. Sie erklärte einen Jahresfehlbetrag i.H.v. EUR, den sie im Jahresabschluss zum 31. Dezember 2006 ermittelt hatte. Der Beklagte wertete dies dahingehend, dass die Klägerin für das Jahr 2006 entsprechend der Regelung in R 50 Abs. 1 Satz 3 der Körperschaftsteuerrichtlinien ihr Wahlrecht mit der Maßgabe ausgeübt habe, kein Rumpfwirtschaftsjahr zu bilden. Mit Bescheid vom 18. Oktober 2007 setzte der Beklagte die Körperschaftsteuer für 2006 i.H.v. 0 EUR fest und stellte den verbleibenden Verlustvortrag auf den 31. Dezember 2006 i.H.v. EUR gesondert fest.

5

Die Klägerin erzielte im Liquidationszeitraum einen Gewinn i.H.v. EUR, der insbesondere die ertragswirksame Auflösung von Gesellschafterdarlehen i.H.v. EUR berücksichtigte. Mit Abgabe der Körperschaftsteuererklärung für den Liquidationszeitraum beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 14. Januar 2010, die Körperschaftsteuer aus sachlichen Billigkeitsgründen gem.§ 163 AO auf 0 EUR festzusetzen. Zur Begründung trug sie vor, die Verlustbeschränkungen nach § 10d Abs. 2 EStG seien vom Gesetzgeber mit dem Ziel einer Vereinfachung und Verstetigung des Steueraufkommens beschlossen worden. Der Gesetzesbegründung sei zu entnehmen, dass die Gesetzesänderung der Vereinfachung der Verlustverrechnung dienen solle, aber weiterhin Verluste uneingeschränkt ausgleichsfähig seien sollten. An die Möglichkeit eines Untergangs der Verlustvorträge aufgrund einer Liquidation habe der Gesetzgeber augenscheinlich nicht gedacht.

6

Der Beklagte folgte diesem Antrag nicht. Er ermittelte unter Berücksichtigung der Verlustabzugsbeschränkungen des § 10d Abs. 2 EStG einen Verlustabzug i.H.v. EUR (1 Mio. EUR zzgl. 60 v.H. von EUR) und ein danach verbleibendes zu versteuerndes Einkommen i.H.v. EUR. Durch Bescheid vom 10. Juni 2010 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin auf abweichende Steuerfestsetzung nach§ 163 AO ab, setzte die Körperschaftsteuer i.H.v. EUR fest und stellte einen verbleibenden Verlustvortrag auf den 31. Dezember 2008 i.H.v. EUR gesondert fest.

7

Gegen die Bescheide legte die Klägerin jeweils form- und fristgerecht Einsprüche ein. Sie hielt insbesondere an ihrem Begehren fest, eine nach § 163 AO abweichende Steuerfestsetzung aus sachlichen Billigkeitserwägungen zu erlangen.

8

Der Einspruch gegen die Ablehnung des Antrags auf abweichende Steuerfestsetzung nach § 163 AO hatte keinen Erfolg; der Beklagte wies diesen durch Einspruchsbescheid vom 24. Januar 2011 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte der Beklagte aus, der Gesetzgeber habe im Rahmen der Neufassung des § 10d Abs. 2 EStG offensichtlich nicht gewollt, dass im Fall einer Liquidation ein nach Berücksichtigung von § 10d EStG verbleibendes Einkommen nicht besteuert werde. So sei der Untergang eines Verlustabzugs auch bei anderen Fallgestaltungen vom Gesetzgeber vorgesehen. In diesem Zusammenhang verwies der Beklagte auf die Regelung § 4 Abs. 2 Satz 2 des Umwandlungsteuergesetzes sowie auf den Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 17. Dezember 2007 (GrS 2/04, Bundessteuerblatt - BStBl - II 2008, 608) zur Vererblichkeit des Verlustabzugs. Die Möglichkeit einer Übersteuerung sei sowohl dem Gesetzgeber als auch der Rechtsprechung in unterschiedlichen Fällen bekannt und einkalkuliert. Eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte unbillige Härte scheide aus.

9

Hiergegen hat die Klägerin am 24. Februar 2011 Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung wiederholt die Klägerin ihren Vortrag, erklärter Wille des Gesetzgebers im Rahmen der Neufassung des § 10d EStG sei die Verstetigung des Steueraufkommens gewesen, ausdrücklich nicht der finale Wegfall der Möglichkeit, Verluste mit Gewinnen zu verrechnen. Ergänzend weist die Klägerin hin auf den Beschluss des BFH vom 26. August 2010 (I B 49/10, BStBl II 2011, 826).

10

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten zu verpflichten, Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag 2008 aus sachlichen Billigkeitsgründen gem.§ 163 AO abweichend auf 0 EUR festzusetzen.

11

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

12

Er hält an seiner im Einspruchsbescheid vertretenen Rechtsauffassung fest und verweist insoweit auf die dortigen Ausführungen.

13

Die Beteiligten habe ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter erklärt (§ 79a Abs. 3, 4 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) und auf mündliche Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 FGO; Schriftsatz der Klägerin vom 10. Mai 2011, Bl. 25 der Gerichtsakte; Schriftsatz des Beklagten vom 28. April 2011, Bl. 24 der Gerichtsakte).

Entscheidungsgründe

14

Die Klage ist im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet; im Übrigen ist sie unbegründet.

15

Der angefochtene Bescheid über die Ablehnung des Antrags auf abweichende Steuerfestsetzung nach § 163 AO vom 10. Juni 2010 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 24. Januar 2011 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 101 Satz 1 FGO). Der Beklagte hat ermessensfehlerhaft den entsprechenden Antrag der Klägerin abgelehnt. Mangels Spruchreife der Sache hat die Klage allerdings nicht in vollem Umfang, sondern nur in ihrer Unterform als Bescheidungsklage gemäß § 101 Satz 2 FGO Erfolg.

16

1.

Gemäß § 163 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuern nach Lage des Einzelfalles unbillig wäre.§ 163 AO bezweckt, sachlichen und persönlichen Besonderheiten des Einzelfalles, die der Gesetzgeber in der Besteuerungsnorm nicht berücksichtigt hat, durch eine nicht den Steuerbescheid selbst ändernde Korrektur des Steuerbetrages in einem eigenständigen Verfahren insoweit Rechnung zu tragen, als sie die steuerliche Belastung als unbillig erscheinen lassen. Die Unbilligkeit der Steuerfestsetzung kann sich aus persönlichen oder - wie im Streitfall - aus sachlichen Gründen ergeben.

17

a)

Sachlich unbillig ist die Erhebung einer Steuer vor allem dann, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber im Einzelfall nach dem Zweck des zugrundeliegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen derart zuwiderläuft, dass die Erhebung der Steuer als unbillig erscheint (vgl. BFH-Urteile vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BStBl II 1995, 297, vom 21. Oktober 1987 X R 29/81, BFH/NV 1988, 546 und vom 21. Januar 1992 VIII R 51/88, BStBl II 1993, 3). Sachliche Gründe sind danach gegeben, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass der Gesetzgeber die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage - hätte er sie geregelt - im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (vgl. BFH-Urteil vom 26. Mai 1994 IV R 51/93, BStBl II 1994, 833).

18

Die abweichende Festsetzung von Steuern ist ebenso wie der Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen dazu bestimmt, ungewollten Überhängen des gesetzlichen Tatbestandes entgegenzuwirken (z.B. BFH-Urteile vom 24. September 1987 V R 76/78, BStBl II 1988, 561, vom 20. Februar 1991 II R 63/88, BStBl II 1991, 541, vom 9. September 1993 V R 45/91, BStBl II 1994, 131, vom 24. Februar 1994 V R 43/92, BFH/NV 1995, 358 und vom 26. April 1985 XI R 81/93, BStBl II 1995, 754 [BFH 26.04.1995 - XI R 81/93]). Letztlich kann die Erhebung einer Steuer somit nur dann unbillig sein, wenn die Steuerfestsetzung zwar dem Buchstaben des Gesetzes entspricht, jedoch im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist. Eine Unbilligkeit kann sich deshalb nicht aus Umständen ergeben, die der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen hat. Bei der sachlichen Billigkeitsprüfung müssen, vor allem im Hinblick auf das Prinzip der Gewaltenteilung, grundsätzlich solche Erwägungen unbeachtet bleiben, die der gesetzliche Tatbestand typischerweise mit sich bringt (BFH-Urteile vom 14. Juli 2010 X R 34/08, BStBl II 2010, 916; vom 21. Oktober 1987 X R 29/81, BFH/NV 1988, 546).

19

Die Billigkeitsprüfung muss sich, je nach Fallgestaltung, nicht nur auf allgemeine Rechtsgrundsätze und verfassungsmäßige Wertungen erstrecken (vgl. BFH-Urteile vom 21. Februar 1991 V R 105/84, BStBl II 1991, 498 [BFH 21.02.1991 - V R 105/84] und vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BStBl II 1995, 297). Sie verlangt vielmehr eine Gesamtbeurteilung aller Normen, die für die Verwirklichung des in Frage stehenden Steueranspruchs im konkreten Fall maßgeblich sind. In eine solche Würdigung müssen nicht nur die Vorschriften einbezogen werden, aus denen der Anspruch dem Grunde und der Höhe nach hergeleitet wird, sondern auch die Regelungen, die im zu entscheidenden Fall für die Konkretisierung des materiellen Rechts und seine verfahrensrechtliche Durchsetzung sorgen. Nur auf diese Weise lassen sich Wertungswidersprüche aufdecken und im Billigkeitswege beseitigen, die bei isolierter Betrachtungsweise als typischer Nebeneffekt der Anwendung einzelner steuerrechtlicher Normen hinnehmbar erscheinen, insgesamt aber, in ihrem Zusammenwirken in einem atypischen Einzelfall eine Rechtslage herbeiführen, welche die Durchsetzung des Steueranspruchs als sachlich unbillig erscheinen lässt (BFH-Urteil vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BStBl II 1995, 297 [BFH 26.10.1994 - X R 104/92]).

20

Dass prinzipiell alle für die konkrete Erlasslage ursächlichen Faktoren mit zu berücksichtigen sind, folgt aus der gesetzgeberischen Anordnung in § 163 Satz 1 AO, die Billigkeitsprüfung auf die Erhebung und die Lage des einzelnen Falles zu beziehen, sowie aus der allgemeinen Zwecksetzung dieser Vorschrift, Ergebnisse des allgemeinen Gesetzesvollzugs ausnahmsweise dann (teilweise) zu korrigieren, wenn diese den Wertungen der Einzelfallgerechtigkeit nicht standhalten.

21

Die Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 AO sind Ermessensentscheidungen, die nur in den durch § 102 FGO gezogenen Grenzen überprüft werden können. Die gerichtliche Überprüfung bezieht sich im Fall der Versagung darauf, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung Ermessensgrenzen überschritten oder von ihrem eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. § 5 AO).

22

Eine fehlerfreie Ermessensentscheidung setzt zum einen voraus, dass die Finanzbehörde ihre Entscheidung anhand eines einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts trifft (BFH-Urteil vom 23. Mai 1985 V R 124/79, BStBl II 1985, 489 [BFH 23.05.1985 - V R 124/79]; BFH-Beschluss vom 6. Juni 1991 V R 102/86, BFH/NV 1992, 787). Die Finanzbehörde muss bei der Ermessensentscheidung alle tatsächlichen Verhältnisse berücksichtigen, die ihr im Zeitpunkt der Entscheidung bekannt sein mussten (Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 5 AO Rz. 122).

23

b)

Der Beklagte hat die Voraussetzungen des § 163 Satz 1 AO ermessensfehlerhaft verneint.

24

aa)

Der Beklagte vertrat im Rahmen der Ermessensausübung unter Hinweis auf gesetzlich normierte Fälle von Verlustuntergängen die Ansicht, der Gesetzgeber habe im Rahmen der Neufassung des § 10d Abs. 2 EStG offensichtlich nicht gewollt, dass im Fall einer Liquidation ein nach Berücksichtigung von § 10d EStG verbleibendes Einkommen nicht besteuert werde. Die Möglichkeit einer Übersteuerung sei dem Gesetzgeber bekannt gewesen und einkalkuliert worden. Eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte unbillige Härte scheide aus.

25

Dem ist zu widersprechen. Denn es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Neufassung des § 10d Abs. 2 EStG, der sog. Mindestbesteuerung, deren überschießende Wirkung in einer Vielzahl von Fallsituationen - z.B. wie der im Streitfall vorliegenden Liquidation - bewusst in Kauf genommen hat (BFH-Beschluss vom 26. August 2010 I B 49/10, BStBl 2011, 826). Die Gesetzesmaterialien lassen im Gegenteil einen anderen Schluss zu.

26

Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz vom 22. Dezember 2003 (Bundesgesetzblatt I 2003, 2840) ließ der Gesetzgeber den innerperiodischen Verlustausgleich grundsätzlich wieder uneingeschränkt zu, während die Beschränkung des überperiodischen Verlustabzugs nach § 10d Abs. 2 EStG n.F. beibehalten und verschärft wurde: Verluste, die weder im Veranlagungszeitraum ihrer Entstehung noch im Wege des Verlustrücktrags ausgeglichen werden konnten, sind ab Veranlagungszeitraum 2004 im Rahmen des Verlustvortrags nur noch begrenzt verrechnungsfähig. Gemäߧ 10d Abs. 2 Satz 1 EStG können sie nur noch bis zu einem Gesamtbetrag der Einkünfte von 1 Mio. EUR unbeschränkt abgezogen werden. Darüber hinausgehende negative Einkünfte aus früheren Veranlagungszeiträumen sind nur noch in Höhe von 60 v.H. des 1 Mio. EUR übersteigenden Gesamtbetrags der Einkünfte ausgleichsfähig. Im Ergebnis werden 40 v.H. des positiven Gesamtbetrags der laufenden Einkünfte eines Veranlagungszeitraums unabhängig von etwaigen Verlusten in früheren Perioden der Besteuerung unterworfen, soweit sie die Schwelle von 1 Mio. EUR überschreiten.

27

Die Begründung zum Regierungsentwurf des § 10d Abs. 2 EStG n.F. (Drucksache des Deutschen Bundestags - BTDrucks - 15/1518, S. 13) führt an, dass "der Grund für die Beschränkung in dem gewaltigen Verlustvortragspotenzial der Unternehmen zu sehen (sei), das diese vor sich herschieben. Um das Steueraufkommen für die öffentlichen Haushalte kalkulierbarer zu machen, ist es geboten, den Verlustvortrag zu strecken. Nur so ist auf Dauer eine Verstetigung der Staatseinnahmen gewährleistet." Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass durch die sog. Mindestbesteuerung "keine Verluste endgültig verloren" gehen würden. Letzteres ist auch im Finanzausschuss nicht diskutiert worden (BTDrucks 15/1684, S. 7, 8)

28

Insofern kann eine sachliche Unbilligkeit - entgegen der Ansicht des Beklagten - anzunehmen sein, wenn es durch die Anwendung des§ 10d Abs. 2 EStG - wie im Streitfall - nicht nur zu einer Beschränkung des Verlustausgleichs im Sinne einer zeitlichen Verschiebung kommt, sondern zu einem endgültigen Ausschluss des Verlustausgleichs aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen bei gleichzeitiger Besteuerung verbleibenden Einkommens. Denn in diesem Fall wird aus der (vom Gesetzgeber gedachten vorübergehenden) Mindestbesteuerung eine endgültige Steuerbelastung auf einen periodenübergreifend betrachtet nicht vorhandenen Gewinn (vgl. Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom15. Juni 2010 6 K 6216/06 B, EFG 2010, 1576).

29

bb)

Darüber hinaus hat der Beklagte die Umstände des Streitfalles nicht hinreichend gewürdigt, maßgeblich die Besonderheiten des Liquidationszeitraums nach § 11 KStG nicht berücksichtigt.

30

Der Beklagte wertete die Abgabe des Jahresabschlusses zum 31. Dezember 2006 dahingehend, dass die Klägerin für das Jahr 2006 entsprechend der Regelung in R 50 Abs. 1 Satz 3 der Körperschaftsteuerrichtlinien ihr Wahlrecht ausgeübt habe und kein Rumpfwirtschaftsjahr zum 30. November 2006 bilden wolle. Ob dies angesichts handelsrechtlicher Vorgaben möglich ist, kann vorliegend dahinstehen (vgl. hierzu Lambrecht in Gosch, KStG, 2. Auflage 2009, § 11 Rz. 33). Ebenfalls kann dahinstehen, ob der Beklagte entsprechend seiner Annahme nicht auch das Jahr 2006 zum Liquidationszeitraum hätte zählen müssen (vgl. Lambrecht, a.a.O.). Zumindest hätte im Rahmen der Ermessensentscheidung i.S. des § 163 AO berücksichtigt werden müssen, dass bei Ansatz eines Liquidationszeitraums ab 1. Januar 2006 bzw. 1. Dezember 2006 aufgrund der Verluste im Jahr 2006 weiteres Verlustausgleichpotential zur Verfügung gestanden hätte.

31

Darüber hinaus hat der Beklagte nicht berücksichtigt, dass - ohne Anwendung eines besonderen Besteuerungszeitraums nach§ 11 Abs. 1 Satz 1 KStG - die Regelung des § 10b Abs. 2 EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG der Klägerin jeweils für die Veranlagungszeiträume 2007 und 2008 ein Verlustabzugsvolumen im Grundbetrag von 1 Mio. EUR (mithin bereits 2 Mio. EUR) zugebilligt hätte, die Regelung des § 10b Abs. 2 EStG bei Anwendung des Besteuerungszeitraums i.S. des § 11 Abs. 1 Satz 1 KStG den Verlustabzugs also im erhöhten Maße hinauszuzögern bzw. zu beschränken vermag.

32

c)

Der Anwendbarkeit des § 163 Satz 1 AO steht nicht entgegen, dass der Grund, der für eine sachliche Unbilligkeit spricht, nämlich die absehbare Definitivbesteuerung in Liquidationsfällen, zumindest auch Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm begründet. Die auf§ 163 Satz 1 AO gestützte Verpflichtungsklage ist deshalb weder nachrangig gegenüber einer Anfechtungsklage in Verbindung mit einem Vorlagebeschluss nach Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz - GG -, noch ist deshalb die Auslegung des Begriffs der Unbilligkeit auf Punkte beschränkt, die sich aus einfachgesetzlichen Bedenken ableiten ließen.

33

d)

Der Beklagte wird daher die Klägerin nach § 101 Satz 2 FGO unter Berücksichtigung und Abwägung der o.g. Umstände bescheiden müssen. Dies bedeutet nicht, dass eine Billigkeitsfestsetzung in einem bestimmten Umfang geboten ist. Das Gericht kann dem Beklagten hinsichtlich des Umfangs der Ermessensausübung keine Vorgaben machen, sondern nur darlegen, welche Umstände insbesondere zu berücksichtigen sind. Der erkennende Berichterstatter kann eine Billigkeitsfestsetzung auf 0 EUR nicht selbst aussprechen, da eine sog. Ermessensreduzierung auf Null nicht gegeben ist. Insofern hat der Beklagte zutreffend darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber in anderen Fällen den Untergang steuerlicher Verluste hinnimmt.

34

2.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO. Da die vertretene Klägerin nicht mit ihrem vollen Verpflichtungsbegehren i.S. des § 101 Satz 1 FGO durchgedrungen ist, sondern nur ein Bescheidungsurteil gemäß § 101 Satz 2 FGO ergeht, erscheint es dem Gericht angemessen, die gesamten Kosten des Verfahrens der Klägerin und dem Beklagten je zur Hälfte aufzuerlegen (vgl. BFH-Urteil vom 26. Januar 1988 VIII R 151/84, BFH/NV 1988, 695, m.w.N.).

35

Die übrigen Nebenentscheidungen beruhen auf § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO und auf § 151 Abs. 1, 3 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

36

3.

Die Revisionszulassung folgt aus § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Die Frage, ob ein sich auf Grund der Mindestbesteuerung ergebender endgültiger Ausschluss des Verlustausgleichs sachlich unbillig ist, hat grundsätzliche Bedeutung.