Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 05.05.1998, Az.: 5 U 10/98
Nichterkennen einer Bauchhöhlenfellentzündung mit drohendem Dickdarmdurchbruch
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 05.05.1998
- Aktenzeichen
- 5 U 10/98
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1998, 29245
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1998:0505.5U10.98.0A
Rechtsgrundlagen
- § 539 ZPO
- § 412 BGB
- § 540 ZPO
Fundstellen
- AZRT 1999, 164
- KHuR 1999, 146
- MedR 1999, 117
- NJW-RR 1999, 718-719 (Volltext mit amtl. LS)
- OLGReport Gerichtsort 1998, 222-223
Amtlicher Leitsatz
In Arzthaftungssachen empfielt es sich regelmäßig nicht, zunächst ein Sachverständigengutachten auschließlich dazu einzuholen, ob der Schaden unabhängig von den bisher nicht verifizierten Behandlungsfehlern entstanden ist.
Tatbestand
Der Kläger macht materiellen und immateriellen Schadensersatz mit der Behauptung geltend, der beklagte Internist habe eine Bauchhöhlenfellentzündung mit drohendem Dickdarmdurchbruch nicht erkannt und die gebotene Krankenhauseinweisung unterlassen.
Der 1962 geborene Kläger wurde von dem Beklagten, der Wochenenddienst hatte, am 17.6.1995, einem Sonnabend, spätabends nach vorangegangener telefonischer Absprache wegen Schmerzen im Bauchraum in dessen Praxis untersucht. Der Beklagte diagnostizierte eine Magen-Darm-Grippe, verschrieb entsprechende Medikamente und empfahl die Wiedervorstellung für den Fall ausbleibender Verbesserung oder der Verschlechterung. Auf einen Anruf des Klägers am Sonntag, dem 18.6.1995, hin verschrieb der Beklagte ein stärkeres Schmerzmittel. Nach einem erneuten Anruf des Klägers am Abend des 20.6.1995 machte der Beklagte einen Hausbesuch, in dessen Verlauf der Kläger kurzfristig ohnmächtig wurde, nachdem der Beklagte 5 ml Novalgin gespritzt hatte; anschließend erfolgte eine Infusion von 500 ml NaCl. Am Morgen des 21.6.1995 ließ sich der Kläger zur weiteren, tags zuvor vereinbarten Behandlung in die Praxis des Beklagten fahren, wo ihm 1000 ml NaCl verabreicht wurden. Nachdem der Kläger in der Nacht zum 22.6.1995 erneut in der Praxis des Beklagten angerufen, den Beklagten nicht erreicht und auf den Bereitschaftsdienst verwiesen worden war, der ein Einschreiten nicht für erforderlich hielt, rief der Kläger das ....-Hospital in ... an, wurde dort nach einem Tranport mit dem Krankenwagen um 4.15 Uhr als Notfall aufgenommen und operiert. Es lag eine Sigmadivertikulose mit Divertikulitis und umschriebener Divertikelperforation mit begleitender fibrinöseitriger Peritonitis vor (Dickdarmdurchbruch mit Bauchhöhlenfellentzündung). Im postoperativen Verlauf ergab sich eine Bauchdeckennekrose mit anschließender Hauttransplantation. Anfang 1996 wurde der Anus praeter (künstlicher Darmausgang) zurückverlegt.
Der Kläger hat unter Beweisantritt behauptet, der Beklagte habe ohne die gebotene nähere Untersuchung, insbesondere das Messen von Fieber und Blutdruck, das Abtasten des stark geblähten und harten Bauches sowie ausführliches Befragen über Flüssigkeitsaufnahme und Stuhlverhalten, eine falsche Diagnose gestellt und die spätestens am 21.6.1995 gebotene Krankenhausaufnahme nicht veranlasst, obwohl er dem Beklagten gesagt habe, dass die Schmerzen immer schlimmer würden und unerträglich seien, dass er erhebliches Fieber habe und dass er nach Erbrechen seit dem 20.6.1995 ab dem 21.6.1995 überhaupt nichts mehr bei sich behalten und sich vor Schmerzen und Krämpfen kaum noch aufrecht halten könne. Dieses Fehlverhalten des Beklagten habe nicht nur zu einer verspäteten Operation, sondern auch zu erheblichen, sonst vermiedenen Folgekomplikationen, insbesondere zu Arbeitsunfähigkeit geführt, deren Ende nicht absehbar sei. Bei einer früheren Operation wäre die Eiterentwicklung nicht so stark gewesen; auch hätte die Operation rektal, also ohne Bauchöffnung erfolgen können.
Der Kläger hat zunächst beantragt, den Beklagten zu verurteilen
- 1.
an den Kläger
- a)
ein der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens aber 50.000,- DM und
- b)
weitere 62.120,- DM jeweils nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
- 2.
festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die dem Kläger noch aus der Fehlbehandlung durch den Beklagten in der Zeit vom 17.6.1995 bis 23.6.1995 entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
Den bezifferten Zahlungsantrag haben die Parteien in der mündlichen Verhandlung vom 2.10.1996 in Höhe von 6.480,- DM übereinstimmend für erledigt erklärt.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat unter Bezugnahme auf einen von ihm vorprozessual gefertigten Bericht vom 26.9.1995 (Bl 45 ff d.A.), der allerdings irrtümlich auch eine Behandlung am 22.6.1995 schildert, als der Kläger bereits im Krankenhaus war, unter Beweisantritt geltend gemacht, der Kläger gebe den Behandlungsverlauf, insbesondere die ohne weiteres erkennbaren und die dem Beklagten mitgeteilten Beschwerden sowie die Befunderhebung durch den Beklagten nicht richtig wieder. Darüber hinaus sei bei dem Kläger ausweislich der am 22.6.1995 ausgewerteten Blutprobe vom 21.6.1995 noch zu diesem Zeitpunkt keine wesentliche Entzündungsreaktion erkennbar gewesen; zu dem Darmdurchbruch sei es erst nach der letzten Untersuchung durch den Beklagten gekommen.
Das Landgericht hat unter dem 2.10.1996 beschlossen, ein Sachverständigengutachten einzuholen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten vom 27.3.1997 (Bl 79 ff d.A.), das auf Einwände des Klägers hin mit schriftlicher Stellungnahme vom 11.7.1997 (Bl 104 f d.A.) aufrechterhalten worden ist, verwiesen.
Das Landgericht hat dem Kläger unter Abweisung im Übrigen mit Urteil vom 26.11.1997, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird (Bl 162 ff d.A.), ein Schmerzensgeld in Höhe von 2000,- DM nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit zugesprochen. Es hat gestützt auf die vorliegenden sachverständigen Stellungnahmen lediglich als erwiesen angesehen, dass der Beklagte eine um ca. zwölf Stunden verspätete Krankenhausaufnahme zu vertreten habe; denn der Beklagte habe den Kläger auf Grund der Untersuchung am Vormittag des 21.6.1995 einweisen müssen. Diese zeitliche Verzögerung habe den weiteren Verlauf jedoch nicht beeinflusst.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger seine erstinstanzlichen Anträge mit der Maßgabe weiter, dass der bezifferte Zahlungsantrag 57.720,- DM beträgt. Er macht unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens geltend, der Beklagte habe den Kläger spätestens am 19.6.1995 ins Krankenhaus einweisen müssen, was den lebensgefährlichen Durchbruch verhindert, eine rektale Operation ermöglicht und die postoperativen Komplikationen, die inzwischen zu dauerhafter Arbeitsunfähigkeit geführt hätten, wenn nicht verhindert, so doch wesentlich verringert hätte. Hierzu beantragt er die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens. Auch das für die von dem Beklagten zu vertretende zeitliche Verzögerung zugesprochene Schmerzensgeld sei unter Berücksichtigung der unter Beweis gestellten Beeinträchtigungen in diesem Zeitraum zu gering.
Der Beklagte beantragt
Zurückweisung der Berufung und verteidigt das angefochtene Urteil nach näherer Maßgabe des Inhalts der Berufungserwiderung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das Landgericht, soweit dieses die Klage abgewiesen hat.
Die Auffassung des Landgerichts, der erstinstanzlich hinzugezogene Sachverständige habe nach gründlicher Auswertung der Krankenunterlagen des Beklagten und des ...-Hospitals überzeugend ausgeführt, dass der Beklagte lediglich eine Verzögerung der Krankenhausaufnahme um ca. 12 Stunden zu vertreten habe, und eine weitere Sachverhaltsaufklärung insoweit sei nicht erforderlich, berücksichtigt den erstinstanzlichen Sach- und Streitstand in wesentlichen Teilen nicht und beruht auf Verfahrensfehlern i.S.v. § 539 ZPO.
Das Landgericht hat am 2.10.1996 beschlossen, ein Sachverständigengutachten zu der Behauptung des Beklagten einzuholen, selbst im Falle der Richtigkeit der vom Kläger gegen ihn behaupteten Behandlungs- und Diagnosefehler in der Zeit vom 19.6.1995 bis zum 23.6.1995, bei rechtzeitiger und fachgerechter ärztlicher Behandlung, würde beim Kläger der Dickdarmdurchbruch mit den weiteren von ihm behaupteten gesundheitlichen Folgen ... eingetreten sein". Ausgangspunkt des Gutachtens sollte also das klägerische Vorbringen zu Art und Umfang der Pflichtverletzungen des Beklagten sein. Eine derartige, den Sachvortrag des Klägers zu Pflichtverletzungen unterstellende und lediglich den ebenfalls streitigen anschließenden Kausalverlauf in den Blick nehmende Begutachtung ist nach den Bestimmungen der Zivilprozessordnung grundsätzlich statthaft und mag im Einzelfall prozessökonomischer sein als eine sofortige, den gesamten Sach- und Streitstand erschöpfende Begutachtung auf der Grundlage der insoweit bedeutsamen, vom Gericht ggf. auf Grund einer Beweisaufnahme, zu der bereits die Hinzuziehung des Sachverständigen angezeigt sein kann, vorzugebenden Anknüpfungstatsachen. Sie birgt allerdings neben dem Risiko der Zersplitterung und Verlängerung des Prozesses stets die Gefahr in sich, dass der Sachverständige von dieser, auf dem relationstechnischen Denken im Zivilrechtsstreit beruhenden Vorgabe abweicht, das Vorbringen des Klägers zu Pflichtverletzungen ergänzende oder davon abweichende Anknüpfungstatsachen zu Grunde legt und/oder die zu unterstellenden Pflichtverletzungen abweichend bewertet und dass dies in die (zunächst) ausschließlich erbetene Beurteilung des anschließenden Kausalverlaufs einfließt. Diese Gefahr besteht insbesondere in Arzthaftungssachen. Denn die mit der Klage geltend gemachten ärztlichen Pflichtverletzungen werden - vor allem, wenn eine entsprechende außergerichtliche, sachverständige Stellungnahme nicht vorliegt - häufig nur laienhaft und unvollständig in einer Weise umschrieben, die zur Bejahung der Schlüssigkeit genügt, eine hinreichend präzise, hypothetische Begrenzung des Gutachtensauftrags aber nicht ermöglicht. Die daraus folgenden Risiken einer Begutachtung, die von hypothetischen Pflichtverletzungen ausgehen soll, vergrößern sich noch, wenn das entsprechende Vorbringen des Klägers und die Krankenunterlagen nicht übereinstimmen.
Die soeben aufgezeigten Risiken haben sich vorliegend verwirklicht und führen dazu, dass die erstinstanzlichen sachverständigen Stellungnahmen insgesamt als Entscheidungsgrundlage ungeeignet sind. Denn der Sachverständige ist entgegen dem Beweisbeschluss des Landgerichts nicht von dem unter Beweis gestellten Vorbringen des Klägers zu Pflichtverletzungen ausgegangen, sondern stützt sich ersichtlich auf die hiervon mehrfach abweichende, vorprozessual von dem Beklagten unter dem 26.9.1995 gegebene Schilderung des Behandlungsverlaufs (Bl 45 ff d.A.). Diese stimmt nicht einmal mit dem erstinstanzlichen Vorbringen des Beklagten überein; denn der Beklagte hat seine Schilderung vom 26.9.1995 nicht unwesentlich dahingehend berichtigt, dass er den Kläger am 22.6.1995 - dem unstreitigen Tag der Krankenhausaufnahme - nicht mehr behandelt hat.
Ein weiterer gravierender Mangel des Gutachtens liegt jedenfalls darin, dass der Sachverständige davon ausgeht, der Kläger sei am 22.6.1995 gegen 21 Uhr in das Krankenhaus eingewiesen worden, obwohl die Aufnahme unstreitig um 4.15 Uhr erfolgte.
Diese Fehler sind dem Landgericht ausweislich der Entscheidungsgründe zwar aufgefallen, allerdings u.a. deshalb nicht als erheblich angesehen worden, weil unabhängig hiervon feststehe, dass der Beklagte lediglich eine Verzögerung von ca. 12 Stunden zu vertreten habe. Hiermit unvereinbar ist es jedoch, dass die letzte Behandlung durch den Beklagten unstreitig am Vormittag des 21.6.1995 und dass die Krankenhausaufnahme am 22.6.1995 um 4.15 Uhr erfolgte. Unvereinbar ist es ebenfalls, dass das Gutachten die o.a. Mängel enthält, dass das Landgericht andererseits aber ausführt, das Sachverständigengutachten sei u.a. deshalb überzeugend, weil der Sachverständige die Krankenunterlagen sorgfältig ausgewertet habe. Vielmehr hatte das Landgericht unbeschadet der Einwendungen des Klägers gegen das Gutachten jedenfalls auf Grund der o.a. Fehler des Sachverständigen bereits von Amts wegen Anlass zu weiterer Sachverhaltsaufklärung, entweder durch Einholung ergänzender schriftlicher bzw. mündlicher Stellungnahmen des Sachverständigen oder eines weiteren Gutachtens nach § 412 BGB.
Ein weiterer Fehler i.S.v. § 539 ZPO liegt darin, dass das Landgericht nicht selbst Feststellungen zu dem streitigen Behandlungsverlauf getroffen, sondern sich trotz gegenteiliger Beweisantritte auf die diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen gestützt hat, die wiederum auf der Schilderung des Beklagten vom 26.9.1995 und dessen Krankenunterlagen beruhen.
Das Landgericht hätte auch darauf hinwirken müssen, dass der Bericht über die Operation vom 22.6.1995, der in den dem Sachverständigen unmittelbar übersandten Krankenakten des Borrormäus-Hospitals nicht enthalten ist, dessen Fehlen auch der Sachverständige angemerkt hat und den der Kläger auf einen entsprechenden Hinweis hin im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 24.4.1998 vorgelegt hat, bereits im ersten Rechtszug zu den Akten gelangte und in die Begutachtung einbezogen wurde.
Schließlich fehlt es an prozessordnungsgemäß getroffenen Feststellungen des Landgerichts zur Höhe des Schmerzensgelds. Denn auch Art und Umfang der Beschwerden des Klägers in dem Zeitraum nach der letztmaligen Untersuchung durch den Beklagten sind streitig. Der zugesprochene Betrag in Höhe von 2.000,- DM, gegen den der Beklagte Rechtsmittel nicht eingelegt hat, erscheint allerdings ausgehend von dem Vorbringen des Klägers zu Art und Umfang seiner Beschwerden angemessen, falls das Landgericht erneut zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass der Beklagte lediglich eine Verzögerung um ca. 12 Stunden zu vertreten hat.
Diese Verfahrensmängel i.S.v. § 539 ZPO machen Beweiserhebungen in voraussichtlich beträchtlichem Umfang erforderlich, deren Durchführung in der Berufungsinstanz dem Verlust der zweiten Tatsacheninstanz gleich käme und die daher nach Auffassung des Senats nicht sachdienlich i.S.v. § 540 ZPO ist. Bereits zur Entscheidung über den Haftungsgrund muss - ggf. in Gegenwart des neu zu bestellenden Sachverständigen - zunächst den Beweisantritten der Parteien zu dem Krankheits- und Behandlungsverlauf nachgegangen und anschließend ein Sachverständigengutachten dazu eingeholt werden, ob die danach zu Grunde zu legende Vorgehensweise des Beklagten sorgfaltswidrig und schadensursächlich war. Auch die danach ggfl. erforderlich werdende Entscheidung über die Anspruchshöhe bedarf voraussichtlich weiterer, umfangreicher Sachverhaltsaufklärung.