Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 01.07.2019, Az.: L 8 AY 49/18

Leistungen nach dem AsylbLG; Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis einer Behörde für ein Berufungsverfahren; Gegenstandsloswerden eines Verwaltungsakts während des Rechtsmittelverfahrens

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
01.07.2019
Aktenzeichen
L 8 AY 49/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 25844
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - 13.11.2018 - AZ: S 19 AY 15/18

Redaktioneller Leitsatz

1. Das Rechtschutzbedürfnis als allgemeine Prozessvoraussetzung muss auch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. bis zu einer Entscheidung des Gerichts durch Urteil ohne mündliche Verhandlung vorliegen.

2. Für eine beklagte Behörde besteht in der Rechtsmittelinstanz grundsätzlich eine formelle Beschwer durch die angefochtene Entscheidung; eine Beschwer der Behörde liegt allerdings nicht (mehr) vor, wenn der ursprünglich angefochtene Verwaltungsakt während des Rechtsmittelverfahrens gegenstandslos geworden ist.

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 13. November 2018 wird als unzulässig verworfen. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Im Streit sind höhere Leistungen nach dem AsylbLG wegen der seit 2017 unterbliebenen Neufestsetzung bzw. Fortschreibung der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG für die Zeit von Juni bis August 2018.

Der nach eigenen Angaben 1981 geborene Kläger stammt aus Afrika und ist ungeklärter Staatsangehörigkeit. Er reiste 1998 unter der Angabe einer Staatsangehörigkeit Sierra-Leones - die Ausländerstelle des beklagten Landkreises vermutet eine Staatsangehörigkeit Guineas - nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag, der Ende 1999 erfolglos blieb (Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 23. Juli 1999; Urteil des Verwaltungsgerichts Stade vom 2. Dezember 1999 - 3 A 1344/99 -). Während des Asylverfahrens war er dem Kreisgebiet des Beklagten, Gemeinde J., zugewiesen. Seit Abschluss des Verfahrens wird er wegen Passlosigkeit geduldet.

Der Kläger bezieht vom Beklagten zur Sicherung seines Lebensunterhalts Leistungen nach dem AsylbLG und bewohnt seit Juli 2017 eine von der Gemeinde J. im Auftrag des Beklagten zugewiesene Wohnung in einer Gemeinschaftsunterkunft, für die er der Gemeinde monatlich eine Nutzungsentschädigung von 200,00 EUR, eine Betriebskostenvorauszahlung von 90,00 EUR und (bis Mai 2018) einen Abschlagsbetrag für Stromkosten von 50,00 EUR zu entrichten hat (Einweisungsverfügung und Bescheid über die Zahlung einer Nutzungsentschädigung der Gemeinde J. vom 15. Juni 2017). Die Versorgung mit Haushaltsstrom übernimmt in der Gemeinschaftsunterkunft die Gemeinde J., die den entsprechenden Versorgungsvertrag abgeschlossen hat.

Mit Bescheid des Beklagten vom 1. Juni 2018 wurden dem Kläger für den Monat Juni 2018 Leistungen nach dem AsylbLG in Höhe von 644,00 EUR bewilligt, im Einzelnen Leistungen für den notwendigen und den notwendigen persönlichen Bedarf von 354,00 EUR und für Unterkunft und Heizung von 340,00 EUR unter Abzug der Stromkosten von 50,00 EUR. Den gegen diesen Bescheid gerichteten Widerspruch des Klägers wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 22. August 2018 mit der Begründung zurück, dem Kläger stünden auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Leistungen nach § 3 AsylbLG seit 2017 nicht neu festgesetzt bzw. fortgeschrieben sind, keine höheren Leistungen zu. Für die Leistungshöhe seien allein die im Bundesgesetzblatt bekanntgegebenen Bedarfssätze maßgeblich, zuletzt durch Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. I 390).

Auf die hiergegen am 2. September 2018 erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Stade den Beklagten durch Urteil vom 13. November 2018 antragsgemäß unter Abänderung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum von Juni bis August 2018 insgesamt weitere 18,00 EUR zu gewähren. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, dem Kläger stünden monatlich um 6,00 EUR höhere Leistungen zu, weil sich die Erhöhung der Bedarfssätze nach § 3 AsylbLG seit 2017 unmittelbar aus dem Gesetz ergebe (§ 3 Abs. 4 AsylbLG) und die nach § 3 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG vorgesehene Bekanntgabe der Sätze durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) nicht notwendige Voraussetzung für die Anhebung der Leistungen sei. Das SG hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

Gegen das Urteil des SG richtet sich die vom Beklagten am 13. Dezember 2018 eingelegte Berufung. Auch der Kläger hat zunächst Berufung eingelegt, diese aber zurückgenommen, weil das SG seinem Klagebegehren antragsgemäß entsprochen hatte. Während des Berufungsverfahrens hat der Beklagte über die dem Kläger für die Zeit von Juni 2018 bis April 2019 zustehenden Leistungen nach § 3 AsylbLG durch (Änderungs-) Bescheid vom 9. April 2019 (erneut) entschieden und hierbei anstelle der Stromkosten in monatlicher Höhe von 50,00 EUR einen Betrag für Wohnen, Energie und Instandhaltung (Abteilung 4 der Einkommensverbrauchsstichprobe 2008) in monatlicher Höhe von nur 33,86 EUR zum Abzug gebracht. Die bewilligten Leistungen belaufen sich auf 660,14 EUR je Monat.

Der Beklagte macht geltend, im vorliegenden Rechtsstreit sei wegen des Tenors und der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils über die zwischen den Beteiligten streitige und grundsätzliche Frage des Verfahrens bzw. der Fortschreibung bei der Leistungsanpassung nach § 3 Abs. 4 AsylbLG zu entscheiden. Unter Berufung auf die Rechtsauffassung der Bundesregierung (BT-Drs. 19/6663, S. 50), insbesondere des BMAS, und einer Literaturmeinung (Hohm in ZSFH SGB 2019, S. 68 ff.) ist er der Auffassung, die Fortschreibung der Bedarfssätze nach § 3 AsylbLG setze zwingend eine entsprechende Bekanntgabe des BMAS nach § 3 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG voraus. Für die Neufestsetzung der Bedarfssätze nach § 3 Abs. 5 AsylbLG sei wiederum ein Parlamentsgesetz erforderlich.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 13. November 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Schriftsätze vom 18. und 30. April 2019).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Leistungs- und Ausländerakten des Beklagten verwiesen. Diese Akten haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte und wegen der Zulassung durch das SG statthafte (§§ 143, 144 Abs. 3 SGG) Berufung des Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist unzulässig. Dem Beklagten fehlt seit Erlass des Bewilligungsbescheides vom 9. April 2019, durch den er dem Kläger über den Urteilsspruch des SG hinaus höhere Leistungen bewilligt hat, das Rechtsschutzbedürfnis für die Rechtsmittelinstanz; er ist durch die Entscheidung des SG nicht (mehr) beschwert.

Jede Rechtsverfolgung setzt ein Rechtschutzbedürfnis voraus. Als allgemeine Prozessvoraussetzung muss es (auch) im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. - wie hier - bis zu einer Entscheidung des Gerichts durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) vorliegen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, Vor § 51 Rn. 16 ff., 20 m.w.N.). In der Rechtsmittelinstanz genügt für die beklagte Behörde grundsätzlich eine formelle Beschwer durch die angefochtene Entscheidung, wenn etwa das Ausgangsgericht dem Antrag auf Klageabweisung nicht entsprochen hat (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, Vor § 143 Rn. 7 m.w.N.; differenzierend BSG, Urteil vom 17. November 2005 - B 11a/11 AL 57/04 R - juris Rn. 14; vgl. auch Wehrhahn in jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 143 Rn. 16 m.w.N.). Eine Beschwer der Behörde liegt allerdings nicht (mehr) vor, wenn der ursprünglich angefochtene Verwaltungsakt - z.B. wegen einer späteren Aufhebung durch die beklagte Behörde (BVerwG, Urteil vom 3. September 1968 - VIII CB 69.67 - Buchholz 310 § 161 Abs. 2 VwGO Nr. 25) oder eines für die Klägerseite erfolgreichen Zugunstenverfahrens (Leitherer, a.a.O., Rn. 9 m.w.N.) - während des Rechtsmittelverfahrens gegenstandslos geworden ist (vgl. etwa Senatsurteil vom 23. März 2017 - L 8 AY 40/13 - juris Rn. 22 für eine Grundentscheidung über eine mittlerweile verjährte Kostenforderung; vgl. auch zu vorbehaltslosen "Umsetzungsbescheiden" von gerichtlichen Entscheidungen Senatsbeschluss vom 7. Februar 2018 - L 8 AY 23/17 B ER - juris Rn. 10, Hess. LSG, Beschluss vom 22. Februar 2016 - L 9 AS 66/16 B ER - juris Rn. 5, LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 13. Januar 2014 - L 9 SO 20/13 B ER - juris Rn. 48, LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. Mai 2012 - L 19 AS 719/12 B ER - juris Rn. 12 und LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 30. August 2011 - L 5 AS 330/11 B ER - juris Rn. 17). So liegt der Fall hier.

Gegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG) ist nur noch der Bescheid des Beklagten vom 9. April 2019, soweit durch diesen dem Kläger für die Zeit von Juni bis August 2018 Leistungen nach dem AsylbLG bewilligt worden sind. Das SG hat insoweit in zeitlicher Hinsicht zu Recht entschieden, dass sich der Rechtsstreit (nur) auf den Zeitraum von Juni bis August 2018 erstreckt, weil auch die bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides ergangenen Leistungsbewilligungen in analoger Anwendung des § 86 SGG Gegenstand des Vorverfahrens geworden sind (vgl. BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8 AY 11/07 R - juris Rn. 10). Der während des Berufungsverfahrens ergangene Bescheid vom 9. April 2019 hat den ursprünglich angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 1. Juni 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. August 2018 (§ 95 SGG), durch den dem Kläger Grundleistungen nach § 3 AsylbLG in monatlicher Höhe von 644,00 EUR bewilligt worden sind, i. S. von § 96 Abs. 1 SGG für den streitgegenständlichen Zeitraum ersetzt.

Wegen der Bewilligung von um 16,44 EUR je Monat höheren Leistungen durch den Bescheid vom 9. April 2019 (Leistungen in monatlicher Höhe von 660,44 EUR) hat sich der Bescheid vom 1. Juni 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. August 2018 gemäß § 39 Abs. 2 SGB X auf andere Weise erledigt (vgl. BSG, Urteil vom 25. April 2018 - B 8 SO 24/16 R - juris Rn. 11 m.w.N.). Der Bescheid vom 9. April 2019 ist nicht in Ausführung des Urteils ergangen (zu den sog. Urteilsleistungen und deren Erstattung vgl. etwa BSG, Urteil vom 31. Oktober 1991 - 7 RAr 60/89 - juris Rn. 28), sondern endgültig aufgrund der nachträglich zugunsten des Klägers erfolgten Überprüfung des Abzugs für Haushaltsenergie. Damit hat der Beklagte dem Begehren des Klägers, ihm um 6,00 EUR je Monat höhere Leistungen als zunächst bewilligt zu gewähren (vgl. den betragsmäßig bezifferten Klageantrag in erster Instanz), in tatsächlicher Hinsicht entsprochen, allerdings ohne hierdurch prozessual ein Anerkenntnis i.S. des § 101 Abs. 2 SGG abgegeben zu haben; ein Bescheiderlass ist grundsätzlich - wie auch hier - keine prozessuale Willenserklärung (vgl. BSG, Urteil vom 10. Oktober 1978 - 7/12 RAr 46/77 - juris Rn. 14 f.; Stäbler in jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 101 Rn. 28). Gleichwohl kann der Beklagte die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils nicht beanspruchen, weil er durch eine stattgebende Entscheidung des Senats keine rechtlichen Vorteile (mehr) erlangen kann.

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist im vorliegenden Verfahren nicht isoliert über die Höhe der Bedarfssätze nach § 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG (notwendiger persönlicher Bedarf) und § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG (notwendiger Bedarf) im Jahr 2018 bzw. über die seit 2017 unterbliebenen Neufestsetzung und Fortschreibung dieser Leistungen zu entscheiden. Die Klage auf höhere Leistungen (sog. Höhenstreit) ist vom Gericht auch im Rahmen des § 3 AsylbLG unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt (vgl. BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R - juris Rn. 14) ohne Bindung an die Anträge (§ 123 SGG) zu prüfen (vgl. auch BSG, Urteil vom 28. Februar 2013 - B 8 SO 12/11 R - juris Rn. 12 m.w.N.). Die Prüfung der Bedarfssätze nach § 3 AsylbLG kann im vorliegenden Fall auch nicht im Rahmen eines abtrennbaren Streitgegenstandes (vgl. zur Beschränkung des Rechtstreits auf den Regelsatz nach dem SGB XII BSG, Urteil vom 19. Mai 2009 - B 8 SO 8/08 R - juris Rn. 13; zum SGB II BSG, Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 8/06 R - juris Rn. 18 ff.) erfolgen, ohne dass es auf die Höhe des Abzugs für Stromkosten bzw. für Wohnen, Energie und Instandhaltung (Abteilung 4 der Einkommensverbrauchsstichprobe 2008) ankommt. Diese Bedarfspositionen, um die die Geldbeträge nach § 3 AsylbLG bei der sog. Mischform der Leistungsgewährung (von sowohl Sach- als auch Geldleistungen) nach herrschender Meinung gekürzt werden können (vgl. dazu Frerichs in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 3 AsylbLG Rn. 165 ff.), sind untrennbarer Bestandteil des notwendigen Bedarfs nach § 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 2 AsylbLG. Dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers bereits im Widerspruchsverfahren erklärt hat, der Abzug für Stromkosten sei nicht zu beanstanden, ist insoweit für die gerichtliche Prüfung nicht relevant.

Auch wenn es im vorliegenden Verfahren nicht entscheidungserheblich ist, sieht sich der Senat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage der Höhe der Bedarfssätze nach § 3 AsylbLG seit 2017 und wegen einer Vielzahl von anhängigen Eilverfahren veranlasst, einen Ausblick auf seine voraussichtliche Rechtsprechung zu gewähren.

In Übereinstimmung mit der erstinstanzlichen Entscheidung tendiert der Senat nach gegenwärtigem Stand dazu, dass die Bedarfssätze nach § 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG (notwendiger persönlicher Bedarf) und nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG (notwendiger Bedarf) für die Zeit ab 2017 im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung (zumindest) gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 und 2 AsylbLG fortzuschreiben sind (so auch SG Stade, Urteil vom 11. April 2019 - S 19 AY 5/19 - juris Rn. 29 ff.; SG Bremen, Beschluss vom 15. April 2019 - S 40 AY 23/19 ER - juris Rn. 17 ff.). Hierfür sprechen eine mit dem Wortlaut des § 3 Abs. 4 und 5 AsylbLG zu vereinbarende Auslegung, die die Gesetzeshistorie und -systematik sowie den Sinn und Zweck der Aktualisierung der Leistungssätze berücksichtigt. Von besonderem Gewicht ist zudem die verfassungsrechtliche Bedeutung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG).

In Umsetzung des Urteils des BVerfG vom 18. Juli 2012 (-1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -) sind die Leistungssätze nach § 3 AsylbLG durch das Gesetz zur Änderung des AsylbLG und des SGG vom 10. Dezember 2014 (BGBl. I 2187) neu bestimmt und für die Jahre 2015 (mit Wirksamkeit ab 1. März 2015) und 2016 entsprechend der Veränderungsrate nach § 28a SGB XII (vgl. § 3 Abs. 4 AsylbLG) fortgeschrieben worden. Durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. I 391) ist der Bedarfssatz für den notwendigen persönlichen Bedarf nach § 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG (bis 23. Oktober 2015 gesetzlich als Bargeldbedarf bezeichnet) mit Wirkung vom 17. März 2016 abgesenkt worden, weil einzelne Bedarfspositionen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 im Rahmen der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG nach Auffassung des Gesetzgebers nicht bedarfsrelevant sein sollen.

Für das Jahr 2017 hatte der Gesetzgeber mit Vorliegen der Ergebnisse der bundesweiten neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 gemäß § 3 Abs. 5 AsylbLG die Höhe des Geldbetrags für alle notwendigen persönlichen Bedarfe (§ 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG) und die Höhe des notwendigen Bedarfs (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG) neu festzusetzen. Die zunächst mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des AsylbLG (BR-Drs. 713/16) beabsichtigte Neufestsetzung ist mit dem Ende der 18. Legislaturperiode am Grundsatz der Diskontinuität gescheitert.

Die Neufestsetzung der Bedarfssätze nach § 3 Abs. 5 AsylbLG ist nach dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip, nach dem der Gesetzgeber die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen hat, Aufgabe des Gesetzgebers (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 2/09 - juris Rn. 136) und kann nicht durch ein angerufenes Gericht erfolgen. Gleichwohl ist im Verhältnis der Norm zu § 3 Abs. 4 AsylbLG eine Fortschreibung der Bedarfssätze nicht ausgeschlossen, vielmehr - nicht zuletzt aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) - vorzugswürdig.

Wegen der grundrechtlich gebotenen Überprüfung und Weiterentwicklung der Höhe der Leistungen anhand der gegenwärtigen Umstände (BVerfG vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 72; BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - juris Rn. 140; BVerfG, Urteil vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - juris Rn. 79, 85) hat eine tatsächlich erfolgte Neufestsetzung aufgrund einer neuen EVS stets Vorrang vor einer Fortschreibung der Bedarfssätze. Das Gesetz enthält aber nach seinem Wortlaut keine Regelung darüber, wie im Falle der Gesetzeskonkurrenz zu verfahren ist, wenn bei Vorliegen einer neuen bundesweiten EVS sowohl der Tatbestand für die Fortschreibung der Bedarfssätze nach § 3 Abs. 4 AsylbLG als auch derjenige für die Neufestsetzung nach § 3 Abs. 5 AsylbLG erfüllt ist, letztere aber unterblieben ist. Eine Auslegung anhand der Gesetzeshistorie und -systematik spricht in diesem Fall (zumindest) für eine Fortschreibung der Leistungssätze. Bis zu der Entscheidung des BVerfG vom 18. Juli 2012 (- 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -) ist die Höhe der Geldleistungen im AsylbLG trotz erheblicher Preissteigerungen seit 1993 nicht verändert worden. Den vom Gesetzgeber im Jahr 1993 eingeführten Anpassungsmechanismus (BGBl. I 1993, 1074) hat der Verordnungsgeber nie umgesetzt. Der Gesetzgeber hat auf die Entscheidung des BVerfG mit der Neuregelung des AsylbLG zum 1. März 2015 denselben Fortschreibungsmechanismus wie im SGB XII eingeführt (vgl. BT-Drs. 18/2592, S. 24 f.). Insoweit sieht § 28a SGB XII vor, dass in Jahren, in denen keine Neuermittlung nach § 28 SGB XII erfolgt, die Regelbedarfsstufen jeweils zum 1. Januar mit der sich nach § 28a Abs. 2 SGB XII ergebenden Veränderungsrate fortgeschrieben werden. Die Vorschrift stellt nach ihrem Wortlaut auf die tatsächlich "erfolgte" Neufestsetzung der Regelbedarfsstufen ab, so dass auch bei einer wegen des Vorliegens einer neuen EVS an sich erforderlichen, aber unterbliebenen Neufestsetzung die Regelbedarfsstufen fortzuschreiben sind. Dies entspricht auch Sinn und Zweck der Vorschrift einer realitätsgerechten Fortschreibung des Existenzminimums aufgrund eines Mischindexes, der sowohl die bundesdurchschnittliche Entwicklung der Preise als auch der Nettolöhne und Nettogehälter je Beschäftigten im Vorjahr berücksichtigt (vgl. BT-Dr. 17/3404, S. 122; BT-Drs. 18/9984, S. 80; zur Verfassungsmäßigkeit der Fortschreibungsregelung vgl. BVerfG, Urteil vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 - juris Rn. 136-139). Eine Fortschreibung der Leistungssätze ist auch nach einer verfassungskonformen Auslegung des § 3 Abs. 4 und 5 AsylbLG angezeigt, weil mit der (Weiter-) Geltung der Bedarfssätze nach § 3 AsylbLG für das Jahr 2016 auch für die Jahre 2017, 2018 und 2019 - entgegen § 3 Abs. 4 und 5 AsylbLG - eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) einhergehen dürfte (in diese Richtung auch Hohm in ZSFH SGB 2019, 68, 72).

Einer Fortschreibung der Geldbeträge für alle notwendigen persönlichen Bedarfe nach § 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG und den notwendigen Bedarf nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 und 2 AsylbLG steht im gerichtlichen Verfahren nicht entgegen, dass das BMAS eine Bekanntgabe der in den Jahren 2017, 2018 und 2019 geltenden Bedarfssätze nicht vorgenommen hat (a.A. Hohm in ZSFH SGB 2019, 68 ff.). Nach § 3 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG gibt das BMAS jeweils spätestens bis zum 1. November eines Kalenderjahres die Höhe der nach § 3 Abs. 4 Satz 1 und 2 AsylbLG fortgeschriebenen Bedarfe, die für das folgende Kalenderjahr maßgebend sind, im Bundesgesetzblatt bekannt. Bei der Beurteilung, welchen Rang die Bekanntgabe i.S. des § 3 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG in der Normenhierarchie zukommt und ob sie für die Gerichte bindend ist, kann im Rahmen einer gerichtlichen Prüfung offenbleiben, ob diese den Anforderungen des Demokratie- (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) und Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) an die Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen des Gesetzgebers an die Exekutive entspricht (vgl. dazu jüngst BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 - 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15 -). Ihr kommt jedenfalls nicht der Rang eines Parlamentsgesetzes zu und unterliegt - wie auch eine Verordnung - der vollen gerichtlichen Überprüfung (a.A. Hohm, a.a.O., S. 71f.).

Auf welchem Wege die Bedarfssätze nach § 3 AsylbLG für das Jahr 2017 fortzuschreiben sind, also ob insoweit auf die Veränderungsrate nach § 28a SGB XII i.V.m. der Verordnung nach § 40 Satz 1 Nr. 1 SGB XII für die Zeit ab 1. Januar 2016 abzustellen ist oder eine Veränderungsrate aus der Neufestsetzung der Regelbedarfsstufen nach dem SGB XII aufgrund des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I 3159) hergeleitet werden kann, lässt der Senat zum gegenwärtigem Stand unbeantwortet.

Allerdings bedarf es auch im Falle der Fortschreibung der Bedarfssätze für die Jahre 2017 bis 2019 jedenfalls in einem Hauptsacheverfahren noch der grundlegenden Prüfung, ob die Bedarfssätze nach § 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG (in der durch Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016, BGBl. I 390, festgesetzten Höhe) überhaupt den prozeduralen Vorgaben des BVerfG (vgl. etwa Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 und 2/11 Rn. 62 ff.) zur Bestimmung eines menschenwürdigen Existenzminimums genügen (vgl. dazu Senatsbeschlüsse vom 1. November 2018 - L 8 AY 37/18 B ER - und 9. Mai 2018 - L 8 AY 7/18 NZB - m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11. Juli 2017 - L 20 AY 4/17 B - juris Rn. 28; krit. auch Frerichs in jurisPK-AsylbLG, 2. Aufl. 2014, § 3 Rn. 60.1 ff.; Oppermann, jurisPR-SozR 16/2016 Anm. 1; Siefert in Siefert, AsylbLG, 1. Aufl. 2018, § 3 Rn. 40 f.; vgl. zum Meinungsstand auch Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 3 Rn. 44).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.