Sozialgericht Stade
Urt. v. 11.04.2019, Az.: S 19 AY 5/19

Gewährung von höheren Grundsicherungsleistungen für einen Asylbewerber i.R.d. Leistungsanpassung bei der Leistungsberechnung

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
11.04.2019
Aktenzeichen
S 19 AY 5/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 10374
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Unter Aufhebung des Bescheides vom 21.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.02.2019 wird der Beklagte dazu verpflichtet den Bescheid vom 16.08.2018 dahingehend abzuändern, dass den Klägern weitere 351,00 EUR gewährt werden ... Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Kläger begehren höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Die 1970 geborene Klägerin und der am 02.02.2011 geborene Kläger stammen nach eigenen Angaben aus Eritrea. Im Januar 2018 reisten sie in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten einen Asylantrag. Am 17.01.2018 wurden sie dem beklagten Landkreis zugeordnet. Auf ihren Antrag hin erhielten sie Leistungen nach § 3 AsylbLG. Seit Bekanntmachung des Asylverfahrenbeschleunigungsgesetzes (AsylVfBeschlG) vom 20. Oktober 2015 wurde der notwendige Bedarf gemäß § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG nicht mehr angepasst. Der notwendige persönliche Bedarf nach § 3 Abs. 1 Satz 8 AsylbLG wurde zuletzt mit dem Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren (AsylVfBeschlG II) vom 11. März 2016 zum 01. April 2016 neu gefasst. Mit dem Entwurf eines dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes sollte eine Neufestlegung der Bedarfe nach § 3 AsylbLG zum 1. Januar 2017 anhand der Einkommens- und Verbraucherprobe 2013 erfolgen. Der Bundesrat stimmte dem Gesetz allerdings nicht zu. Dieses Gesetz ist nach dem Grundsatz der Diskontinuität mit dem Ende der 18. Wahlperiode erledigt. In der Folge ist es nicht zu einer Anpassung der Leistungshöhe von § 3 Abs. 1 und Abs. 2 AsylbLG gekommen. Mit Bescheid vom 16.08.2018 wurden den Klägern Leistungen nach § 3 Abs. 1 und Abs. 2 AsylbLG für den Zeitraum vom 01.09.2018 bis 30.11.2018 bewilligt. Bei der Leistungsberechnung ist der Beklagte bei der Klägerin dem Grund nach von einem Anspruch von 354 EUR und beim Kläger von 242 EUR ausgegangen. In dem Bescheid worden auch die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung für die Unterbringung in eine Flüchtlingsunterkunft übernommen. Die Nebenkosten betrugen pauschal 200,00 EUR. Weitere Kosten für die Unterkunft hatten die Kläger nicht. Sie mussten keinen Stromabschlag bezahlen. Der Beklagte übernahm in seinem Bewilligungsbescheid die Nebenkosten in voller Höhe, reduzierte die Grundsicherungsleistungen der Kläger jedoch jeweils um 50,00 EUR monatlich.

Mit Folgebescheid vom 02.11.2018 erhielten die Kläger ab Dezember 2018 Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG. Am 22.11.2018 beantragten die Kläger eine Überprüfung des Bescheides vom 16.08.2018, da der Auszahlungsbetrag zu niedrig berechnet worden seien. Dies lehnte der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 21.12.2018 ab. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 27.02.2019 zurückgewiesen. Auf die Begründung des Widerspruchbescheides wird ergänzend Bezug genommen. Die Kläger haben am 11.03.2019 Klage vor dem Sozialgericht Stade erhoben. Sie tragen vor, dass der pauschale Abzug von 50,00 EUR pro Person von ihren Grundsicherungsleistungen nach § 3 Abs. 1 und Abs. 2 AsylbLG nicht gerechtfertigt sei. Es stehe gar nicht fest, ob und in welchem Umfang Stromkosten in den pauschalen Nebenkosten der Einrichtung vorhanden seien. Des Weiteren habe der Beklagte versäumt die gesetzlich vorgeschriebene Erhöhung der Leistungen gemäß § 3 Abs. 4 AsylbLG vorzunehmen.

Für die Kläger wird beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 21.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.02.2019, den Beklagten zu verpflichten den Bescheid vom 16.08.2018 dahingehend abzuändern, dass den Klägern weitere 351,00 EUR gewährt werden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat den Beklagten erfolglos dazu aufgefordert, eine Probeberechnung gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 AsylbLG durchzuführen. Das Gericht hat in einem anderen Verfahren (S 19 AY 1/19 ER) gegen einen anderen Landkreis ebenfalls eine Proberechnung angefordert, die dort auch durchgeführt worden ist. Diese Probeberechnung hat das Gericht zur Entscheidungsfindung herangezogen. Danach hätten sich die zuletzt zum 01.04.2016 festgesetzten Geldleistungen für alleinstehende Leistungsberechtigte von 354,00 EUR zum 01.01.2017 um 1,24 % und zum 01.01.2018 um 1,63 % auf den gerundeten Betrag von 364,00 EUR erhöht. Bei der Bedarfsstufe 5 würde sich der Leistungsbetrag von 242,00 EUR auf 249,00 EUR erhöhen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Die Kläger haben gemäß § 44 Abs. 1 SGB X gegenüber dem Beklagten einen Anspruch darauf, dass dieser den bestandskräftig gewordenen Bewilligungsbescheid vom 16.08.2018 dahingehend abändert, dass den Klägern insgesamt weitere 351,00 EUR bewilligt wird. Gemäß § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt auch nachdem er unanfechtbar geworden ist mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt worden ist und soweit deshalb Leistungen zu Unrecht nicht erbracht worden. Mit Bewilligungsbescheid vom 16.08.2018 ist das Recht unrichtig angewandt worden und die Kläger haben deswegen 351,00 EUR zu wenig erhalten. Der Beklagte hat bei seiner Leistungsberechnung zu Unrecht ein Pauschalbetrag von 50,00 EUR mtl. pro Person abgezogen. Zwar hat der Beklagte nur die tatsächlichen Kosten der Unterkunft ohne Energie- und Wohnungsinstandhaltungskosten zu übernehmen, da diese Werte im Regelbedarf vorhanden sind. Vorliegend kann die Kammer jedoch nicht feststellen, in welchem Umfang in den pauschalen Nebenkosten diese Beträge enthalten sind. Es bleibt unklar, welcher Anteil davon für die Wohnungsinstandhaltung und Energiekosten insbesondere Stromkosten aufgewandt wird. Nach Überzeugung der Kammer ist der Beklagte daher nicht dazu berechtigt, die Leistungen an die Kläger um einen pauschalen Betrag abzusenken. Da unklar bleibt, ob und in welchem Umfang überhaupt Stromkosten in den Nebenkosten enthalten sind, ist auch ein Rückgriff auf die entsprechenden Verbrauchsanteile im Regelbedarf nach der EVS 2008 oder 2013 nicht möglich. Die Kläger haben auch einen höheren Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach § 3 Abs. 1 und Abs. 2 AsylbLG. Ein höherer Anspruch ergibt sich im hier streitigen Zeitraum noch nicht aus § 2 Abs. 1 AsylbLG, da sich die Kläger noch nicht 15 Monate ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufgehalten haben. Sie haben jedoch aus § 3 Abs. 1 und Abs. 2 AsylbLG einen um 17,00 EUR monatlich höheren Anspruch als vom Beklagten festgesetzt worden ist. Der Beklagte hätte die durch das Gesetz vorgesehene Leistungsanpassung nach § 3 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 AsylbLG bei der Leistungsberechnung berücksichtigen müssen. Danach werden zum 1. Januar eines Jahres die Leistungen entsprechend der Veränderungsrate nach dem SGB XII angepasst. Die sich dabei ergebenden Beträge sind zu runden. Zum 1. Januar 2018 ist es zu einer Erhöhung der Regelbedarfe nach dem SGB XII gekommen. Wie sich aus der oben dargestellten Proberechnung eines anderen Landkreises korrekt ergibt, führt eine entsprechende Anwendung der Veränderungsrate auf die Leistungen nach § 3 AsylbLG zu einem monatlichen Leistungsanspruch der Klägerin von 364 EUR und beim Kläger von 249 EUR. Da der Beklagte bei der Leistungsberechnung nur von 354 EUR und 242 EUR ausgegangen ist, haben die Kläger einen weiteren Anspruch auf 17 EUR mtl. (364 EUR - 354 EUR = 10 EUR; 249 EUR - 242 EUR = 7 EUR; 10 + 7 EUR = 17 EUR). Diese Erhöhung des Leistungsanspruchs ergibt sich direkt aus dem Gesetz. Dass laut Widerspruchbescheid dies die Bundesregierung ablehnt, ist für das Gericht nach Art. 97 Abs. 1 GG nicht bindend. Die dort wiedergegebene Rechtsauffassung wird zudem nicht nachvollziehbar begründet. Die Leistungserhöhung ist an die Erhöhung der Regelbedarfe nach dem SGB XII gekoppelt. Soweit die Leistungsveränderung nach dem SGB XII feststeht, sind die Leistungen nach § 3 AsylbLG entsprechend anzupassen. Durch die Fortschreibung der Regelbedarfe liegt eine den Leistungsberechtigten zugutekommende Dynamik vor, um ein jahrelanges statistisches Festhalten an nicht mehr realitätsgerechten Festsetzungen zu vermeiden (siehe Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, 6. Aufl. 2018, AsylbLG § 3 Rn. 67). Der Leistungsbezieher hat daher einen einklagbaren Anspruch darauf, dass ihm die Leistungen auch in angepasster Höhe bewilligt werden. Eine vorherige Entscheidung durch den Gesetz- oder Verordnungsgeber ist dagegen nicht notwendig, da die Norm die Berechnung zur Erhöhung vorgibt und somit eine wesentliche Entscheidung nicht zu erfolgen hat. Auch aus § 3 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG folgt nicht, dass vor der Anpassung der Leistungshöhe noch eine Entscheidung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erfolgen muss. Danach hat das Ministerium nur die Höhe der Bedarfe im Bundesgesetzblatt bekanntzugeben. Die unterlassene Bekanntgabe durch das Ministerium führt jedoch nicht dazu, dass die durch das Gesetz vorgeschriebene Anpassung zu unterbleiben hat. Die Bekanntgabe ist nicht die notwendige Voraussetzung für die Anhebung der Leistungen, sondern soll nur dafür sorgen, dass alle Leistungsträger durch das Ministerium über die neue Höhe rechtzeitig informiert werden, damit diese nicht selbst die notwendigen Berechnungsschritte vornehmen müssen (so auch Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 3 AsylbLG 1. Überarbeitung, Rn. 179). Soweit § 3 Abs. 5 AsylbLG vorschreibt, dass bei einer neuen bundesweiten Einkommens- und Verbrauchsprobe die notwendigen persönlichen Bedarfe und die Höhe des notwendigen Bedarfs neu festgesetzt wird, führt dies entgegen der im Widerspruchbescheid wiedergegebenen Auffassung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nicht dazu, dass bei einer Unterlassung dieser Neufestsetzung keine Erhöhung nach § 3 Abs. 4 AsylbLG mehr zu erfolgen hat. Bis zu einer tatsächlichen Neufestsetzung durch den Gesetzgeber ist weiterhin die gesetzliche vorgeschriebene Erhöhung nach § 3 Abs. 4 AsylbLG durchzuführen (entgegen Birk in: LPK-SGB XII/ Bieritz-Harder/Conradis/Thie, 11. Aufl. 2018, AsylbLG § 3 Rn. 26). Durch eine gescheiterte gesetzliche Neuregelung wird die dynamische Anpassungsregelung gerade nicht außer Kraft gesetzt, sondern bleibt bestehen. Soweit der Beklagte im Widerspruchbescheid auf den Sinn und Zweck der Veröffentlichungsvorschrift hinweist, ist dies insoweit korrekt, dass dadurch tatsächlich sichergestellt werden soll, dass die Leistungsberechnung in jedem Landkreis gleich ausfällt. Zweck der Vorschrift ist dagegen nicht, dass bei einer unterlassenen Bekanntgabe die gesetzlich vorgeschriebene Leistungserhöhung nicht durchgeführt werden soll. Kommt das Bundesministerium seiner Pflicht zur Bekanntgabe der höheren Leistungssätze nicht nach, kann der Zweck der bundeseinheitlichen Leistungsgewährung eventuell nicht sofort erfüllt werden. In diesem Fall sind alle Landkreise dazu verpflichtet, die Leistungsberechnung unter Berücksichtigung der zwingenden gesetzlichen Anpassungsvorschrift selbst vorzunehmen. Dass es dann eventuell zunächst zu unterschiedlichen Berechnungsergebnissen kommt, ist die Folge davon, dass das Bundesministerium seiner gesetzlichen Pflicht zur Bekanntgabe nicht nachkommt. Die unterlassene Rechtsanwendung des Ministeriums geht dagegen nicht zu Lasten der Leistungsempfänger. Zudem ist die Leistungsberechnung der Landkreise gerichtlich überprüfbar. Die Gerichte klären dabei auch, ob die Anpassungsvorschrift korrekt angewandt worden ist. Durch den Instanzenzug bis zum Bundessozialgericht wird eine einheitliche Rechtsprechung sichergestellt, so dass es auch bei zunächst auseinanderfallenden Anpassungsberechnungen und Rechtsprechungen im Endeffekt zu einer Harmonisierung der Berechnung kommen wird. Durch den fehlerhaft vorgenommenen Abzug von 50,00 EUR pro Person und gleichzeitig höheren Leistungsanspruch von insgesamt 17,00 EUR monatlich ist den Klägern somit 117,00 EUR monatlich zu wenig bewilligt worden. Da der Bescheid vom 16.08.2018 Leistungen für drei Monate bewilligt, haben die Kläger einen Anspruch darauf, dass ihnen insgesamt für diesen Zeitraum weitere 351,00 EUR gewährt und ausgezahlt werden. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Die Berufung ist gemäß § 144 Abs. 2 Satz 1 SGG zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die Frage, ob die Leistungsbezieher aus § 3 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG einen einklagbaren Anspruch darauf haben, dass ihre Leistungen auch ohne Veröffentlichung durch das Bundesministerium oder eine Entscheidung des Gesetzgebers entsprechend der Erhöhung der Regelbedarfe nach dem SGB XII angepasst werden, ist derzeit noch nicht höchst richterlich geklärt.