Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 06.11.2003, Az.: 3 A 344/02
Bedarfsgemeinschaft; Einsatzgemeinschaft; Familiennotgemeinschaft; Hilfe zur Arbeit; Individualanspruch; Kostenerstattung
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 06.11.2003
- Aktenzeichen
- 3 A 344/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 48274
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 11 Abs 1 S 2 BSHG
- § 19 BSHG
- § 107 Abs 2 BSHG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Entfällt der Hilfebedarf für die Familienmitglieder aufgrund der einem Mitglied der Einsatzgemeinschaft des § 11 I Satz 2 BSHG gewährten Hilfe zur Arbeit durch Finanzierung einer Vollzeitstelle für länger als zwei Monate, so entfällt auch die Kostenerstattungspflicht für diese Familienmitglieder (§ 107 II BSHG).
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.276,24 EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Erstattung von Sozialhilfeleistungen, die er in der Zeit vom 01.05. bis 31.07.2000 an Frau G. und ihre zwei Kinder geleistet hat.
Frau G. zog zusammen mit ihren beiden Kindern zum 01.08.1998 aus dem Bereich des Beklagten in den Zuständigkeitsbereich des Klägers, wo sie Hilfe zum Lebensunterhalt erhielt. Die für den Beklagten handelnde Gemeinde I. erstattete die entsprechenden Sozialhilfeaufwendungen des Klägers für den Zeitraum vom 01.08.1998 bis 31.07.1999 gemäß § 107 BSHG.
Nachdem auch der zuvor getrennt lebende Ehemann J. G. aus dem Bereich des Beklagten in den Bereich des Klägers verzogen war, erbrachte der Kläger ab 01.08.1998 Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt für die gesamte Familie. Herr G. wurde ab dem 16.08.1999 im Rahmen eines kommunalen Beschäftigungsprogramms als Arbeiter auf einem Bauhof eingestellt. Es wurde ein Arbeitsvertrag abgeschlossen und Herr G. in ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gemäß § 19 Abs. 2 BSHG übernommen. Für diese Maßnahme wurden von dem Kläger als örtlichem Träger der Sozialhilfe Fördermittel in Höhe von 90 % des Tariflohns inklusive der Arbeitgeberanteile an der Sozialversicherung zur Verfügung gestellt. Die sonstige Zahlung von Hilfe zum Lebensunterhalt wurde ab dem 01.09.1999 eingestellt. Am 18.04.2000 fuhr Herr G. nach Russland und kehrte nicht zur Familie zurück. Deswegen wurde Frau G. und den Kindern ab 01.05.2000 wieder laufende Hilfe zum Lebensunterhalt gezahlt. Auf Antrag des Klägers erstattete die für den Beklagten handelnde Gemeinde gemäß § 107 BSHG die Kosten für die bis April 2000 gewährte Hilfe gemäß § 19 BSHG (32.688,91 DM), lehnte aber gleichzeitig eine Kostenerstattung für die Hilfe, die für den Zeitraum ab 01.05.2000 bis 31.07.2000 an Frau G. und die Kinder gewährt wurde, ab mit der Begründung, es sei der Tatbestand des § 107 Abs. 2 BSHG gegeben, wonach ein Erstattungsanspruch entfalle, wenn für einen zusammenhängenden Zeitraum von zwei Monaten keine Hilfe zu gewähren war.
Nach längerem Schriftwechsel hat der Kläger am 28.11.2002 Klage erhoben, mit der er die Verurteilung des Beklagten zur Kostenerstattung auch für die in dem Zeitraum vom 01.05. bis 31.07.2000 gewährten Sozialhilfeleistungen begehrt. Er macht geltend, dass ein Fall des § 107 Abs. 2 BSHG nicht vorliege. Dieser setze voraus, dass objektiv für einen zusammenhängenden Zeitraum von mindestens zwei Monaten eine Hilfe nicht erforderlich war. Der Bedarfsgemeinschaft sei aber auch in dem Zeitraum Sozialhilfe gewährt worden, in dem Herr G. im Rahmen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses gearbeitet habe. Es sei in der Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass es sich bei der Hilfeleistung gemäß § 19 Abs. 2 BSHG dem Wesen nach um eine Sozialhilfeleistung handele, d. h. um Hilfe zum Lebensunterhalt, wie aus der systematischen Stellung des § 19 BSHG folge. Die Möglichkeit, gemäß § 19 Abs. 2 BSHG statt der Hilfe zum Lebensunterhalt Arbeitsentgelt zu zahlen, sei damit eine Alternative für eine sonst zu gewährende Hilfe zum Lebensunterhalt, die in Art, Form und Maß den Bedürfnissen, Interessen und Ansprüchen der Hilfeempfänger entsprochen habe und sich als Sozialhilfeleistung erweise. Diese Hilfe sei Herrn G. und der Familie anstelle der Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt worden, und damit allen der Bedarfsgemeinschaft angehörenden Mitgliedern zugekommen. Dieser Gemeinschaft sei damit durchgehend Sozialhilfe gewährt worden, so dass auch die ab dem 01.05.2000 an Frau G. und ihre Kinder gewährte Hilfe nach § 107 BSHG zu erstatten sei. Der Unterbrechungstatbestand des § 107 Abs. 2 BSHG liege nicht vor.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 2.276,24 EUR nebst 5 % Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt er aus, dass es zwar zutreffend sei, dass die an Herrn G. vom Kläger gewährte Hilfe zur Arbeit kostenerstattungsrechtlich eine Sozialhilfeleistung darstelle. Diese sei von ihm demzufolge auch erstattet worden. Bei dieser Hilfegewährung handele es sich allerdings ausschließlich um eine Herrn G. gewährte Hilfe, dem damit eine Arbeitsaufnahme und damit Versorgung seiner Familie ermöglicht worden sei. Die übrigen Familienangehörigen, nämlich Frau G. und die Kinder, hätten wegen des bedarfsdeckenden Einkommens des Herrn G. einen Sozialhilfeanspruch nicht mehr gehabt. Damit sei für Frau G. und die Kinder der Unterbrechungstatbestand des § 107 Abs. 2 BSHG gegeben. Auf Sozialhilfeleistungen bestehe immer ein Individualanspruch, d.h. die Hilfe könne nur unmittelbar geleistet werden. In der Zeit vor dem 01.05.2000 sei die Hilfe in Form von Lohnkostenzuschüssen unmittelbar nur Herrn G. gewährt worden, während die weiteren Familienmitglieder keine unmittelbaren Hilfeleistungen erhalten hätten. Hilfeempfänger im Sinne des § 107 BSHG sei somit nur Herr G. gewesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Verwaltungsvorgänge des Klägers Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung waren.
Beide Parteien haben einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Erstattung der in der Zeit vom 01.05.2000 bis 31.07.2000 an Frau G. und ihre Kinder erbrachten Sozialhilfeleistungen. Die zunächst unstreitig bestehende Kostenerstattungspflicht des Beklagten nach dem Umzug von Frau G. und ihren Kindern in den Bereich des Klägers ist zum 01.05.2000 nach § 107 Abs. 2 BSHG entfallen, weil für Frau G. und ihre Kinder für einen zusammenhängenden Zeitraum von mehr als zwei Monaten keine Sozialhilfeleistungen zu gewähren waren. Die Herrn G. in der Zeit von August 1999 bis zum April 2000 gewährte Hilfe zur Arbeit in der Form des § 19 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. BSHG, d. h. durch Schaffung einer Arbeitsgelegenheit, für die das übliche Arbeitsentgelt vom Sozialhilfeträger gewährt wurde, stellt entgegen der Ansicht des Klägers keine Sozialhilfeleistung an die gesamte Familie, d. h. alle Mitglieder der Familie, dar, sondern eine Hilfeleistung allein an den Ehemann. Dies folgt aus den Grundprinzipien des Sozialhilferechts. Nach dem BSHG wird Hilfe zum Lebensunterhalt nicht mehr der Familiennotgemeinschaft oder Bedarfsgemeinschaft gewährt, sondern es besteht ein Individualanspruch des Einzelnen, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen kann (§ 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG). An diesem Individualanspruch ändert der Umstand nichts, dass bei Zusammenleben von mehreren Personen in einem Haushalt, insbesondere bei der aus Eltern und minderjährigen Kindern bestehenden Familie, die Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 2 der VO zur Durchführung des § 22 BSHG (RegelsatzVO) abgestuft festgesetzt wird und dass dem Bedarf der Familie – ungeachtet der Eigenständigkeit der Ansprüche der einzelnen Familienmitglieder auf Sozialhilfe – das anrechenbare Einkommen gegenüberzustellen ist, das den einzelnen Familienmitgliedern zufließt (§ 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG – Einsatzgemeinschaft - vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 15.12.1977, Az. 5 C 35.77, in FEVS 26, 99-106). Auch der bei einem Umzug des Sozialhilfeempfängers bestehende Erstattungsanspruch des Zuzugssozialhilfeträgers besteht nach den §§ 107, 111 BSHG in der Form, dass der aufnehmende Sozialhilfeträger die jedem einzelnen Hilfeempfänger geleisteten Sozialhilfeaufwendungen erstattet verlangen kann. Etwas anderes folgt nicht aus § 111 Abs. 2 Satz 2 BSHG. § 111 Abs. 2 S. 2 BSHG regelt lediglich die Bagatellgrenze, bis zu der eine Kostenerstattung nicht verlangt werden kann, in der Form, dass durch die Neuregelung seit dem 01.07.1996 für die Bagatellgrenze auf den Gesamtnettoaufwand für alle Mitglieder einer Einsatzgemeinschaft nach § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG abgestellt wird. Dies bedeutet nicht, dass vom Grundsatz her nicht mehr auf den Aufwand für jeden einzelnen Hilfeempfänger abzustellen wäre (vgl. hierzu Schellhorn/Schellhorn, BSHG, 16. Aufl., § 111 Rz. 30).
Ausgehend von diesen Grundsätzen trifft die Auffassung des Beklagten zu, dass in dem Zeitraum vom September 1999 bis April 2000, also in einem Zeitraum von mehr als zwei Monaten, an Frau G. und ihre Kinder weder Sozialhilfeleistungen erbracht wurden, noch diese selbst sozialhilfebedürftig waren. Vom Beklagten zu erstattende und erstattete Leistungen sind in Form der gewährten Lohnzuschussleistungen für die Hilfe zur Arbeit an Herrn G. erbracht worden mit der Folge, dass wegen des Bestehens von Unterhaltspflichten des Herrn G. eine Sozialhilfebedürftigkeit der übrigen Familienmitglieder nicht bestand. Diese waren auch nicht Hilfeempfänger der dem Ehemann und Vater gewährten Hilfe zur Arbeit. Auch diese Hilfe wird, als Unterfall der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt, individuell einem Hilfeempfänger und nicht einer Familie oder Familiennotgemeinschaft gewährt.
Der Beklagte hat dementsprechend die Herrn G. gewährte Hilfe auch an den Kläger erstattet. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass die in den Monaten August 1999 bis April 2000 geleisteten Zahlungen für Herrn G. deutlich höher waren als die ansonsten zu zahlen gewesene Hilfe zum Lebensunterhalt (vom 01.09.1999 bis 31.03.2000 Aufwand für Hilfe zur Arbeit in Höhe von monatlich 3.813,56 DM, Aufwand für die Hilfe zum Lebensunterhalt im Monat Mai 2000 1.481,04 DM).
Die Klage ist deswegen mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708, 711 ZPO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 13 Abs. 1 GKG.