Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 26.11.2002, Az.: 6 K 812/01
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Beweisvereitelung durch die Beseitigung von Briefumschlägen von fristwahrenden Schriftsätzen
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 26.11.2002
- Aktenzeichen
- 6 K 812/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 14091
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2002:1126.6K812.01.0A
Rechtsgrundlagen
- § 110 AO
- § 122 Abs. 2 AO
Fundstellen
- DB 2010, 29
- EFG 2003, 582-583
- KÖSDI 2003, 13758
- V&S 2003, 7
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Verzögerungen bei der Briefbeförderung oder -zustellung, die der Stpfl. nicht zu vertreten hat und auf die er keinen Einfluss besitzt, dürfen nicht als dessen Verschulden gewertet werden.
- 2.
Der Bürger kann darauf vertrauen, dass die von der Deutschen Post AG für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten bei Inlandsbeförderung auch eingehalten werden.
- 3.
Durch die Beseitigung des Briefumschlages, auf dem der Poststempel der Deutschen Post den Eingang im Postbereich dokumentiert und aus dem die Rechtzeitigkeit des Einwurfs entnommen werden kann, wird die Aktenkundigkeit der für eine Wiedereinsetzung erforderlichen Tatsachen verhindert.
- 4.
Vereitelt oder erschwert ein Beteiligter dem anderen die Benutzung eines Beweismittels, so führt das gem. § 44 ZPO zu Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr.
- 5.
Dieser Rechtsgedanke ist auch im Fall der Wiedereinsetzung auf die Frage der Aktenkundigkeit von Tatsachen anzuwenden. Bewahrt die Finanzbehörde Briefumschläge von fristwahrenden Schriftsätzen nicht auf, aus denen sich die Tatsachen für eine Wiedereinsetzung ergeben können, muss sie sich so behandeln lassen, als ob sie den Briefumschlag zu den Akten genommen hätte.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte der Klägerin im Einspruchsverfahren Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren musste.
Die Klägerin legte durch ihren Steuerberater Einspruch mit Schreiben vom 23.01.1998 gegen den mit einfachen Brief bekanntgegebenen Körperschaftsteuerbescheid 1991 vom 29.12.1997 ein. Das Einspruchsschreiben ging nach dem auf den Schreiben angebrachten Eingangsstempel des Beklagten am Dienstag, den 03.02.1998, ein. Mit Kurzmitteilung vom 08.04.1998 teilte der Beklagte dem Steuerberater mit, dass der Einspruch noch nicht abschließend hätte bearbeitet werden können und er weitere Nachricht bis zum 10.05.1998 erhalte.
Im Januar 2001 meldete sich der Beklagte erstmals wieder beim Steuerberater und wies diesen auf den verspäteten Eingang des Einspruchs hin. Daraufhin erklärte der Steuerberater der Klägerin mit Schreiben vom 30.01.2001, dass der Einspruch gemäß Vermerk im Postausgangsbuch am 30.01.1998 zur Post gegeben worden sei und damit innerhalb des Ortes nach normaler Postbeförderung spätestens am 02.02.1998 beim Beklagten hätte eintreffen müssen. Eine Kopie des Postausgangsbuches reichte der Steuerberater nach.
Der Beklagte verwarf den Einspruch durch Einscheidung vom 17.10.1998 als unzulässig. Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes. Zur Begründung trägt sie im wesentlichen vor, der Einspruch gegen den Körperschaftsteuerbescheid 1991 sei rechtzeitig am 30.01.1998 von einem Angestellten des Steuerberaters in den nächstliegenden Postkasten zwischen 16.00 und 16.15 Uhr eingeworfen worden. Dieser Briefkasten werde montags bis freitags um 16.30 Uhr und samstags um 11.30 Uhr geleert. Bei normaler Postbeförderung innerhalb des Ortes hätte der Einspruch folglich am Montag, den 02.02.1998 beim Finanzamt eingehen müssen. Dies wäre rechtzeitig gewesen, so dass weder die Klägerin noch ihren Steuerberater ein Verschulden an der Versäumung der Frist treffe. Auf die Versäumung der Jahresfrist könne sich das Finanzamt aufgrund seines vorhergehenden Verhaltens nicht berufen.
Die Klägerin beantragt,
den Einspruchsbescheid vom 17.Oktober 2001 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt der Beklagte aus, dass eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren sei. Auf ein Verschulden der Klägerin oder des Vertreters komme es nicht an, weil innerhalb der Jahresfrist des § 110 Abs. 3 AO kein Wiedereinsetzungsantrag gestellt worden sei. Eine Wiedereinsetzung von Amts wegen sei ausgeschlossen, weil die maßgebenden Wiedereinsetzungsgründe nicht aus den Akten erkennbar gewesen seien. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz des Beklagten vom 15.04.2002 (Bl. 32 FGA) Bezug genommen.
Gründe
I.
Die Klage ist begründet. Der Einspruchsbescheid verletzt die Klägerin in ihren Rechten, da der Beklagte zu Unrecht keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hat.
1.
Der Einspruch wurde von der Klägerin zwar verspätet eingelegt. Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Nach unstreitigem Sachverhalt hat der Beklagte den Körperschaftsteuerbescheid 1991 am 29. Dezember 1997 mit einfachem Brief zur Post gegeben. Er gilt damit gemäß § 122 Abs. 2 AO am 01. Januar 1998 als bekannt gegeben. Die einen Monat betragende Einspruchsfrist (§ 355 Abs. 1 AO 1977) lief damit am Montag den 2. Februar 1998 ab (§ 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2, § 193 BGB). Der Einspruch der Klägerin ist erst am 3. Februar 1998 beim Beklagten eingegangen.
2.
Der Klägerin hätte vom Beklagten jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müssen. Nach § 110 Abs. 1 AO ist einem Steuerpflichtigen, der ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ist innerhalb der Antragsfrist die versäumte Handlung - wie im Streitfall die Einlegung des Einspruchs - nachgeholt worden, so kann gemäß § 110 Abs. 2 S. 4 AO Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden.
a)
Die Klägerin trägt kein Verschulden an dem Fristversäumnis. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) dürfen Verzögerungen bei der Briefbeförderung oder -zustellung, die der Stpfl. nicht zu vertreten hat und auf die er auch keinen Einfluss besitzt, nicht als dessen Verschulden gewertet werden. In Fällen der Postlaufzeiten bei Inlandsbeförderung kann der Bürger darauf vertrauen, dass die von der Deutschen Post AG nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten auch eingehalten werden (vgl. BFH-Beschluss vom 6. April 1995 VIII B 61/94, BFH/NV 1996, 137, 138).
In der Verantwortung des Beteiligten liegt es nur, das zu befördernde Schriftstück den postalischen Bestimmungen entsprechend und so rechtzeitig zur Post zu geben, dass es nach diesen organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Deutschen Post AG bei regelmäßigem Dienstablauf den Empfänger fristgerecht erreicht (BFH-Urteil vom 11. Januar 1994 IX R 90/92, BFH/NV 1994, 633, 634 m.w.N.).
Mit dem Einwurf des Einspruchsschreibens am Freitag den 30.01.1998 hat die Klägerin die in ihrem Verantwortungsbereich liegenden Vorkehrungen getroffen, um den fristgerechten Zugang des Einspruchs zu gewährleisten. Nach unbestrittenem Vortrag der Klägerin, der durch den Auszug des Postausgangsbuchs und die schriftliche Bestätigung des Bediensteten des Steuerberaters der Klägerin belegt wird, ist das Einspruchsschreiben am 30.01.1998 spätestens um 16.15 Uhr in einen Briefkasten eingeworfen worden, der noch am Freitag um 16.30 Uhr geleert werden sollte. Nach der innerhalb des Ortes, an dem sowohl die Kanzlei des Steuerberaters als auch das Finanzamt ansässig ist, geltenden üblichen Postlaufzeiten wäre der Einspruch spätestens am Montag, den 02.02.1998 und damit rechtzeitig eingetroffen. Die durch die Postbeförderung gleichwohl eingetretene Verspätung fällt damit nicht in den Verantwortungsbereich der Klägerin.
b)
Eine Wiedereinsetzung von Amts wegen kommt allerdings nur in Betracht, wenn die eine Wiedereinsetzung rechtfertigenden Gründe offensichtlich, d.h. offenkundig oder amtsbekannt sind (z.B. BFH-Urteile in BFH/NV 1988, 681 [BFH 17.09.1987 - III R 259/84]; vom 26. November 1976 III R 125/74, BFHE 121, 15, BStBl II 1977, 246). Mit dem Erfordernis, dass Wiedereinsetzungsgründe innerhalb der Antragsfrist geltend zu machen sind, soll eine zügige und sachgerechte Behandlung des Wiedereinsetzungsantrages sichergestellt und die Unsicherheit darüber, ob es bei den Folgen der Fristversäumnis bleibt, in engen Grenzen gehalten werden (z.B. BFH-Urteil vom 15. Dezember 1977 VI R 179/75, BFHE 124, 141, BStBl II 1978, 240). Amtsbekannt sind Wiedereinsetzungsgründe grds. dann, wenn sie aktenkundig sind (BFH Beschluss vom 06.10.1993, X B 85-86/93, BFH/NV 1994, 680).
c)
Zwar sind die ein Verschulden der Klägerin ausschließenden Tatsachen weder offenkundig noch aktenkundig. Die Klägerin ist aufgrund des Verhaltens des Beklagten jedoch so zu stellen, als wenn die Tatsachen aktenkundig wären. Der Beklagte hat den Briefumschlag, den das vom Steuerberater der Klägerin übersandte Einspruchsschreiben enthielt, nicht zu den Aktenvorgängen genommen, sondern vernichtet. Durch die Beseitigung des Briefumschlages, auf dem der Poststempel der Deutschen Post den Eingang im Postbereich dokumentiert, aus dem die Rechtzeitigkeit des Einwurfs und damit das fehlende Verschulden der Klägerin hätte entnommen werden können, hat der Beklagte selbst die Aktenkundigkeit der für eine Wiedereinsetzung erforderlichen Tatsachen verhindert.
Vereitelt oder erschwert ein Beteiligter dem anderen Beteiligten die Benutzung eines Beweismittels, so führt das gemäß § 444 ZPO zu Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr (vgl. Zöller, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 22. Aufl. 2001, § 444 Rdnr. 1 m.w.N.). Dabei enthält § 444 ZPO einen allgemeinen Rechtsgedanken, der es dem Richter ermöglicht, das - die Benutzung eines bestimmten Beweismittels vereitelnde oder erschwerende, schuldhafte - Verhalten des Gegners im Rahmen der freien Beweiswürdigung dahingehend zu würdigen, dass der Beweis geführt ist (vgl. BVerwG-Urteil vom 26.04.1960, II C 68.58; BVerwGE 10, 270). Dieser Rechtsgedanke wird ferner auf Fälle übertragen, in denen ein Beteiligter seine Aufklärungspflicht verletzt und den Gegner hierdurch in Beweisnot bringt (LG Köln, DB 1989, 1780).
Der Senat hält es für sachgerecht, diesen Rechtsgedanken auch im Fall der Wiedereinsetzung auf die Frage der Aktenkundigkeit von Tatsachen anzuwenden. Bewahrt die Finanzbehörde Briefumschläge von fristwahrenden Schriftsätzen nicht auf, aus denen sich die Tatsachen für eine Wiedereinsetzung ergeben können, muss sie sich so behandeln lassen, als ob sie den Briefumschlag zu den Akten genommen hätte. Anderenfalls läge es in der Hand des Finanzamtes, das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung von Amts wegen gerade in den allgemein anerkannten Fällen der verzögerten Postbeförderung zu erschweren oder zu vereiteln.
Für den Streitfall ist der sich aufgrund des unstreitigen Tatsachenvortrages, der im Übrigen auch durch das Postausgangsbuch und die schriftliche Bestätigung des Angestellten des Steuerberaters belegt wurde, ergebende Sachverhalt deshalb dahingehend zu würdigen, dass dem Finanzamt bei Aufbewahrung des Briefumschlages aufgrund des Stempelaufdrucks die von der Klägerin nicht zu vertretene Verzögerung des Postlaufs bekannt gewesen wäre. Bei einer derartigen Sachlage ist das Finanzamt verpflichtet gewesen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Aus diesem Grund war die Einspruchsentscheidung aufzuheben.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 1 und 3, 155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.