Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 22.01.2010, Az.: 11 K 274/08

Bedeutung der Sperrfrist beim Arbeitslosengeld für den Bezug von Kindergeld

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
22.01.2010
Aktenzeichen
11 K 274/08
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 26160
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2010:0122.11K274.08.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 11.08.2010 - AZ: III B 34/10
BFH - 27.09.2012 - AZ: III R 48/10

Fundstellen

  • EFG 2011, 64-66
  • EStB 2011, 119

Kindergeld Oktober und November 2003 und April - Oktober 2006

Zur Bedeutung der Sperrfrist beim Arbeitslosengeld für den Bezug von Kindergeld

Tatbestand

1

Streitig ist die Gewährung von Kindergeld für die Monate Oktober 2003 bis November 2003 sowie April 2006 bis Oktober 2006.

2

Die Klägerin, geb. am 22. Juli 1971, hat die armenische Staatsangehörigkeit und ist Mutter von drei Kindern (M, geb. am 14. Januar 1991, A, geb. am 4. Februar 1992 und B, geb. am 18. Juli 1993). Sie ist ledig. Die Klägerin ist seit dem 7. Juni 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Vorher hatte sie seit 2002 nach § 30 Abs. 4 Ausländergesetz (AuslG) eine Aufenthaltsgenehmigung. Die Klägerin war in der Zeit von 2002 bis zum 19. September 2003 bei der X Warenhaus GmbH mit 30 Stunden pro Woche erwerbstätig. Das Arbeitsverhältnis wurde von Seiten der Klägerin gekündigt. Nach Ablauf der Sperrfrist gem. § 144 Sozialgesetzbuch (SGB) III erhielt sie ab Dezember 2003 Arbeitslosengeld (sog. ALG I). Vom 16. August 2004 bis zum 28. Februar 2005 war sie Vollzeit bei der Y GmbH erwerbstätig. Von Juni 2005 bis Ende Dezember 2005 betrieb sie selbständig ein Bier- und Speiserestaurant. Die Gaststätte brannte 2005 aus. Das Gewerbe wurde am 24. März 2006 abgemeldet. In dem Zeitraum von November 2006 bis Mai 2007 war die Klägerin bei der Z OHG geringfügig beschäftigt.

3

Am 24. August 2007 erließ die Beklagte einen Bescheid über die Gewährung von Kindergeld ab Juni 2007. Dagegen legte die Klägerin mit dem Begehren Einspruch ein, auch vor diesem Zeitraum Kindergeld zu gewähren. Mit Festsetzungsbescheid vom 15. Mai 2008 kam die Beklagte teilweise diesem Begehren nach. Sie lehnte aber die Gewährung von Kindergeld für die drei Kinder u.a. für den Zeitraum von Oktober 2003 bis November 2003 sowie April 2006 bis Oktober 2006 ab und erließ eine entsprechende Einspruchsentscheidung am 20. Mai 2008. Kindergeld für die Sperrzeit (Oktober 2003 und November 2003) könne nicht gewährt werden. Für den Zeitraum April 2006 bis Oktober 2006 fehle es an einer Erwerbstätigkeit oder einem Ersatztatbestand nach § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b Einkommensteuergesetz (EStG). Dagegen erhob die Klägerin Klage.

4

Sie trägt vor, dass auch für die Monate Oktober 2003 und November 2003 Kindergeld zu gewähren sei, da die Sperrfrist nach § 144 SGB III für die Gewährung von Kindergeld unerheblich sei. Dies ergebe sich auch aus einer Entscheidung des Niedersächsischen Finanzgerichts.

5

Für den weiteren Zeitraum von April 2006 bis Oktober 2006 habe die Klägerin ebenfalls Anspruch auf Kindergeld. Die Klägerin ging zwar in dieser Zeit keinerlei Erwerbstätigkeit nach. Dies sei aber unerheblich, da der Regelung des § 62 Abs. 2 EStG im Hinblick auf das dort niedergelegte Erwerbserfordernis, erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken begegnen würden.

6

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 15. Mai 2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20. Mai 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Kindergeld für ihre Kinder M, A und B für den Zeitraum Oktober 2003 bis November 2003 sowie April 2006 bis Oktober 2006 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

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Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Er trägt vor, dass die Voraussetzungen nach § 62 Abs. 2 EStG nicht vorliegen würden. Die gesetzliche Regelung des § 62 Abs. 2 EStG sei nicht verfassungswidrig.

9

Der Senat hat mit Beschluss vom 14. Dezember 2009 den Rechtsstreit gem. § 6 Finanzgerichtsordnung (FGO) dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Entscheidungsgründe

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I.

Die Klage ist teilweise begründet.

11

Die Beklagte ist nicht verpflichtet, der Klägerin für die Monate April 2006 bis Oktober 2006 Kindergeld zu gewähren, da die Voraussetzungen nach § 62 Abs. 2 EStG nicht vorliegen. Die Klägerin hat aber Anspruch auf Kindergeld für ihre Kinder M, A und B für die Monate Oktober 2003 bis November 2003.

12

1. Monate Oktober 2003 bis November 2003

13

a.

Nach § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG hat derjenige, der eine Aufenthaltserlaubnis u.a. nach § 25 Abs. 5 AufenthG besitzt (s. § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG i.V.m. § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c EStG), nur dann einen Anspruch auf Kindergeld, wenn er sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a EStG) und im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig ist, laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch bezieht oder Elternzeit in Anspruch nimmt (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG).

14

b.

Die Klägerin erfüllt im Streitfall diese Voraussetzungen für den Streitzeitraum Oktober 2003 und November 2003.

15

Sie hielt sich seit mehr als drei Jahren im Bundesgebiet rechtmäßig gestattet auf. Sie hatte seit dem 7. Juni 2005 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Die vorher für die Zeit seit 2002 nach § 30 Abs. 4 Ausländergesetz (AuslG) erteilte Aufenthaltsgenehmigung galt gem. § 101 Abs. 2 AufenthG als Aufenthaltserlaubnias nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Sie war zwar nicht erwerbstätig; jedoch erhielt sie Geldleistungen nach SGB III. Sie erhielt nach Ablauf der Sperrfrist nach § 144 SGB III ab Dezember 2003 Geldleistungen in Form von Arbeitslosengeld I.

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Damit hatte die Klägerin als Rechtsfolge auch Anspruch auf Kindergeld für ihre drei Kinder in den Monaten Oktober 2003 und November 2003. Liegen die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG vor, hat der Anspruchsberechtigte Anspruch auf Kindergeld ab dem Kalendermonat, in dem der dreimonatige Mindestaufenthalt endet (Pust in Littmann/Bitz/Pust, Einkommensteuerrecht (Loseblatt), § 62 Rz. 225; vgl. auch Seibel in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuerrecht Körperschaftsteuerrecht (Loseblatt), § 62 Anm. J 06-3 a.E.).

17

c.

Die Sperrfrist ändert daran nichts. Denn es kommt nach den Gesetzesmaterialien zu den durch das Gesetz zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss v. 13. Dezember 2006 (BGBl. I 2006, 2915; BStBl. I 2007, 62) in § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG eingeführten Voraussetzungen nicht darauf an, dass der Anspruchsberechtigte in jedem Monat auch eine Geldleistung nach SGB III erhalten hat. Entscheidend ist, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass die ausländischen Staatsangehörigen sich vorübergehend in Deutschland aufhalten werden. Dies ist auch anzunehmen bei ausländischen Staatsangehörigen, die zwar noch nicht über einen verfestigten Aufenthaltsstatus verfügen, aber bei denen neben einem Aufenthaltstitel noch ein weiterer Anhaltspunkt hinzukommt, der mit einem voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt regelmäßig einhergeht. Dieses Indiz ist die Erwerbstätigkeit. Liegt eine Erwerbstätigkeit nicht vor, so reicht auch die Annahme aus, dass der Betreffende "nur vorübergehend nicht erwerbstätig" ist (BR-Drucks. 68/06, 11f). Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses und die nachfolgende Zeit der Arbeitslosmeldung mit Bezug von Arbeitslosengeld (sog. ALG I) reicht an sich für diese Annahme daher aus. Dass innerhalb der Sperrfrist keine Geldleistungen nach SGB III gewährt werden, hat hingegen einen anderen Zweck und ist daher für den Bezug von Kindergeld unerheblich. Der Sinn der Sperrzeitregelung ist allein, die Versichertengemeinschaft typisierend gegen Risikofälle zu schützen (Niesel, Sozialgesetzbuch Arbeitsförderung - SGB III, 4. Aufl. 2007, § 144, Rz. 2 m.w.Nachw.). Der Senat folgt insoweit im Ergebnis einer Entscheidung des 16. Senats des Niedersächsischen Finanzgerichts (Urt. v. 31. Januar 2008 16 K 343/07, [...] - Rev. eingelegt Az. BFH: III R 14/08 -, der jedoch maßgeblich darauf abstellt, dass der Anspruch auf Arbeitslosengeld im Zeitraum der Sperrfrist nicht erloschen ist, sondern nur ruht. Die Entscheidung erging zudem auch zum Kindergeldanspruch nach deutsch-jugoslawischem Sozialabkommen und nicht nach § 62 Abs. 2 EStG; s. aber auch Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 28. Aufl. 2009, § 62 Rz. 10).

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2. Monate April 2006 bis Oktober 2006

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a.

Anders ist jedoch der Zeitraum April 2006 bis Oktober 2006 zu beurteilen. In dieser Zeit liegen die Voraussetzungen für den Anspruch auf Kindergeld nicht vor. Die Klägerin war weder erwerbstätig, noch erhielt sie Geldleistungen nach SGB III oder hat Elternzeit in Anspruch genommen. Von einem voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt konnte daher nach den vom Gesetzgeber geschaffenen Voraussetzungen nicht ausgegangen werden.

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Zwar war die Klägerin ab November 2006 wieder als geringfügig Beschäftigte tätig; jedoch war die Feststellung der Erwerbstätigkeit nach den Entscheidungskriterien des Gesetzgebers nicht im April 2006 (anders als für den Zeitraum Oktober 2003 und November 2003) abzusehen, so dass von einem voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt nicht ausgegangen werden konnte.

21

b.

Es ist auch von Verfassung wegen nicht geboten, der Klägerin einen Anspruch auf Kindergeld für diesen Zeitraum zuzuerkennen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) (Urt. v. 15. März 2007 III R 93/03, BFH/NV 2007, 1234; Urt. v. 15. März 2007 III R 54/05, BFH/NV 2007, 1298; Urt. v. 22. November 2007 III R 54/02, BFH/NV 2008, 457; Urt v. 22. November 2007 III R 61/04, BFH/NV 2008, 769; Urt. v. 22. November 2007 III R 63/04 BFH/NV 2008, 771; Urt. v. 22. November 2007 III R 60/99, BFH/NV 2008, 846; Beschl. v. 20. August 2008 III S 14/08, [...]; Beschl. v. 14. Mai 2008 III S 22/08, BFH/NV 2008, 1330; vgl. auch BVerfG Beschl. v. 6. November 2009 2 BvL 4/07, [...]) handelte der Gesetzgeber im Rahmen des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums, als er im Zuge der Neuregelung der Kindergeldberechtigung von Ausländern in § 62 Abs. 2 EStG durch Art. 2 des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13. Dezember 2006 (a.a.O.) den Anspruch auf Kindergeld vom Besitz bestimmter Aufenthaltstitel abhängig machte, bei bestimmten Titeln, die einen schwächeren aufenthaltsrechtlichen Status vermitteln, darüber hinaus von einem mindestens drei Jahre andauernden rechtmäßigen, gestatteten oder geduldeten Aufenthalt im Bundesgebiet und von einer Integration in den deutschen Arbeitsmarkt. Ein Aufenthalt aufgrund einer Duldung berechtigt auch nach neuem Recht nicht zum Bezug von Kindergeld (BFH-Urt. v. 15. März 2007 III R 93/03, BFH/NV 2007, 1234). Die Neuregelung war notwendig geworden, weil nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) die Regelung der Kindergeldberechtigung von Ausländern in § 1 Abs. 3 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993, die mit der früheren Fassung des § 62 Abs. 2 EStG nahezu übereinstimmte, insoweit unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) war, als die Gewährung von Kindergeld allein von der Art des Aufenthaltstitels abhing (Beschl. vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114).

22

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO, die zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 151 Abs. 1 und Abs. 3 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.