Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 27.12.2006, Az.: 1 U 82/06

Anspruch einer Mutter gegen einen Arzt auf Unterhaltszahlungen für ein Kind wegen irrtümlicher Verschreibung eines Präparats gegen Wechseljahrbeschwerden anstatt eines Kontrazeptivums; Höhe des Unterhaltsschadens in Form des Barunterhaltsschadens und des Wertes der zusätzlichen Betreuungsleistungen aufgrund der Geburt eines ungewollten Kindes; Höhe des Mitverschuldensanteils einer Patientin im Hinblick auf die Lektüre des Beipackzettels bei irrtümlich verschriebenem Präparat ohne empfängnisverhütende Wirkung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
27.12.2006
Aktenzeichen
1 U 82/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 34525
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2006:1227.1U82.06.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Verden - 27.07.2006 - AZ: 5 O 158/06

Fundstellen

  • FamRB 2007, 191 (Kurzinformation)
  • GesR 2007, 487-488
  • NJW 2007, 1000-1001 (Volltext mit red. LS)
  • OLGReport Gerichtsort 2007, 471-473

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Infolge eines ärztlichen Beratungs- oder Behandlungsfehlers sind die mit der Geburt eines nicht gewollten Kindes für die Eltern verbundenen wirtschaftlichen Belastungen, insbesondere die Aufwendungen für dessen Unterhalt, als ersatzpflichtiger Schaden auszugleichen, sofern gerade der Schutz vor solchen Belastungen Gegenstand des Beratungs- bzw. Behandlungsvertrages war.

  2. 2.

    Die am Vertragszweck ausgerichtete Haftung des Arztes oder Krankenhausträgers ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt in den Fällen fehlgeschlagener Sterilisationen aus Gründen der Familienplanung, fehlerhafter Beratung über die Sicherheit der empfängnisverhütenden Wirkungen eines vom Arzt verordneten Hormonpräparates sowie in den Fällen fehlerhafter genetischer Beratung vor Zeugung eines genetisch behinderten Kindes.

  3. 3.

    Der Gesamtschaden bestimmt sich nach dem Barunterhaltsschaden und nach dem Wert der notwendigen zusätzlichen Betreuungsleistungen.

  4. 4.

    Sofern der Schaden bei Beachtung eines Medikamenten-Beipackzettels seitens der Patientin vermeidbar gewesen wäre, kommt ein Mitverschulden der Geschädigten in Betracht. Bei verschreibungspflichtigen Medikamenten ist allerdings regelmäßig von einem überwiegenden Verschulden des Arztes bzw. des Krankenhausträgers auszugehen.

  5. 5.

    Der gänzliche Wegfall der Haftung des Arztes kommt lediglich dann in Betracht, wenn der innere Grund der haftungsrechtlichen Zurechnung, d.h. die Störung der Familienplanung, nachträglich weggefallen ist. Die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich dieses Umstandes trägt der beklagte Arzt.

In dem Rechtsstreit
...
hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
durch
den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. H sowie
die Richter am Oberlandesgericht S und Dr. G
auf die mündliche Verhandlung vom 11. Dezember 2006
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 27. Juli 2006 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Verden teilweise geändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

  1. 1.

    Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin für das Kind Sarah L, geb. am 14. März 2006, monatlich im voraus, beginnend mit dem 1. März 2006, bis zum Eintritt der Volljährigkeit (30.03.2024) 75% des Unterhaltsschadens in Höhe von 270% des Regelbetrages der jeweiligen Altersstufe der Regelbetragsverordnung abzüglich des jeweils gezahlten Kindergeldes zu zahlen.

  2. 2.

    Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.375 EUR zzgl. Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 10. Mai 2006 zu zahlen.

  3. 3.

    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

  4. 4.

    Die Kosten der ersten Instanz werden der Klägerin zu 10% und dem Beklagten zu 90% auferlegt.

    Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

Es wird zunächst auf die tatsächlichen Feststellungen der angefochtenen Entscheidung verwiesen.

2

Mit ihrer Berufung begehrt die Klägerin teilweise Änderung der angefochtenen Entscheidung. Während sie die Abweisung hinsichtlich eines Teilbetrages ihres materiellen Schadens hinnimmt, wendet sie sich zum einen gegen die Annahme eines 50%-igen Mitverschuldens, zum anderen dagegen, dass das Landgericht für den Zeitraum ab dem 12. Lebensjahr lediglich einen geminderten Betreuungsbedarf angenommen hat. Demgemäß führt sie die Berufung mit dem Ziel, für den gesamten Zeitraum bis zur Volljährigkeit ihrer Tochter 75% des Unterhaltsschadens in Höhe von 270% des Regelbetrages der jeweiligen Altersstufe der Regelbetragsverordnung zu erstreiten.

3

Sie meint, dass allenfalls ein Mitverschulden von 25% anzusetzen sei; als Patientin und medizinischer Laie müsse sie sich auf die Verschreibung des Arztes verlassen können. Auf Grund des Freizeitverhaltens größerer Kinder und Jugendlicher sei es nicht gerechtfertigt, den Betreuungsbedarf ab dem 12. Lebensjahr zu reduzieren.

4

Der Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung unter Wiederholung und Ergänzung seines erstinstanzlichen Vortrages.

5

Die Berufung ist begründet.

6

Zutreffend hat das Landgericht einen Behandlungsfehler des Beklagten bejaht, der diesen zum Ersatz des der Klägerin entstehenden Unterhaltsschadens verpflichtet.

7

Zwar hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat die rechtliche Anerkennung eines derartigen Schadens grundsätzlich in Zweifel gezogen, der Senat sieht aber auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine Möglichkeit, der vom Beklagten vertretenen Ansicht zu folgen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind die mit der Geburt eines nicht gewollten Kindes für die Eltern verbundenen wirtschaftlichen Belastungen, insbesondere die Aufwendungen für dessen Unterhalt, als ersatzpflichtiger Schaden auszugleichen, wenn der Schutz vor solchen Belastungen Gegenstand des jeweiligen Behandlungs- oder Beratungsvertrages war (vgl. zuletzt BGH-Urteil vom 14. November 2006 - VI ZR 48/06 -). Diese - am Vertragszweck ausgerichtete - Haftung des Arztes oder Krankenhausträgers ist vom Bundesgerichtshof insbesondere bejaht worden für Fälle fehlgeschlagener Sterilisationen aus Gründen der Familienplanung (BGHZ 76, 259 [BGH 18.03.1980 - VI ZR 247/78]/262; BGH VersR 1995, 1099/1101), bei fehlerhafter Beratung über die Sicherheit der empfängnisverhütenden Wirkungen eines vom Arzt verordneten Hormonpräparates (BGH VersR 1997, 1422 ff.) sowie für Fälle fehlerhafter genetischer Beratung vor Zeugung eines genetisch behinderten Kindes (BGHZ 124, 128 ff.) Diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss des 1. Senats vom 12. November 1997 als verfassungsrechtlich unbedenklich erachtet (BverfGE 96, 375, 297 ff.).

8

Der Streitfall gehört nach den Feststellungen des Landgerichts, die gemäß § 529 Abs. 1 ZPO für den Senat bindend sind, zu diesen Fallgruppen. Eine Haftung des Beklagten dem Grunde nach ist daher zu bejahen.

9

Auf Grund des Behandlungsfehlers ist der Beklagte zum Ersatz des Unterhaltsschadens verpflichtet. Dabei geht es in Fällen der vorliegenden Art - jenseits aller weltanschaulichen Erwägungen und aller Überlegungen, die das Eltern-Kind-Verhältnis betreffen - lediglich darum, dass eine von den Eltern nicht gewünschte Belastung der wirtschaftlichen Verhältnisse durch die Vertragsverletzung des Arztes herbeigeführt wird und dieser Vertragsverletzung zuzurechnen ist (vgl. grundsätzlich BGHZ 124, 128/138 sowie BVerfGE 1996, 275/400). Der Arzt, der einen vom Patienten gewünschten Erfolg verspricht, diesen aber durch fehlerhafte Behandlung vereitelt, soll für die dadurch verursachte Belastung haften.

10

Eine solche rein schadensrechtliche Betrachtung wird bei das Vermögen schädigenden Vertragsverletzungen außerhalb des Arzthaftungsrechts auch nicht ernsthaft in Zweifel gezogen. Der Einwand, das schädigende Verhalten beeinträchtige die Lebensplanung des Vertragspartners nur auf Zeit, kann allenfalls für die Schadenshöhe, nicht aber für die grundsätzliche Haftungsfrage von Bedeutung sein (BGH-Urteil vom 14. November 2006 - VI ZR 48/06 -). Eine Mutter, die den - gesellschaftlich weitgehend akzeptierten - Entschluss fast, auf ein Kind zu verzichten, um beispielsweise ihr berufliches Fortkommen zu sichern, kann nicht mit Erfolg darauf verwiesen werden, sie müsse die Vereitelung ihrer Lebensplanung entschädigungslos hinnehmen, weil sie sich in Zukunft möglicherweise doch einmal entschlossen haben würde, Kinder zu bekommen. Die Haftung des Arztes entfällt nur dann, wenn im Einzelfall der innere Grund der haftungsrechtlichen Zurechnung, nämlich die Störung der Familienplanung, nachträglich weggefallen ist, was der beklagte Arzt darzulegen und zu beweisen hat (BGHZ 76, 259 [BGH 18.03.1980 - VI ZR 247/78]/265).

11

Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist der Senat der Auffassung, dass bis zum Eintritt der Volljährigkeit der Unterhaltsschaden in Höhe von 270% des Regelsatzes der jeweiligen Altersstufe der Regelbetragsverordnung besteht. Dieser im Wege der Schadensschätzung (§ 287 ZPO) ermittelte Satz entspricht der vom Bundesgerichtshof in vergleichbaren Fällen gebilligten Schadenshöhe (vgl. zuletzt BGH-Urteil vom 14. November 2006 - VI ZR 48/06 -). Dabei entfallen jeweils 135% auf den Barunterhaltsschaden und 135% entsprechen dem Wert der zusätzlichen Betreuungsleistungen. Betreffend den Barunterhaltsschaden hat der Arzt von den wirtschaftlichen Belastungen, die aus der von ihm zu verantwortenden Geburt eines Kindes hergeleitet werden, nur denjenigen Teil zu übernehmen, der für die Existenzsicherung des Kindes erforderlich ist. Dem wird der Betrag in Höhe von 135% des Satzes der Regelbetragsverordnung gerecht. Nach der Streichung des § 1615 f BGB a.F., auf den der Bundesgerichtshof in einer älteren Entscheidung noch verwiesen hatte (BGH VersR 1997, 698/700), ist nun für den Unterhalt eines minderjährigen Kindes auf einen vom Hundertsatz des jeweiligen Regelbetrags der Regelbetragsverordnung (vom 6. April 1998) abzustellen. Als Existenzminimum des Kindes sind 135% des Regelbetrages anzusehen (BGH NJW 2003, 1112/1114; OLG Oldenburg, VersR 2004, 654 [OLG Oldenburg 04.03.2003 - 12 U 36/02] f. [OLG Oldenburg 04.03.2003 - 12 U 36/02]).

12

Hinsichtlich des Wertes der Betreuungsleistungen ist ein Zuschlag in Höhe des Barunterhaltes zuzuerkennen. Zwar liegt die Überlegung nahe, dass sich der Betreuungsaufwand bei zunehmendem Alter des Kindes verringern und deshalb ein Betrag in Höhe von 135% schadensrechtlich als überhöht erscheinen kann (so etwa OLG Oldenburg VersR 2004, 654 [OLG Oldenburg 04.03.2003 - 12 U 36/02]/655 f.), gleichwohl ist ein Zuschlag in dieser Höhe zulässig (BGHZ 76, 259, 270 [BGH 18.03.1980 - VI ZR 247/78] f. [BGH 18.03.1980 - VI ZR 247/78]; BGH-Urteil vom 14. November 2006 - VI ZR 48/06 -). Die Erwägung, dass die Kindesmutter bei fortgeschrittenem Alter des Kindes zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verpflichtet sein kann, ist in diesem Zusammenhang - anders als im Unterhaltsrecht und bei der Regulierung von Personenschäden gemäß § 844 Abs. 2 BGB - ohne Bedeutung; denn es geht hier nicht um den eigenen Unterhalt der Klägerin, auf den ein zu erzielender Arbeitsverdienst angerechnet werden kann, sondern um deren Belastung mit der Unterhaltsverpflichtung für das Kind, die auch bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ungeschmälert bestehen bleibt. Ein Zuschlag in Höhe von 135% des Regelsatzes ist daher bei der Bemessung des Betreuungsunterhaltsschadens als angemessener Ausgleich anzusehen, zumal der "Betreuungsaufwand" gegenüber älteren Kindern und Jugendlichen in zeitlicher Hinsicht nicht hinter dem Aufwand zurücksteht, der gegenüber Kindern vor Vollendung des 12. Lebensjahres zu erbringen ist.

13

Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist der Senat auch der Meinung, dass der Klägerin allenfalls ein Mitverschuldensanteil in Höhe von 25% anzulasten ist. Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge sieht der Senat den deutlich überwiegenden Teil auf Seiten des Beklagten. Zwar ist richtig, dass auf dem Beipackzettel des der Klägerin verordneten Medikamentes Trisequens eine empfängnisverhütende Wirkung nicht aufgeführt ist, es ergibt sich aus diesem Zettel aber auch nicht das Gegenteil. Die Klägerin, die insoweit auf die überlegene Kenntnis des Beklagten vertrauen durfte, war daher nicht gezwungen, nach dem Studium des Beipackzettels - der im Übrigen nach dem Verständnis des durchschnittlichen Lesers allenfalls dazu dient, sich über die Art der Einnahme und mögliche unerwünschte Nebenwirkungen, nicht hingegen über die Wirkung zu informieren, weil wegen dieser ja gerade die Verschreibung erfolgt ist - Rücksprache beim Arzt zu nehmen. Der Beklagte hingegen hat sowohl bei der Erstverschreibung am 14. Januar 2005 als auch im Juni 2005 bei der Ausstellung des

14

Folgerezeptes fahrlässig nicht bemerkt, dass er kein empfängnisverhütendes Präparat, sondern ein solches gegen verordnet hatte. Dies rechtfertigt es, ihm das überwiegende Verschulden in Höhe von 75% anzulasten.

15

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91, 92; 708 Nr. 10, 713; 543 ZPO.