Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 05.12.2006, Az.: 4 AR 83/06
Rüge der sachlichen Zuständigkeit eines Amtsgerichts nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache durch das Landgericht wegen eines Verfahrensmangels; Vorliegen eines diesbezüglichen Hinweises bis zur Einlegung der Berufung; Verlust des Rügerechts durch das zwischenzeitlich geführte Berufungsverfahren
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 05.12.2006
- Aktenzeichen
- 4 AR 83/06
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 30255
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2006:1205.4AR83.06.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - AZ: 1 O 264/06
- AG Winsen - AZ: 22 C 493/04
Rechtsgrundlage
- § 504 ZPO
Amtlicher Leitsatz
Die sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts kann auch nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache durch das Landgericht wegen eines Verfahrensmangels noch gerügt werden, wenn bis zur Einlegung der Berufung ein Hinweis nach § 504 ZPO unterblieben ist, weil die fehlende sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts übersehen wurde und das Amtsgericht diesen Hinweis erst nach Zurückverweisung der Sache erteilt; ein Verlust des Rügerechts durch das zwischenzeitlich geführte Berufungsverfahren ist nicht eingetreten.
In dem Verfahren
über die Bestimmung des zuständigen Gerichts
hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...,
den Richter am Oberlandesgericht ... und
den Richter am Oberlandesgericht ...
am 5. Dezember 2006
beschlossen:
Tenor:
Das Landgericht Lüneburg ist zuständig.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei.
Gründe
I.
In dem bereits seit 2004 vor dem Amtsgericht Winsen (Luhe) anhängigen Verfahren streiten die Parteien um einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz aufgrund der Verletzung von Aufklärungspflichten im Rahmen eines Grundstückskaufvertrages und um Feststellung. Obwohl der Streitwert des Verfahrens schon von Beginn an 5.887,89 EUR betragen und mithin oberhalb der Zuständigkeitsgrenze des Amtsgerichts gelegen hat, sind die Parteien bis zum Erlass des am 4. Januar 2005 verkündeten erstinstanzlichen Urteils nicht gemäß § 504 ZPO über die sachliche Unzuständigkeit des Amtsgerichts Winsen (Luhe) belehrt und auf die Folgen einer rügelosen Einlassung hingewiesen worden. Erst nachdem das Landgericht Lüneburg im Berufungsverfahren mit einem am 15. Dezember 2005 verkündeten Urteil die Entscheidung des Amtsgerichts Winsen (Luhe) einschließlich des ihr zugrunde liegenden Verfahrens aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das Amtsgericht wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zurückverwiesen hat, ist mit Beschluss des Amtsgerichts vom 20. September 2006 eine Belehrung über die sachliche Unzuständigkeit des Amtsgerichts und die möglichen Folgen einer rügelosen Verhandlung zur Hauptsache erfolgt. Auf diesen Beschluss hin hat die Beklagte mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 21. September 2006 die Zuständigkeit des Amtsgerichts gerügt. Seitens der Prozessbevollmächtigten der Klägerin sind zwar mit Schriftsatz vom 27. September 2006 Zweifel bezüglich der nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache noch fortdauernden Unzuständigkeit des Amtsgerichts geäußert worden, gleichwohl hat die Klägerin nach nochmaliger Belehrung über die fehlende Zustimmung des Amtsgerichts durch Beschluss vom 12. Oktober 2006 mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2006 hilfsweise ein Antrag auf Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Lüneburg gestellt.
Nach Verweisung des Rechtsstreits durch das Amtsgericht Winsen (Luhe) mit Beschluss vom 25. Oktober 2006, in dem das Amtsgericht ausgeführt hat, dass seine Zuständigkeit aufgrund einer fehlenden Belehrung gemäß § 504 ZPO nicht begründet worden sei, hat der Einzelrichter der ersten Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg mit Beschluss vom 21. November 2006 die Übernahme der Sache durch das Landgericht abgelehnt. Zur Begründung wird ausgeführt, auch wenn bis zum Erlass des erstinstanzlichen Urteils auf die fehlende Zuständigkeit des Amtsgerichts nicht hingewiesen worden sei, müsse doch nach Abschluss der zweiten Instanz, in der die örtliche und sachliche Zuständigkeit gemäß § 513 Abs. 2 ZPO nicht mehr hätte gerügt werden können, davon ausgegangen werden, dass nunmehr die Zuständigkeit des Amtsgerichts gegeben sei und eine Verweisung der Sache nach Aufhebung und Zurückverweisung nicht mehr in Betracht komme. Das Landgericht habe sich darüber hinweg gesetzt, dass für das Verfahren im Berufungsrechtszug gemäß § 525 ZPO die für das Verfahren vor dem Landgericht geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden seien. Eine Rüge der sachlichen Zuständigkeit komme nach diesen Vorschriften nicht mehr in Betracht. Das Rügerecht könne deshalb auch nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache nicht wieder aufleben.
Nach Rückgabe der Sache hat das Amtsgericht Winsen (Luhe) mit Beschluss vom 28. November 2006 seinerseits abgelehnt, die Sache wieder zu übernehmen und das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Gerichts dem Oberlandesgericht Celle vorgelegt. Zur Begründung führt das Amtsgericht aus, aufgrund der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache seien die Vorschriften für das landgerichtliche Verfahren nicht mehr als maßgebend anzusehen. Vielmehr komme es auf die Regeln für das amtsgerichtliche Verfahren an. Nach diesen Vorschriften sei jedoch eine Zuständigkeit durch rügelose Einlassung niemals begründet worden, solange eine Belehrung nach § 504 ZPO nicht erfolgt sei. Außerdem sei der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts vom 25. Oktober 2006 als bindend anzusehen; selbst einem auf Rechtsirrtum beruhenden Verweisungsbeschluss komme nämlich eine grundsätzliche Bindungswirkung zu, wenn er nicht rechtlich vollkommen unhaltbar sei.
II.
Das Landgericht Lüneburg war gemäß § 37 Abs. 1 ZPO auf den Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Winsen (Luhe) vom 26. November 2006, über den der Senat als das zunächst höhere Gericht zu entscheiden hat, gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO als zuständiges Gericht zu bestimmen, nachdem sich zuvor sowohl das Amtsgericht Winsen (Luhe) als auch das Landgericht Lüneburg rechtskräftig für örtlich unzuständig erklärt hatten.
Das Landgericht Lüneburg ist schon deshalb örtlich zuständig, weil der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Winsen (Luhe) vom 25. Oktober 2006 gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO als bindend anzusehen ist.
Zwar kann ein Verweisungsbeschluss nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BGH NJW 2003, 3201) dann nicht als verbindlich hingenommen werden, wenn er auf Willkür beruht. Hierfür genügt es aber nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist. Objektive Willkür, an deren Annahme strenge Anforderungen zu stellen sind (vgl. BGH NJW 2004, 780 [OLG Brandenburg 10.12.2003 - 1 AR 84/03]) liegt nur vor, wenn dem Beschluss jede rechtliche Grundlage fehlt und deshalb die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) eine Durchbrechung der Bindungswirkung erfordert (vgl. BGH NJWRR 2002, 1498). Dies ist auch dann der Fall, wenn der Verweisungsbeschluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 29, 45, 49 [BVerfG 30.06.1970 - 2 BvR 48/70]; BGH MDR 1996, 1032).
Diese Voraussetzungen liegen bei der hier in Rede stehenden Sache nicht vor. Von einer evident unrichtigen Entscheidung des Amtsgerichts Winsen (Luhe) kann nicht ausgegangen werden, da unstreitig ist, dass eine Belehrung nach § 504 ZPO vor der Zurückverweisung der Sache durch das Landgericht nicht erfolgt ist. Allein aus dem Umstand, dass nach § 513 Abs. 2 ZPO die Berufung nicht darauf gestützt werden kann, dass das Gericht des ersten Rechtszuges seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat, kann die "Heilung" des in erster Instanz unterbliebenen Hinweises auf die fehlende Zuständigkeit des Amtsgerichts, mit dem verhindert werden soll, dass sich eine Partei unter Ausnutzung der Rechtsunkenntnis des Beklagten die amtsgerichtliche Zuständigkeit erschleicht (s. Zöller/Herget, ZPO, 26. Aufl., § 504 Rz. 1), in einer zurückverwiesenen Sache nicht abgeleitet werden. Zwar könnte der Zweck des durch das Zivilprozessrechtsreformgesetz neu formulierten § 513 Abs. 2 ZPO, mit dem verhindert werden soll, dass der Rechtsstreit in die Länge gezogen wird und Beweisergebnisse der ersten Instanz möglicherweise nicht mehr benutzt werden können, wenn noch in zweiter Instanz die Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts gerügt werden kann (s. Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 26. Aufl., § 513 Rz. 6), dafür sprechen, dass nach einer Zurückverweisung die Zuständigkeit des Amtsgerichts grundsätzlich nicht mehr gerügt werden kann. Andererseits gilt aber gemäß § 39 ZPO einschränkungslos, dass die Zuständigkeit eines Gerichts des ersten Rechtszuges im amtsgerichtlichen Verfahren nur dann begründet wird, wenn der Beklagte ohne eine Rüge der Unzuständigkeit zur Sache verhandelt hat, nachdem eine Belehrung gemäß § 504 ZPO erfolgt ist. Ausnahmen von diesem Grundsatz, der auch anzuwenden ist, wenn der Beklagte im ersten Rechtszug durch einen Rechtsanwalt vertreten ist (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 26. Aufl., § 39 Rz. 10), sieht das Gesetz nicht vor. Aus § 513 Abs. 2 ZPO kann deshalb auch nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden, dass die fehlende Möglichkeit, die sachliche und örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts im ersten Rechtszug in der Berufungsinstanz zu rügen, zu einer Heilung der amtsgerichtlichen Zuständigkeit für das weitere Verfahren führt, wie dies in dem Beschluss des Landgerichts Lüneburg vom 21. November 2006 letztlich ausgeführt wird. Entschieden ist die hier in Rede stehende Konstellation - soweit ersichtlich - bislang nicht. Es gibt deshalb auch keine Präjudizien für die Entscheidung des Landgerichts, sodass von einer greifbaren Gesetzwidrigkeit der Auffassung des Amtsgerichts Winsen (Luhe), die zur fehlenden Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses führen könnte, ohnehin nicht auszugehen ist.
Allerdings scheint die Auffassung des Amtsgerichts im Hinblick auf die fehlende Regelung der Frage, ob ein unterbliebener Hinweis auch nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache noch nachgeholt und die Zuständigkeit alsdann vom Beklagten gerügt werden kann, mit der Folge, dass eine Verweisung möglich ist, die richtigere zu sein. Zwar hat der BGH in einer Sache, in der es um die rügelose Verhandlung zur Hauptsache vor dem Landgericht trotz bestehender Zuständigkeit des Arbeitsgerichts ging, entschieden, dass bei einer nachträglichen Zuständigkeitsrüge nach Aufhebung und Zurückverweisung die Einschränkung des § 528 ZPO a. F. auch dann zu beachten ist, wenn das Berufungsgericht, anstatt in der Sache zu entscheiden, die Sachentscheidung dem Gericht erster Instanz überlässt (BGH, NJW 1960, 1951). Der BGH hat jedoch in dieser Entscheidung - in der die Belehrungspflicht des § 504 ZPO allerdings keine Rolle gespielt hat, weil es um eine Sache ging, die in erster Instanz vor dem Landgericht verhandelt worden ist - ausdrücklich offen gelassen, ob das Rügerecht des Beklagten nicht dann wieder auflebt, wenn das OLG das landgerichtliche Verfahren wegen eines Verfahrensmangels aufhebt. Ein entsprechender Fall, in dem das Landgericht das Verfahren wegen eines Mangels aufgehoben hat, liegt hier aber gerade vor. Die Aufhebung und Zurückverweisung in dem am 15. Dezember 2005 verkündeten Urteil des Landgerichts Lüneburg ist wegen eines Mangels i. S. d. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO erfolgt, weil das Landgericht entschieden hat, obwohl es Akten, die nach einem Beschluss vom 20. Juli 2004 beigezogen werden sollten, weder in der mündlichen Verhandlung noch bei der Abfassung seines Urteils vorliegen hatte.
Da das Verfahren nach einer Zurückverweisung in der ersten Instanz fortgesetzt wird (s. RGZ 158, 195, 196; BGH NJW 1960, 1951, 1952) [BGH 27.05.1960 - VI ZR 110/59], ist vorliegend davon auszugehen, dass die Beklagte ihr Rügerecht nicht verloren hat und auf den Hinweis des Amtsgerichts nach § 504 ZPO die sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts auch weiterhin rügen konnte. Eine "Heilung" des Zuständigkeitsmangels ist im Ergebnis nicht eingetreten. Der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts kann nicht als evident unrichtig angesehen werden.