Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 12.02.2018, Az.: L 7 AS 434/17 B
Amtsermittlung; Amtsermittlungsgrundsatz; Darstellung; Obliegenheit; Prozesskostenhilfe; Prozesskostenhilfeverfahren; Streitverhältnis
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 12.02.2018
- Aktenzeichen
- L 7 AS 434/17 B
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2018, 73910
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG - 05.05.2017 - AZ: S 50 AS 198/17
Rechtsgrundlagen
- § 73a Abs 1 S 1 SGG
- § 117 Abs 1 S 2 ZPO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Der Prozesskostenhilfe Begehrende ist zur zumindest rudimentären Darlegung des Streitverhältnisses und der Erfolgsaussichten verpflichtet. Mangelt es hieran, reicht die Amtsermittlungspflicht jedenfalls bei einem rechtskundig vertretenen Kläger nicht so weit, dass das Gericht gehalten wäre, sich ihm nicht aufdrängende Ansatzpunkte für Erfolgsaussichten selbst zu prüfen und dadurch den nichts oder nicht ausreichend Vortragenden letztlich von seiner Obliegenheit zu entheben.
Tenor:
Die Beschwerde des Klägers gegen den Prozesskostenhilfe versagende Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 5. Mai 2017 wird zurückgewiesen.
Kosten für das Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt Prozesskostenhilfe für die Durchführung eines erstinstanzlichen Klageverfahrens, in dem er sich im Rahmen eines Leistungsverhältnisses nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) gegen eine Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung für den Leistungszeitraum Oktober 2015 bis März 2016 wendet.
Der 1993 geborene Kläger studierte seit dem Wintersemester 2012/13 im Bachelorstudiengang im Fach Chemie an der Technischen Universität in C.. Die zunächst bewilligte Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) endete nach Ablauf des sechsten Fachsemesters im Sommersemester 2015.
Am 8. September 2015 beantragten der Kläger und seine Mutter beim Beklagten die Weiterbewilligung von Leistungen. Der Kläger reichte bei dem Beklagten einen Bewilligungsbescheid über BaföG-Leistungen ein, aus dem eine Förderungshöchstdauer bis September 2015 hervorgeht und erklärte, keine Leistungen zu erhalten, da er einen erforderlichen Leistungsnachweis nicht erbringen könne. Er arbeite für das Verlagszustellunternehmen D. GmbH & Co KG. In der Folgezeit reichten er und seine Mutter diverse Verdienstbescheinigungen ein. Mit drei Bescheiden vom 20. Oktober 2015 lehnte der Beklagte die Leistungsbewilligung für den Kläger für die Zeiträume Juli und September 2015 ab, weil der Kläger eine dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung absolviert habe und bewilligte dem Kläger und seiner Mutter vorläufige Leistungen für den Zeitraum von Oktober 2015 bis März 2016. Mit Änderungsbescheiden vom 13. November 2015 und 7. Januar 2016 wurde die vorläufige Leistungsbewilligung gegenüber dem Kläger für die Zeiträume Dezember 2015 bis März 2016 bzw. Februar bis März 2016 geändert. Nach Einreichung diverser Einkommensnachweise ergingen jeweils auch gegenüber dem Kläger endgültige Bewilligungsbescheide (Bescheide vom 13. November [Oktober 2015], vom 19. Januar 2016 [November 2015 bis Januar 2016] mit Erstattungsbescheid vom 19. Januar 2016 [für Dezember 2015 und Januar 2015], vom 17. Februar 2016 [Februar 2016], vom 9. März 2016 [März 2016]). Widerspruch erhob der Kläger jeweils nicht.
Nach Wechsel der Sachbearbeiterin, Anforderung einer Immatrikulationsbescheinigung und der mit Schreiben vom 8. September 2016 erfolgten Anhörung hob der Beklagte mit dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 22. November 2016 seine Bewilligungsentscheidungen für den Zeitraum von Oktober 2015 bis März 2016 auf und forderte vom Kläger insgesamt 1.008,10 Euro zurück. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass der Kläger wegen seines Studiums von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid legte der Kläger am 16. Dezember 2016 Widerspruch ein, den er in der Folgezeit nicht begründete. Der Beklagte wies den Widerspruch zurück, weil der Bescheid den gesetzlichen Bestimmungen entspreche (Widerspruchsbescheid vom 9. Januar 2017).
Der Kläger hat sodann beim Sozialgericht (SG) Braunschweig Klage erhoben und Prozesskostenhilfe beantragt. Der anwaltlich vertretene Kläger hat zwar den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid nebst Widerspruchsbescheid bezeichnet, jedoch den Widerspruchsbescheid nicht in Kopie beigefügt, keinen Klageantrag gestellt und die Klage nicht begründet.
Mit Beschluss vom 5. Mai 2017 hat das SG den Antrag auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, dass die Klage weder ein konkretes Klageziel, noch ein wirtschaftliches Interesse erkennen lasse.
Der Kläger hat hiergegen Beschwerde erhoben, die er nicht begründet hat. Der Beklagte hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und zur Entscheidungsfindung herangezogen worden sind.
II.
1. Das Begehren des Klägers ist dahingehend auszulegen, dass er beantragt, ihm unter Aufhebung des Beschlusses des SG Braunschweig vom 5. Mai 2017 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten zu bewilligen.
2. Die so verstandene, gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Klägers ist nicht begründet. Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zwecks Durchführung des Verfahrens im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Für das Begehren des Klägers sind keine hinreichenden Erfolgsaussichten glaubhaft gemacht (vgl. § 73a SGG i. V. m. § 114 Zivilprozessordnung [ZPO]).
Gemäß § 73a SGG in Verbindung mit § 114 Satz 1 ZPO ist einem Beteiligten Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, und wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen dabei die Anforderungen an die Erfolgsaussicht nicht überspannt werden. Für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe genügt es daher bereits, wenn die Klage auf der Grundlage eines vorläufig vertretbaren, diskussionswürdigen Rechtsstandpunkts schlüssig begründbar ist. Im Rahmen der prognostischen Beurteilung der Möglichkeiten eines Klagerfolgs muss ein späteres Obsiegen dabei nicht wahrscheinlicher erscheinen als ein Unterliegen (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10. April 2006 - L 9 B 21/06 AS -; Leitherer in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 11. Auf. 2014, § 73a Rn 7a). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
a. Streitgegenstand des Hauptsacheverfahrens ist der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 2017, mit dem der Beklagte seine Bewilligungsentscheidungen für den Zeitraum von Oktober 2015 bis März 2016 insgesamt aufgehoben und vom Kläger Leistungen in Höhe von 1.008,10 Euro zurückgefordert hat.
b. Das SG ist zwar zu Unrecht davon ausgegangen, dass „die Klage weder ein konkretes Klageziel, noch ein wirtschaftliches Interesse erkennen“ lässt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat sich hier darauf beschränkt, in der Klageschrift den Kläger, den Beklagten und den angefochtenen Bescheid zu bezeichnen. Eine derart minimalistische Prozessführung mag einem Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege vielleicht nicht gut zu Gesicht stehen oder auch von wirtschaftlichen Interessen beeinflusst sein. Es trägt auch sicher nicht dazu bei, die Belastung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit im Interesse der rechtssuchenden Bevölkerung zu reduzieren. Ein konkretes Klageziel und ein wirtschaftliches Interesse ist damit gleichwohl dargetan. Der Kläger will offenbar die Erstattungsforderung des Beklagten nicht begleichen, zumindest aber den Fälligkeitszeitpunkt hinausschieben. Anders als für ein Prozesskostenhilfegesuch (vgl. c.) ist im Hauptsacheverfahren in formeller Hinsicht von einer Klageschrift nur der Mindestinhalt aus § 92 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu verlangen.
c. Der Kläger hat jedoch keine hinreichenden Erfolgsaussichten für die vom Kläger gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid gerichtete Anfechtungsklage glaubhaft gemacht. Hierfür fehlt es bereits an der im Rahmen eines Antrages auf Prozesskostenhilfe notwendigen Darstellung des Sach- und Streitverhältnisses. Die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides drängt sich dem Senat auch nicht auf.
aa) Der Antrag auf Prozesskostenhilfe setzt unter anderem gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 117 Abs. 1 Satz 2 ZPO die Darstellung des Streitverhältnisses unter Angabe der Beweismittel voraus. Daraus folgt die Obliegenheit des Prozesskostenhilfe beantragenden Beteiligten, das Sach- und Streitverhältnis zumindest rudimentär darzustellen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat ausgeführt, eine Prüfung der Erfolgsaussichten für die Bewilligung sei dem Gericht nur möglich, wenn ihm eine substantiierte Darstellung des Streitverhältnisses vorgelegt werde. Dies setze voraus, dass derjenige, der Prozesskostenhilfe begehre, den Sachverhalt schildere und wenigstens "im Kern" deutlich mache, auf welche rechtliche Beanstandungen er seine Klage stütze (BVerfG, Beschluss vom 14. April 2010 – 1 BvR 362/10 – Rn. 15; Beschluss vom 25. April 2012 – 1 BvR 2869/11 –, Rn. 17; Beschluss vom 14. Februar 2017 – 1 BvR 2507/16 –, Rn. 14). Hieraus ist letztlich zu entnehmen, dass Erfolgsaussichten ohne die erforderliche Darstellung des Streitverhältnisses jedenfalls verneint werden können, wenn sie weder aufgrund des Sachvortrags im Verwaltungs-, Widerspruchs oder Klageverfahren erkennbar werden noch sich – bei insoweit fehlendem oder unzureichendem Vortrag - aus dem angefochtenen Bescheid aufdrängen (in diesem Sinne auch Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 9. September 2014 – L 2 AS 1029/13 B –, juris Rn. 13). Diese Schlussfolgerung steht dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatz nicht entgegen. Die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung findet ihre Grenze in den Mitwirkungsobliegenheiten eines Beteiligten. Im sozialgerichtlichen Verfahren verringern sich unabhängig von der Sondervorschrift des § 106a SGG die Anforderungen an die Amtsermittlungspflicht, wenn Beteiligte ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachkommen (BSG, Urteil vom 3. Juni 2004 – B 11 AL 75/03 R –, SozR 4-1500 § 144 Nr. 1 = juris Rn. 17; Urteil vom 20. November 2008 - B 3 KN 4/08 KR R -, SozR 4–2500 § 109 Nr. 16 = juris Rn. 26; Schmidt in: Meyer-Ladewig u. a., SGG 12. Aufl., § 103 Rn. 16 m. w. N.). Ist folglich der Prozesskostenhilfe Begehrende zur zumindest rudimentären Darlegung des Streitverhältnisses und der Erfolgsaussichten verpflichtet, reicht die Amtsermittlungspflicht - jedenfalls wenn der Prozesskostenhilfe begehrende Beteiligte rechtskundig vertreten ist - nicht so weit, dass das Gericht in Ermangelung des gebotenen Vortrages gehalten wäre, sich nicht aufdrängende Ansatzpunkte für Erfolgsaussichten selbst zu prüfen und dadurch den nichts oder nicht ausreichend Vortragenden letztlich von seiner Obliegenheit zu entheben.
bb) Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Der seit der Klageerhebung anwaltlich vertretene Kläger hat sich weder zum Streitverhältnis geäußert, noch irgendwelche Ausführungen gemacht, aus welchem Grund er den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig hält. Für den Senat ergibt sich hierfür gegenwärtig auch kein Anhaltspunkt. Insbesondere ist weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich, dass dem Beklagten die Fortführung des Studiums des Klägers über den 30. September 2015 hinaus mitgeteilt oder sonst bekannt war. Vielmehr musste der Beklagte aufgrund der Mitteilungen des Klägers davon ausgehen, dass er sein Studium aufgrund der ausgelaufenen BAföG-Förderung abgebrochen hatte und nunmehr dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung stand und bereits einer Erwerbstätigkeit nachging. Aus welchem Grund die Rückforderung der Leistungen unter den gegebenen Umständen rechtswidrig sein soll, erschließt sich dem Senat nicht. Insbesondere ist auch nicht ersichtlich, dass dem Kläger die Notwendigkeit nicht bewusst gewesen sein könnte, die Tatsache mitzuteilen, dass er sein Studium auch ohne die Bewilligung von BAföG-Leistungen über das Sommersemester 2015 hinaus fortsetzte.
Die Kostenentscheidung beruht auf den § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).