Sozialgericht Stade
Beschl. v. 23.12.2014, Az.: Stade S 19 SO 159/14 ER
Anspruch eines polnischen Asylbewerbers auf Grundsicherungen im Alter und bei Erwerbsminderung in gesetzlicher Höhe
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 23.12.2014
- Aktenzeichen
- Stade S 19 SO 159/14 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2014, 29469
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2014:1223.STADE.S19SO159.14.0A
Rechtsgrundlagen
- § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG
- § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig und unter Vorbehalt der Rückforderung ab 1. Dezember 2014 bis längstens 31. März 2015 Grundsicherungen im Alter und bei Erwerbsminderung in gesetzlicher Höhe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch zu gewähren. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre Kosten in notwendigem Umfang zu erstatten. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe ohne Verpflichtung zur Entrichtung von Raten bewilligt und Rechtsanwalt D. beigeordnet.
Gründe
Die am 17. Mai 1949 geborene Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Sie lebte bis zur gemeinsamen Einreise am 11. August 2013 mit ihrem am 4. Februar 1951 geborenen Ehemann, der die polnische und die deutsche Staatsangehörigkeit, in Polen. Ab 15. August 2013 erhielten beide Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Jobcenter Stade. Sie wohnen seit 1. November 2013 in einer von ihnen angemieteten, im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners gelegenen Wohnung. Am 4. November 2013 sprachen die Eheleute erstmals beim Antragsgegner vor und beantragten für die Antragstellerin Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XII). Diesen Antrag lehnte der Antrags-gegner mit Bescheid vom 28. August 2014 ab und führte aus, dass Ausländer, die eingereist seien, um Sozialhilfe zu erlangen oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergäbe, sowie ihre Familienangehörigen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe hätten. Bei der Antragstellerin sei für den Einreiseentschluss der finanzielle Zugewinn durch das deutsche Sozialhilfesystem prägend gewesen. Mit Bescheid vom 16. September 2014 hob das Jobcenter Stade seine bisherige Bewilligung auf und bewilligte ab 1. Oktober 2014 Leistungen nach dem SGB II nur noch an den Ehemann der Antragstellerin. Die Antragstellerin habe mit Vollendung des 65. Lebensjahres keinen An-spruch auf Leistungen nach dem SGB II. Am 9. Oktober 2014 stellte die Antragstellerin einen Antrag auf Überprüfung des Bescheides vom 28. August 2014 und am 6. November 2014 beantragte sie bei einer Vorsprache im Sozialamt des Antragsgegners erneut Grundsicherung nach dem SGB XII. Den Überprüfungsantrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 19. November 2014 ab, wogegen am 19. November 2014 Widerspruch erhoben wurde. Mit ihrem am 3. Dezember 2014 beim Sozialgericht (SG) eingegangenen Antrag verfolgt die Antragstellerin das Ziel, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Erbringung von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII zu verpflichten. Sie trägt vor, in die Bundesrepublik Deutschland nicht eingereist zu sein, um Sozialhilfe zu erhalten, sondern ihrem deutschen Ehemann zu folgen und um die eheliche Lebensgemeinschaft mit ihrem Ehemann hier fortzuführen. Hilfsweise beantragt sie die Verpflichtung zur vorläufigen Erbringung von Leistungen gemäß § 1a Asylbewerberleistungsgesetz. Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen und beantragt dessen Ablehnung. Nach seiner Auffassung ist von einem finalen Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe auszugehen. So sei unmittelbar nach der Einreise Arbeitslosengeld II beantragt worden. Die Antragstellerin sei nicht erwerbstätig und verfüge keine über ausreichenden Existenzmittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes. Sie habe sogleich mitgeteilt, dass bei ihr keine Erwerbsfähigkeit gegeben sei. Auch bei ihrem Ehemann läge nur ein eingeschränktes Leistungsvermögen vor. Die Antragstellerin habe nicht davon ausgehen können, den Lebensunterhalt durch eigenes oder durch Erwerbseinkommen ihres Ehemannes aufstocken zu können. Schon bei der Einreise, spätestens bei Anmietung der Wohnung müsse den Eheleuten klar gewesen sein, dass die Deckung ihrer Kosten ohne staatliche Leistungen nicht möglich sein werde. Beide sprächen kein Deutsch und hätten ihre Sprachkenntnisse auch nicht erweitert, obwohl sie mittlerweile seit über einem Jahr in Deutschland lebten; die Vorsprachen beim Sozialamt seien jeweils nur mit Dolmetscher möglich gewesen. Die Antragstellerin sei nach einem Bescheid seines Ordnungsamtes vom 11. November 2014 nicht freizügigkeitsberechtigt und die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung für ausländische Ehegatten eines Deutschen gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) komme nicht in Betracht; sie sei ausreiseverpflichtet und zur Erfüllung der Ausreisepflicht sei ihr eine Ausreisepflicht bis 12. Dezember 2014 gewährt worden. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zur Akte ge-reichten Schriftsätze der Beteiligten und die beigezogene Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen. II. Der zulässige Antrag ist begründet. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist der Fall, wenn ohne den vorläufigen Rechtsschutz dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinaus-gehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 m.w.N.). Die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs - die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist - sowie des Anordnungsgrundes - die Eilbedürftigkeit für eine Entscheidung durch einstweiligen Rechts-schutz - sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Zivilprozessordnung).
Die Gerichte müssen, wenn sie im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sich an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen. Dabei dürfen sie die Anordnungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller des Eilverfahrens nicht überspannen. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl Bundesverfassungsgericht a.a.O.). Vorliegend kann nicht mit der erbotenen Sicherheit festgestellt werden, ob der Antragstellerin in der Hauptsache Leistungen der Grundsicherung tatsächlich zustehen. Nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand sind aber Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht worden und ist dem Eilantrag daher aufgrund einer Güter- und Folgenabwägung zu entsprechen. Die Antragstellerin hat am 17. Mai 2014 das 65. Lebensjahr vollendet; sie gehört damit jeden-falls für den hier streitigen Zeitraum ab 1. Dezember 2014 zum Kreis der Leistungsberechtigten, denen gemäß §§ 19 Abs. 2, 41 Abs. 1, Abs. 2 SGB XII Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu gewähren ist, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Nach den eingereichten Unterlagen beziehen die Antragstellerin und ihr Ehemann lediglich polnische Renten, die sich nach dem Kontoauszug für April 2014 auf umgerechnet 394,96 EUR bzw. 263,22 EUR monatlich beliefen. Vermögen, welches den Vermögensschonbetrag iHv 2.600 EUR (§ 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII IV mit § 1 Abs. 1 Nr. 1b, Nr. 3 der VO zu § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII) überschreitet, ist nicht ersichtlich. Daher ist die Antragstellerin nicht in der Lage, ihren notwendigen Lebensunterhalt, bestehend aus der Regel-leistung (353 EUR) sowie anteiligen Kosten der Unterkunft (204,70 EUR) und Heizung (45,77 EUR), zu bestreiten. Dem Anspruch kann zurzeit auch nicht der Leistungsausschluss gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII entgegengehalten werden. Nach dieser Vorschrift haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Sind sie zum Zweck einer Behandlung oder Linderung einer Krankheit eingereist, soll Hilfe bei Krankheit insoweit nur zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung geleistet werden. Zwar führt der Antragsgegner zutreffend aus, dass nach den wirtschaftlichen Verhältnissen der Antragstellerin und ihrem Ehemann bereits bei der Einreise klar gewesen sein musste, dass ihr Lebensunterhalt in der Bundesrepublik Deutschland nur durch Inanspruchnahme von existenzsichernden Leistungen sichergestellt werden konnte; diese Annahme wird insbesondere dadurch bestätigt, dass unmittelbar nach der Einreise existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII beantragt und in Anspruch genommen wurden. Allerdings ist insoweit von Bedeutung, dass der Ehemann der Antragstellerin die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und Art 6 Abs. 1 Grundgesetz eine besondere Wirkung entfaltet. Er kann sich ohne Einschränkung und jederzeit in Deutschland aufhalten und es kann ihm grundsätzlich auch nicht verwehrt werden, seine Ehegemeinschaft in Deutschland zu führen (vgl Dienelt in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht 10. Aufl. § 28 AufenthG Rz 2ff m.w.N.). Daher kann auch die Behauptung der Antragstellerin, für die Einreise nach Deutschland sei vor allem die Fortführung bzw. Aufrechterhaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit ihrem Ehemann prägend gewesen, allein mit der wirtschaftlichen Unfähigkeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts aus eigenen Mitteln nicht widerlegt werden. Hinzukommt, dass die Sicherung des Lebensunterhalts im Regelfall auch keine Voraussetzung für den Ehegattennachzug ist (vgl allgemeine Verwaltungsvorschrift zu § 28 AufenthG, zitiert nach Dienelt a.a.O.). Demzufolge muss nicht zwingend die Erlangung von Sozialhilfemitteln, sondern kann auch die über Artikel 6 Abs. 1 Grundgesetz geschützte Aufrechterhaltung bzw. Fortführung der ehelichen Lebensgemeinschaft in Deutschland das wesentliche Motiv für die Einreise gewesen sein. Im Übrigen leben beide Eheleute bereits seit einem Jahr in der Bundesrepublik Deutschland und haben Leistungen nach dem SGB II bezogen; auch dies spricht dafür, dass die Antragstellerin jedenfalls bei der Einreise davon ausging, die eheliche Lebensgemeinschaft (ggf mit Hilfe staatlicher Leistungen) in Deutschland fortführen zu können und zu dürfen, ohne dass es ihr vorrangig auf den Bezug von Sozialhilfeleistungen angekommen sein muss. Auf die mit Bescheid des Antragsgegners vom 11. November 2014 festgelegte Ausreiseverpflichtung kommt es insoweit nicht an, da für den Leistungsausschluss § 23 Abs. 3 SGB XII allein das Motiv für die Einreise entscheidend sind, während die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 AufenthG nicht maßgebend sind. Es besteht auch ein Anordnungsgrund. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist bereits dann i.S. des § 86b Abs. 2 SGG nötig, wenn der notwendige Lebensunterhalt andernfalls nicht gewährleistet ist. Da der durch Grundsicherungsleistungen nach §§ 41 ff SGB XII gewährte Lebensunterhalt die Führung eines Lebens ermöglichen soll, das der durch Art 1 Grundgesetz geschützten Würde des Menschen entspricht, kann einem Leistungsberechtigten regelmäßig nicht zugemutet werden, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, wenn- wie hier - ein Anspruch auf diese Leistungen glaubhaft gemacht worden ist. Nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Verpflichtung zur vorläufigen Gewährung von existenzsichernden Leistungen auf den Zeitpunkt des Eingangs des Antrags bei Gericht abzustellen (vgl LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl v 22. November 2006 - Az.: L 8 SO 120/06 ER). Demgemäß sind die Leis-tungen ab dem Monat, in welchem der Antrag bei Gericht eingegangen ist, zuzusprechen. Im Übrigen sind die Leistungen aufgrund der Rechtsnatur des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, in dem keine endgültige, sondern eine einstweilige Regelung zur Abwendung einer Not-lage zu treffen ist, nur vorläufig und für einen Übergangszeitraum zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung §§ 183, 193 SGG. Der Antragstellerin ist Prozesskostenhilfe zu gewähren, da sie nicht in der Lage ist, die Prozesskosten aus eigenen Mitteln aufzubringen und der Antrag aus den vorstehenden Gründen jedenfalls zum Teil Aussicht auf Erfolg hatte, § 73a SGG i.V.m. § 114 ZPO.