Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 12.06.1991, Az.: 4 L 257/89
Beitrag; Rentner; Mitgliedschaft; Reichsbund der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten, Sozialrentner und Hinterbliebenen e.V.; Absetzungsmöglichkeit
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 12.06.1991
- Aktenzeichen
- 4 L 257/89
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1991, 13107
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1991:0612.4L257.89.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Hannover 12.09.1989 - 3 A 326/89
- nachfolgend
- BVerwG - 27.01.1994 - AZ: BVerwG 5 C 29.91
Rechtsgrundlage
- § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG
Amtlicher Leitsatz
Der Beitrag eines Rentners für die Mitgliedschaft im Reichsbund der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten, Sozialrentner und Hinterbliebenen eV ist nach § 76 Abs 2 Nr 4 BSHG vom Renteneinkommen abzusetzen.
Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer - vom 12. September 1989 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Verpflichtung des Beklagten auf die Zeit bis zum 25. Oktober 1988 beschränkt wird.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der im Jahre 1935 geborene Kläger zu 1) ist körperlich schwerbehindert. Er bezieht eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Gemeinde Uetze gewährt ihm und seiner Ehefrau, der Klägerin zu 2), im Auftrage des Beklagten laufende Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtigung des Einkommens.
Bis einschließlich Juni 1988 setzte die Gemeinde Uetze vom Renteneinkommen des Klägers zu 1) u.a. den Beitrag von 5,-- DM monatlich ab, den er für die Mitgliedschaft im Reichsbund der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten, Sozialrentner und Hinterbliebenen e.V. (im folgenden: Reichsbund) bezahlt. Sie regelte durch Bescheid vom 29. Juni 1988 die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt ab 1. Juli 1988 neu und setzte dabei den Mitgliedsbeitrag nicht mehr vom Einkommen ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch der Kläger wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 1988 mit der Begründung zurück, daß der Mitgliedsbeitrag nicht eine mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgabe im Sinne des § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG sei.
Die Kläger haben daraufhin Klage erhoben und u.a. geltend gemacht: Er, der Kläger zu 1), sei seit 1970 Mitglied im Reichsbund, der ihm zu seiner Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verholfen habe. Vom Reichsbund bekomme er die erforderlichen Informationen über Sozialleistungen und deren rechtliche Grundlagen. Der Reichsbund leiste Rechtsbeistand und setze sich allgemein für die Belange der Behinderten und Sozialrentner ein.
Die Kläger haben beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, ihnen ab 1. Juli 1988 weitere laufende Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 5,-- DM monatlich zu gewähren und den Bescheid der Gemeinde Uetze vom 29. Juni 1988 sowie den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 25. Oktober 1988 aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat u.a. erwidert: Zwar sei der Gewerkschaftsbeitrag eines Rentners vom Renteneinkommen abzusetzen, da die Tätigkeit der Gewerkschaften und anderer Berufsverbände auch auf die Erzielung der Einkommen der Rentner gerichtet sei. Eine solche Verbindung zwischen der Tätigkeit des Reichsbundes und der Erzielung der Einkommen der Rentner bestehe nicht. Beiträge für die Mitgliedschaft im Reichsbund seien als Vereinsbeiträge anzusehen, die zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens gehörten und mit den Regelsätzen abgegolten seien.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage durch Urteil vom 12. September 1989 stattgegeben und zur Begründung u.a. ausgeführt: Der Beklagte sei nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG verpflichtet, den Beitrag des Klägers zu 1) für die Mitgliedschaft im Reichsbund vom Renteneinkommen abzusetzen, da auch dieser Beitrag eine mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgabe sei. Dies habe das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 4. 6. 1981, BVerwGE 62, 261 = FEVS 29, 372 = NDV 1981, 337 = ZfSH 1981, 338 = DVBl 1982, 266[BVerwG 04.06.1981 - 5 C 12/80]) für den Gewerkschaftsbeitrag eines Rentners bejaht. Die dafür maßgeblichen Erwägungen träfen auch auf den Beitrag für die Mitgliedschaft im Reichsbund zu. Denn der Reichsbund setze sich nach dem in der Vereinssatzung ausgewiesenen Zweck insbesondere dafür ein, die Einkommen seiner Mitglieder z.B. durch Einwirkung auf Gesetzgebung und Verwaltung zu sichern und zu verbessern.
Gegen das ihm am 23. Oktober 1989 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 8. November 1989 Berufung eingelegt. Er meint nach wie vor, daß die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Absetzung des Gewerkschaftsbeitrags vom Renteneinkommen auf den Beitrag für die Mitgliedschaft im Reichsbund nicht zu übertragen sei.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angefochtene Urteil.
Die Beteiligten haben auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Gemeinde Uetze ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, aber nicht begründet.
Die der Urteilsformel beigefügte Maßgabe ist erforderlich, weil das Gericht den geltend gemachten Anspruch auf (höhere) laufende Sozialhilfeleistungen nur bis zum Erlaß des (letzten) Widerspruchsbescheides sachlich prüfen darf. Es ist aber anzunehmen, daß der Beklagte bzw. die Gemeinde Uetze den Anspruch für spätere Zeiträume entsprechend der rechtskräftigen Entscheidung in dieser Sache regeln wird, soweit sich die sonstigen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen nicht geändert haben.
Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, daß der Beitrag des Klägers zu 1) für seine Mitgliedschaft im Reichsbund nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG von seinem Renteneinkommen abzusetzen ist. Die Erwägungen, die das Bundesverwaltungsgericht in der zitierten Entscheidung zur Absetzung des Gewerkschaftsbeitrages vom Renteneinkommen angestellt hat und denen der Senat folgt, treffen im wesentlichen auch auf den hier streitigen Mitgliedsbeitrag zu. Auch er ist eine "mit der Erzielung des Einkommens verbundene" Ausgabe. Denn ein wesentlicher Teil der Aktivitäten des Reichsbundes besteht nach seinem Vereinszweck darin, sich gegenüber Gesetzgebungsorganen und Verwaltungen dafür einzusetzen, die Einkommen seiner Mitglieder, insbesondere der Behinderten und Sozialrentner, zu sichern und zu bessern. Auch gewährt der Reichsbund - wie eine Gewerkschaft und ein anderer Berufsverband - seinen Mitgliedern in Einzelfällen Rechtsschutz bei der Verfolgung von Ansprüchen auf (höhere) Sozialleistungen. Nicht entscheidend ist, wie bedeutend die Möglichkeiten des Reichsbundes, im Interesse seiner Mitglieder Einfluß zu nehmen, im einzelnen sind. Es reicht aus, daß er sich entsprechend dem in der Satzung niedergelegten Vereinszweck - wie auch in der Öffentlichkeit bekannt ist - im Interesse seiner Mitglieder betätigt. Auch unter den Berufsverbänden im Sinne des § 3 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 VO zu § 76 BSHG, deren Mitglieder die Beiträge vom Arbeitseinkommen absetzen können, gibt es solche, die nach der Zahl ihrer Mitglieder und den rechtlichen Möglichkeiten mehr Einfluß ausüben können als andere (z.B. weil deren Mitglieder nicht streiken dürfen). Es bleibt der freien Entscheidung eines jeden einzelnen überlassen, welchem Verein oder Verband, der sich für die Interessen seiner Mitglieder bei der Erzielung ihrer Einkommen einsetzt, er sich anschließen will. Mit dem Verwaltungsgericht ist der Senat der Auffassung, daß damit eine Abgrenzung zu sonstigen Vereinen und Verbänden, die vornehmlich andere Ziele verfolgen (z.B. die medizinische oder soziale Rehabilitation, die Eingliederung in die Gesellschaft, Gestaltung der Freizeit), hinreichend sicher möglich ist.
Der Beitrag für die Mitgliedschaft im Reichsbund ist auch eine mit der Erzielung des Einkommens verbundene "notwendige" Ausgabe im Sinne des § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG, da der Kläger zu 1) den Beitrag nach der Satzung entrichten muß. Die Höhe des Beitrags (5,-- DM monatlich) ist nicht unangemessen und wird auch vom Beklagten nicht beanstandet.
Angemerkt sei, daß mit dieser Entscheidung nicht gesagt ist, daß der hier streitige Mitgliedsbeitrag auch im Rahmen der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt zu übernehmen wäre, wenn der Hilfeempfänger Einkommen nicht hätte. Vom Einkommen abzusetzen sind auch solche Ausgaben, die nicht zum notwendigen Lebensunterhalt gehören (z.B. auch Versicherungsbeiträge nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG). Dadurch soll ein Anreiz geschaffen werden, Einkommen zu erzielen und damit - nach den Absetzungen - zur Deckung des sozialhilferechtlichen Bedarfs beizutragen. Diese Anreizfunktion haben auch andere Regelungen, z.B. die Erhöhung des Barbetrages für Hilfeempfänger, die einen Teil der Kosten des Aufenthalts in einer Einrichtung selbst tragen (§ 21 Abs. 3 Sätze 4 und 5 BSHG), oder der Mehrbedarfszuschlag für Erwerbstätige nach § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG, der in Wahrheit ein Freibetrag von Erwerbseinkommen ist. Der Einwand des Beklagten, laufende Hilfe zum Lebensunterhalt durch Übernahme des hier streitigen Mitgliedsbeitrags sei nicht zu gewähren, steht also der Absetzung des Beitrags vom Einkommen nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG nicht entgegen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2, 167 VwGO iVm § 708 Nr. 10 ZPO.
Der Senat läßt die Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
Jacobi
Zeisler
Klay