Sozialgericht Osnabrück
Beschl. v. 29.01.2013, Az.: S 23 AS 47/13 ER

Lernförderung; Nachhilfe

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
29.01.2013
Aktenzeichen
S 23 AS 47/13 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 64292
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller als Lernförderung die Kosten für Nachhilfeunterricht für die Fächer Deutsch, Englisch und Mathematik für die Zeit vom 16.01.2013 bis zum 31.03.2013 zu zahlen. Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.

2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

I.

Zwischen den Beteiligten ist die Übernahme von Kosten für außerschulische Lernberatung bzw. -förderung streitig. Der Antragsteller (geboren am 28.06.1996) bezieht zusammen mit seinem Vater Leistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) - zuletzt im Rahmen vorläufiger Leistungsgewährung mit Bescheid vom 14.12.2012 für den Zeitraum vom 01.01.2013 bis zum 31.03.2013. Er lebt mit seinem Vater  in einer gemeinsamen Wohnung und besucht die neunte Klasse der E..

Im Jahr 2012 hatte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen für Nachhilfeunterricht gewährt, namentlich für April bis Juni im Fach Mathematik, für September in den Fächern Mathematik und Deutsch, für Oktober in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch sowie für November bis Dezember in den Fächern Deutsch und Mathematik.

Mit Schreiben vom 17.12.2012  beantragte der Antragsteller, vertreten durch seinen Vater, für den Zeitraum von Januar bis Juni 2013 eine weitere Lernförderung für die e.g. Fächer. Zur Begründung führte er aus, er benötige eine zusätzliche Lernhilfe, da entsprechende Fördermöglichkeiten in der Schule nicht bestünden. Mit weiterem Antrag gleichen Datums beantragte er die Übernahme der Kosten für eine Lernberatung, da er große Schwierigkeiten habe, sich Sachverhalte zu merken. Eine Lernberatung könne diese Schwäche beheben. Eine entsprechende Maßnahme sei ihm von der ambulanten Erziehungshilfe Melle sowie seinem Klassenlehrer empfohlen worden. Die Kosten beliefen sich auf 65,00 € pro Lerneinheit.

Mit Bescheiden vom 09. und 10.01.2013 lehnte der Antragsgegner die Anträge auf Gewährung zusätzlichen Bedarfs für Nachhilfe und eine Lernförderung für den Zeitraum vom 19.12.2012 bis zum 31.01.2013 ab. Dem Antragsteller sei bereits für die Monate April bis Juni sowie September bis Dezember 2012 eine Lernförderung in den Fächern Mathematik und Deutsch bewilligt worden. Bei einer Überschreitung von sechs Monaten könne nicht mehr von einer kurzzeitigen Förderung ausgegangen werden. Das Vorliegen einer vorübergehenden Lernschwäche sei überdies fraglich, da es sich augenscheinlich um eine tiefer liegende Problematik handele, die durch eine Förderung nach § 28 Abs. 5 SGB II nicht behoben werden könne. Nach den ihm vorliegenden Unterlagen hätten sich die schulischen Leistungen des Antragstellers trotz monatelanger Nachhilfe in den Fächern Deutsch und Mathematik nicht verbessert. Eine Lernförderung für das Fach Englisch komme ebenfalls nicht in Betracht, da seine Leistungen nach dem letzten Zeugnis vom 20.07.2012 mit „ausreichend“ bewertet worden seien. Anhaltspunkte dafür, dass die Leistungen dieser Benotung zwischenzeitlich nicht mehr entsprächen, seien nicht ersichtlich.

Der Antragsteller hat daraufhin am 16.01.2013 um die Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes nachgesucht und einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Zur Begründung trägt er vor, die fortlaufende Leistungsschwäche in den Fächern Mathematik und Deutsch würde bei Aussetzen der außerschulischen Lernförderung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass er seinen Schulabschluss in diesem Jahr nicht schaffen werde. Er habe in den genannten Fächern eine Klassenarbeit mit der Note „4“ geschrieben, so dass bei Fortsetzung der Lernförderung das Erreichen des Klassenziels realistisch erscheine. In Englisch habe er hingegen eine „5“ geschrieben, so dass nunmehr die Versetzung gefährdet sei. Die beantragte Lernberatung sei notwendig, weil sie ihm den Abbau von Lernblockaden ermöglichen würde. Dies sei wichtig, da er sich in der finalen Phase seiner Schullaufbahn befinde.

Er beantragt sinngemäß,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm die Kosten für eine außerschulische Lernförderung für die Fächer Mathematik, Deutsch und Englisch sowie für eine Lernberatung (Praktische Pädagogik Lernberatung Sigrid Wertheim, Telgte/Melle) zu zahlen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen und weist ergänzend darauf hin, eine Rücksprache beim Klassenlehrer des Antragstellers habe ergeben, dass seine Leistungen trotz monatelanger Nachhilfe weiterhin sehr schwach seien. In Mathematik werde er erneut eine „5“ erhalten, in Deutsch stehe er zwischen „4 und 5“. Die Geeignetheit einer Nachhilfe sei daher nicht zu erkennen. Die Übernahme der Kosten für die beantragte Lernberatung sei nicht möglich, da diese ausweislich der eingereichten Informationsunterlagen nicht als kurzfristige Nachhilfe anzusehen sei. Eine solche Beratung stelle deshalb keine Lernförderung im Sinne des § 28 Abs. 5 SGB II dar.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners verwiesen.

II.

Der gemäß § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Antrag hat nur im tenorierten Umfang Erfolg.

Nach der genannten Vorschrift kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Anwendung der Vorschrift setzt neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungs-grund) voraus, dass der Rechtsschutzsuchende mit Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf die begehrte Regelung hat (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anord-nungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -). Der als Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Antrag ist nach der gebotenen summarischer Prüfung begründet, soweit der Antragsteller einen Anspruch auf außerschulische Lernförderung in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch geltend macht (1.). Ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Lernberatung (2.) steht ihm im Übrigen nicht zu.

1. Gemäß § 28 Abs. 5 SGB II wird bei Schülerinnen und Schülern eine schulische Angebote ergänzende angemessene Lernförderung berücksichtigt, soweit diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen wesentlichen Lernziele zu erreichen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass auch eine außerschulische Lernförderung als Sonderbedarf vom Anspruch auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfasst sein kann (vgl. dazu auch BVerfG, Urteil v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 u.a. - BVerfGE 125, 175). Nach der Gesetzesbegründung soll sich die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Lernförderung auf das wesentliche Lernziel beziehen, das sich wiederum im Einzelfall je nach Schulform und Klassenstufe aus den schulrechtlichen Bestimmungen des jeweiligen Landes ergibt. Das wesentliche Lernziel in der jeweiligen Klassenstufe sei regelmäßig die Versetzung in die nächste Klassenstufe bzw. ein ausreichendes Leistungsniveau. Es sei eine auf das Schuljahresende bezogene prognostische Einschätzung unter Einbeziehung der schulischen Förderangebote zu treffen. Ist im Zeitpunkt der Bedarfsfeststellung diese Prognose negativ, bestehe kein Anspruch auf Lernförderung. Die Lernförderung sei auch dann nicht geeignet, wenn das Lernziel objektiv nicht erreicht werden könne, sondern nach den schulrechtlichen Bestimmungen beispielsweise ein Wechsel der Schulform oder eine Wiederholung der Klasse angezeigt sei. Lernförderbedarfe könnten im Rahmen der pädagogisch ohnehin gebotenen Diagnoseaufgaben der Lehrkräfte an Schulen festgestellt werden (vgl. BT-Drs. 17/3404, S. 105).

Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung hat der Antragsteller die Voraussetzungen in Bezug auf die begehrte Nachhilfe glaubhaft gemacht. Die Versetzung in die nächste Klasse ist nach dem gegenwärtigen Stand u.a. wegen „mangelhafter“ Kenntnisse in Mathematik gefährdet. Die Kenntnisse des Antragstellers im Fach Deutsch liegen nach Angaben seines Klassenlehrers (vgl. den Aktenvermerk des Antragsgegners vom 10.01.2013, Bl. 4) zwischen „ausreichend und mangelhaft“. Eine Prognose, wie sich seine Leistungen entwickeln werden, ist insofern gegenwärtig nicht möglich. Die Gefahr, dass der Antragsteller zum Schuljahresende mit „mangelhaft“ bewertet wird, erscheint zur Zeit nicht völlig unwahrscheinlich. Die Leistungen im Fach Englisch würden nach Einschätzung seines Lehrers zum Schulhalbjahresende voraussichtlich mit „ausreichend“ bewertet werden. Der Klassenlehrer begründet diese Bewertung damit, dass der Antragsteller  „wegen seines Bemühens positiv bestärkt“ werden solle. Hieraus kann entgegen der Auffassung des Antragsgegners jedoch nicht von vornherein auf einen stabilen „ausreichenden Leistungsstand“ geschlossen werden. Eine weitere Verschlechterung der Leistungen erscheint auch hier jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen. Den Nachholbedarf in den drei genannten Schulfächern bestätigt im Übrigen auch die vorgelegte Bescheinigung der Schule vom 20.12.2012 (vgl. Bl. 4 0228 VV). Bereits dieser Bestätigung kann entnommen werden, dass durch entsprechende Nachhilfe wesentliche Lernziele erreicht werden können. Denn gingen die Lehrkräfte davon aus, dass Nachhilfeunterricht keine Aussicht auf Erfolg hätte, wäre es unverständlich, dass sie diesen für notwendig erachten. Eine weitere Lernförderung wäre nach Einschätzung des Lehrers des Antragstellers weiterhin erfolgsversprechend, um seine Probleme mit der Merkfähigkeit zu verbessern. Eine ständige Wiederholung des Unterrichtsstoffes wirke sich positiv auf seine Merkfähigkeit aus (vgl. Bl. 4 0234 VV). Dieser Einschätzung ist der Antragsgegner nicht substantiiert entgegengetreten. Dem Anspruch steht ferner nicht entgegen, dass nach der Begründung des § 28 Abs. 5 SGB II eine Lernförderung „nur in Ausnahmefällen“ und „in der Regel nur kurzzeitig“ für die Erreichung des Lernzieles „geeignet, erforderlich und notwendig [ist], um eine vorübergehende Lernschwäche zu beheben“ (vgl. BT-Drs. 17/4304, S. 173.). Worauf diese Auffassung beruht, wird in der Gesetzesbegründung nicht näher erläutert. Eine Stütze im Wortlaut des § 28 Abs. 5 SGB II findet eine solch enge Auslegung jedenfalls nicht. Nach Auffassung des Gerichts muss im Hinblick darauf, dass Lernschwächen von Kindern aus einkommensschwachen Familien häufig auf nicht kurzfristig zu beseitigenden Defiziten beruhen (vgl. dazu Demmer, ArchSozArb 2011, 52; Lauterbach, ZFSH/SGB 2010, 403, 408), eine weite Auslegung der Vorschrift erfolgen. Eine Erweiterung der Bildungschancen von Kindern im Leistungsbezug erscheint vor diesem Hintergrund geboten, um sie in die Lage zu versetzen, dass sie ihren Lebensunterhalt langfristig aus eigener Kraft bestreiten können. Aus den genannten Gründen kann der Antragsgegner dem Antragsteller nicht entgegen halten, dass er in den vergangenen Monaten in den Fächern Mathematik und Deutsch bereits Nachhilfe erhalten habe.

Eine Leistungsgewährung erscheint zunächst bis zum Ende des aktuellen Bewilligungszeitraumes für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II angemessen. Da der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung am 16.01.2013 bei Gericht eingegangen ist und vor dem Eingang des Antrages keine Leistungen zugesprochen werden können, sind die Leistungen von diesem Tag an zuzusprechen.

Der Antragsteller hat insoweit auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Denn ihm ist die Durchführung eines Hauptverfahrens nicht zumutbar, da die begehrte Lernförderung ihr Ziel nur dann erreichen kann, wenn sie zeitnah einsetzt.

2. Der weitere Anspruch des Antragstellers, den Antragsgegner zu verpflichten, ihm die Kosten für eine Lernberatung zu zahlen, bleibt hingegen ohne Erfolg. Einen solchen Anspruch kann der Antragsteller nicht aus § 28 Abs. 5 SGB II herleiten, denn die begehrte Lernberatung ist keine außerschulische Lernförderung im Sinne der genannten Vorschrift. Nach den vorliegenden Informationsunterlagen beinhaltet die begehrte Lernberatung (u.a.) die Analyse des Lernverhaltens und der Lernerfahrung sowie die Lerntypenbestimmung, das Lösen von Lernblockaden und den Abbau von Stress. Dieses „ganzheitliche“ Angebot dient nicht der Aufarbeitung einer bestimmten schulischen Leistungsschwäche etwa in einem der o.g. Schulfächer oder einer allgemeinen Leistungsschwäche aufgrund eines bestimmten Defizites, wie Dyskalkulie oder Legasthenie. Es stellt insofern keine unmittelbare Ergänzung des schulischen Angebotes dar, was Voraussetzung für einen Anspruch aus § 28 Abs. 5 SGB II ist. Ob die begehrte Lernförderung für Schüler mit schwachen schulischen Leistungen generell „nützlich“ ist, ist im Rahmen der Gewährung eines Mehrbedarfs im Sinne der genannten Vorschrift unerheblich.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.