Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 08.11.2006, Az.: L 3 KA 199/03

Berechnung der Höhe der Vergütung psychotherapeutischer Behandlungsleistungen; Rechtmäßigkeit von Honorarbescheiden; Vergütung von Behandlungsleistungen bei Versicherten der Ersatzkassen; Unterscheidung zwischen besonderem Bekanntgabewillen und bloßem Mitteilungswillen; Berechnung der Widerspruchsfrist

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
08.11.2006
Aktenzeichen
L 3 KA 199/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 27347
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2006:1108.L3KA199.03.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 14.05.2003 - AZ: S 16 KA 273/01
nachfolgend
BSG - 17.09.2008 - AZ: B 6 KA 28/07 R

Tenor:

Auf die Anschlussberufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. Mai 2003 geändert. Der Bescheid der Beklagten vom 21. August 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09. März 2001 wird abgeändert. Die Beklagte wird verpflichtet, die Vergütung der genehmigungspflichtigen psychotherapeutischen Leistungen der Klägerin in den Quartalen II bis IV/94 und I/96 bis II/98 in Abänderung der bisherigen Honorarbescheide - mit Ausnahme derjenigen, die die Ersatzkassenfälle des Beigeladenen zu 2) im Quartal II/94 und des Beigeladenen zu 1) im Quartal IV/94 betreffen - auf der Basis eines Punktwerts von 10 Pfennig neu festzusetzen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Anschlussberufung im Übrigen und die Berufung der Beklagten werden zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die erstinstanzlichen Kosten der Klägerin aus beiden Rechtszügen zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Höhe der Vergütung psychotherapeutischer Behandlungsleistungen. Gegenstand des Berufungsverfahrens sind noch die Quartale II - IV/94 sowie I/96 - II/98.

2

Die Klägerin ist Diplompsychologin und zur Teilnahme an der vertragspsychotherapeutischen Versorgung zugelassen. Bis Ende 1998 hat sie im Rahmen des Delegationsverfahrens an der psychotherapeutischen Versorgung der Versicherten teilgenommen. Die Behandlungen wurden von den beigeladenen Vertragsärzten an sie delegiert.

3

Die Vergütung ihrer Behandlungsleistungen bei Versicherten der Ersatzkassen wurde in den Quartalen II - IV/93 sowie II und IV/94 auf der Grundlage eines Punktwerts von 10,0 oder mehr Pfennig berechnet. Im Übrigen erfolgte die Vergütung nach Punktwerten, die zwischen 4,7581 (im Quartal II/96) und 9,8 Pfennig (in den Quartalen I und II/93) lagen. Die Quartalsabrechnungen für 1993 erfolgten mit Honorarbescheiden der Beklagten, die an die Klägerin adressiert waren. Ab 1994 wurden die Honorarbescheide an die delegierenden Beigeladenen gerichtet und enthielten jeweils den Hinweis: "Für delegierte Leistungen an F.". Rechtsbehelfsbelehrungen enthielten diese Bescheide erst ab 1996. Der Klägerin - die sich von den Beigeladenen die Honoraransprüche gegen die Beklagte hatte abtreten lassen - wurde die Vergütungshöhe jeweils mit einem Ausdruck dieser Bescheide mitgeteilt, wobei die Rechtsbehelfsbelehrung entfernt worden war. Die letzte hier streitbefangene Mitteilung - für das 2. Quartal 1998 - wurde am 22. Oktober 1998 an sie abgesandt.

4

Die Klägerin legte gegen die Honorarbescheide für die Quartale I/94 und I - IV/95 jeweils Widerspruch ein, mit dem sie die ihrer Ansicht nach zu Unrecht reduzierten Punktwerte rügte. Aus prozessökonomischen Gründen bat sie darum, die Entscheidung über den Widerspruch bis zum Abschluss bereits laufender Verfahren "in der Parallelsache" zurückzustellen. Den Widerspruch zum Quartal I/94 schloss sich der Beigeladene zu 2), den Widersprüchen zu den Quartalen des Jahres 1995 schloss sich der Beigeladene zu 1) an. Die Beklagte vertrat im damaligen Zeitraum die Auffassung, die im Delegationsverfahren tätigen Psychotherapeuten seien zur Anfechtung der an die delegierenden Vertragsärzte gerichteten Honorarbescheide nicht befugt und hatte verschiedene Widersprüche von Psychotherapeuten deshalb als unzulässig zurückgewiesen.

5

Das Bundessozialgericht (BSG) entschied mit Urteil vom 03. März 1999 (Az.: B 6 KA 10/98 R - SozR 3-5540 Anl. 1 § 10 Nr. 1), dass ein im Delegationsverfahren tätiger Psychologischer Psychotherapeut Honorarbescheide der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) für die von ihm erbrachten Leistungen anfechten könne, soweit der delegierende Arzt seinen Honoraranspruch an ihn abgetreten habe. Mit weiterem Urteil vom 25. August 1999 (Az.: B 6 KA 14/98 R - SozR 3-2500 § 85 Nr. 33) entschied das BSG, dass Vertragsärzte und Psychotherapeuten, die überwiegend bzw. ausschließlich psychotherapeutisch tätig seien, grundsätzlich Anspruch auf Honorierung der zeitabhängigen und genehmigungsbedürftigen Leistungen des Kapitels G Abschnitt IV des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen (EBM-Ä) mit einem Punktwert von 10 Pfennig hätten.

6

Mit Schreiben vom 28. Dezember 1999 (bei der Beklagten eingegangen am 30. Dezember 1999) stellte die Klägerin den Antrag, die in der Zeit ab dem Quartal I/93 ergangenen Vergütungsbescheide aufzuheben, soweit in ihnen eine unter 10 Pfennig liegende Vergütung festgesetzt worden war, und die sich bei Berücksichtigung dieses Punktwerts ergebenden Nachvergütungen auszuzahlen. Eine entsprechende Verpflichtung der Beklagten bestehe in jedem Fall, soweit Vergütungsbescheide noch nicht unanfechtbar geworden seien, zumindest aber nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). In einem ergänzenden Schreiben vom 24. Juli 2000 wies sie darauf hin, dass sie für die Quartale, für die sie keinen Widerspruch eingelegt habe, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt habe.

7

Hinsichtlich der Quartale, für die die Klägerin bereits vorher Widerspruch eingelegt hatte, kündigte die Beklagte daraufhin eine Neuberechnung der Honorare an, die mit Bescheid vom 18. April 2001, Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 2001 und weiterem Bescheid vom 24. Juli 2002 erfolgte und zu einer Nachvergütung von insgesamt 22.307,62 DM führte.

8

Den Antrag für die Quartale I - IV/93, II - IV/94 und I/96 - II/98 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21. August 2000 ab. Auch für den Fall, dass die diesbezüglichen Honorarbescheide rechtswidrig seien, räume ihr § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X Ermessen bezüglich der Frage ein, ob die Honorarbescheide zurückgenommen würden. Im Hinblick darauf, dass Psychotherapeuten in einer Vielzahl ähnlicher Fälle eine Nachvergütung beantragt hätten und diese Anträge wegen des Gleichheitsgebots im Wesentlichen einheitlich beurteilt werden müssten, könnte eine etwaige Nachvergütung ein nicht unerhebliches finanzielles Ausmaß erreichen, wobei diese aus der laufenden Gesamtvergütung des Jahres 2000 auszuzahlen wäre. Diese finanziellen Auswirkungen für die Gesamtheit der Vertragsärzte bzw. Psychotherapeuten hätten Vorrang vor dem finanziellen Interesse der Klägerin.

9

Den am 13. September 2000 hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 09. März 2001 zurück. Die betroffenen Honorarbescheide seien bestandskräftig. Der mit Schreiben vom 24. Juli 2000 gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei verspätet, weil die Klägerin spätestens mit einem Rundschreiben der KV-Bezirksstelle Hannover vom 05. Juni 2000 über die Anfechtungsmöglichkeit informiert worden sei und der Wiedereinsetzungsantrag somit erst nach Ablauf der Monatsfrist gemäß § 67 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gestellt worden sei. Die Bestandskraft stehe zwar der Aufhebung von Honorarbescheiden nicht grundsätzlich entgegen, die im angefochtenen Bescheid angeführten Ermessenserwägungen seien jedoch zu bestätigen.

10

Hiergegen hat die Klägerin am 04. April 2001 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Zur Begründung hat sie sich in erster Linie auf den Standpunkt gestellt, die ursprünglichen Honorarbescheide seien noch anfechtbar. Bereits ihr Schreiben vom 28. Dezember 1999 sei als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzusehen, der deshalb auch fristwahrend gestellt worden sei. Das von der Beklagten angeführte Rundschreiben vom 05. Juni 2000 sei im Übrigen nicht geeignet gewesen, die Monatsfrist des § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG in Lauf zu setzen. Darüber hinaus liege ein Fall höherer Gewalt vor, weil die Beklagte mit der Propagierung ihrer objektiv unzutreffenden Rechtsansicht über die fehlende Widerspruchsbefugnis der Psychotherapeuten faktisch verhindert habe, dass Delegationspsychotherapeuten Widerspruch gegen die Honorarmitteilungen einlegten. Dies stehe auch dem Ablauf der Jahresfrist des § 67 Abs. 3 SGG entgegen. Unabhängig hiervon seien die Widersprüche schon deshalb nicht verfristet gewesen, weil ihr die Honorarbescheide nicht bekannt gegeben worden seien. Zumindest könne aber eine Aufhebung der Honorarbescheide auf § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X gestützt werden. Da die Beklagte sie seit 1993 mit der unzutreffenden Belehrung, ihr stünde kein Widerspruchsrecht zu, davon abgehalten habe, die ihr gegenüber ergangenen Honorarmitteilungen anzufechten, würde es gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen, wenn sie sich auf die mittlerweile eingetretene Bestandskraft der Honorarbescheide berufe.

11

Mit Urteil vom 14. Mai 2003 hat das SG den Bescheid vom 21. August 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09. März 2001 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin auf den Antrag vom 28. Dezember 1999 einen neuen Bescheid zu erteilen und hierbei die Vergütung der genehmigungspflichtigen psychotherapeutischen Leistungen in den Quartalen I/96 - II/98 auf der Basis eines Punktwerts von mindestes 8,5 Pfennig festzusetzen; im Übrigen ist die Klage abgewiesen worden. Die am 30. Dezember 1999 erhobenen Widersprüche der Klägerin seien verfristet, weil diese sich nicht auf das Vorliegen höherer Gewalt berufen könne. Eine derartige Situation habe im Jahr 1993 angesichts der der Klägerin regulär bekannt gemachten Honorarbescheide offenkundig nicht bestanden. Auch im Übrigen sei die Extremsituation eines unabwendbaren Zufalls nicht gegeben, weil die Beklagte die Widerspruchseinlegung nicht aktiv behindert habe. Es sei der Klägerin zumutbar gewesen, bis zum Erhalt einer Stellungnahme der Beklagten über die Unzulässigkeit von Rechtsbehelfen Widerspruch einzulegen. Dass ihr Widersprüche möglich gewesen seien, zeige zumindest der Umstand, dass sie von dieser Möglichkeit in verschiedenen Quartalen Gebrauch gemacht habe. Die Beklagte habe jedoch für den Zeitraum 1994 bis 1998 eine Nachvergütung in rechtswidriger Weise verweigert, weil die dort getroffenen Ermessenserwägungen fehlerhaft seien. Die Beklagte habe es unterlassen, die erhebliche Bedeutung der zu geringen Punktwerte für die verfassungsrechtlich gebotene Gleichbehandlung der psychotherapeutischen Leistungserbringer im Rahmen ihrer Ermessensregelung mit zu berücksichtigen. Zudem hätte sie in diesem Zusammenhang auch den Umstand berücksichtigen müssen, dass die Widerspruchserhebung für die Klägerin in Folge der ablehnenden Haltung der Beklagten zum Widerspruchsrecht der Psychotherapeuten deutlich erschwert gewesen sei. Im Ergebnis seien die Honorarbescheide deshalb zumindest teilweise aufzuheben. Dabei bestehe für die Jahre 1995 bis 1998 insoweit eine Ermessensreduzierung auf Null, als zumindest ein Punktwert von 8,5 Pfennig nachzuvergüten sei, weil sich die derzeit in Niedersachsen gezahlten Punktwerte in dieser Höhe bewegten. Dieser Punktwert sei im Übrigen als die verfassungsrechtlich gebotene Untergrenze für den maßgeblichen Zeitraum bis 1998 anzusehen, der im Rahmen der Abwägung nicht unterschritten werden dürfe. Wegen des erst im Jahre 1999 gestellten Antrags greife allerdings hinsichtlich des Zeitraums 1993 bis 1994 in entsprechender Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X die dort geregelte Vierjahresfrist ein.

12

Das Urteil ist der Klägerin am 30. Mai 2003 und der Beklagten am 02. Juni 2003 zugestellt worden. Die Beklagte hat hiergegen am 11. Juni 2003 Berufung und die Klägerin am 30. Juni 2003 Anschlussberufung eingelegt.

13

Zur Begründung ihrer Berufung trägt die Beklagte vor, es stehe mit der Rechtsprechung des BSG in Übereinstimmung, wenn sie bei ihrer Ermessensausübung gemäß § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X als entscheidend angesehen habe, dass sie bei einer Aufhebung der Honorarbescheide nicht nur gegenüber der Klägerin, sondern auch in zahlreichen weiteren Fällen zur Honorarnachzahlung verpflichtet wäre, ohne dass hierfür Gesamtvergütungsanteile aus länger zurück liegenden Zeiträumen zur Verfügung stünden oder sie zur Bildung von Rückstellungen verpflichtet gewesen wäre. Die Ausführungen des SG zur "erschwerten Widerspruchserhebung" seien widersprüchlich, weil das Gericht einerseits festgestellt habe, dass diese z.B. im Zusammenhang mit dem § 66 Abs. 2 SGG keine Konsequenzen habe, entsprechende Erschwernisse jedoch im Rahmen einer Ermessenserwägung zu berücksichtigen seien. Die geltend gemachte Erschwerung der Widerspruchseinlegung stehe auch nicht im Zusammenhang mit der hier entscheidenden BSG-Rechtsprechung über die Rechtswidrigkeit der Vergütungshöhe zu einem Punktwert von weniger als 10 Pfennig. Ferner sei die vom SG zu Grunde gelegte Differenzierung zwischen einer gravierenden Rechtswidrigkeit und einer weniger gravierenden Rechtswidrigkeit weder den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen des § 44 SGB X noch der Rechtsprechung des BSG zu entnehmen. Eine Begründung für eine Ermessensreduzierung auf Null dahingehend, dass der Punktwert in Höhe von mindestens 8,5 Pfennig festgesetzt werden müsse, führe das SG im angefochtenen Urteil weiterhin nicht an. Unverständlich seien auch die Ausführungen zur Teilaufhebung, weil das SG die angefochtenen Bescheide vollständig aufgehoben habe.

14

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. Mai 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

15

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    die Berufung zurückzuweisen,

  2. 2.

    im Wege der Anschlussberufung das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. Mai 2003 zu ändern und die ihr erteilten Honorarbescheide für die Quartale II - IV/94, I/96 - II/98 sowie den Bescheid vom 21. August 2000, sämtlich in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09. März 2001, abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die Vergütung der genehmigungspflichtigen psychotherapeutischen Leistungen der Klägerin in den genannten Quartalen auf der Basis eines Punktwerts von 10 Pfennig vorzunehmen.

16

Gegenüber der Berufung der Beklagten verteidigt sie das erstinstanzliche Urteil, insbesondere die dortigen Ausführungen zu der in Hinblick auf § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X zu treffenden Ermessensentscheidung.

17

Zur Begründung ihrer Anschlussberufung vertritt sie die Auffassung, die Beklagte habe die ab 1994 ergangenen Honorarbescheide nur den delegierenden Ärzten bekannt gegeben. Sie selbst habe dagegen nur eine "Information über das Abrechnungsergebnis" ohne Rechtsmittelbelehrung erhalten. Die Beklagte habe damit gerade nicht den Willen gehabt, der Klägerin einen sie betreffenden Verwaltungsakt zu eröffnen. Die nunmehr noch ab dem 2. Quartal 1994 angefochtenen Honorarbescheide seien deshalb nicht bestandskräftig geworden. Wenn sich die Beklagte gleichwohl auf die Bestandskraft berufe, handele sie unredlich, weil sie Widersprüche der Delegationspsychotherapeuten stets als unzulässig angesehen habe. Darauf, ob der Klägerin hierzu eine schriftliche Mitteilung erteilt worden sei, komme es nicht an, weil allen Delegationspsychotherapeuten die Rechtsauffassung der Beklagten bekannt gewesen sei. Aus diesem Grund bleibe es auch dabei, dass ihr die Einhaltung der Jahresfrist i.S.d. § 67 Abs. 3 SGG wegen höherer Gewalt nicht möglich gewesen sei. Im Rahmen des § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG hätte das dort angeführte Hindernis erst dann wegfallen können, wenn die Klägerin über ihr tatsächlich bestehendes Widerspruchsrecht individuell informiert worden wäre; dies sei jedoch nicht der Fall gewesen. Zumindest müsse das Verhalten der Beklagten jedoch dazu führen, dass es zu einer Aufhebung evtl. bestandskräftig gewordener Honorarbescheide gemäß § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X kommen müsse, was sich aus der Entscheidung des BSG vom 22. Juni 2005 (Az.: B 6 KA 24/04 R) ergebe. Auch sie sei angesichts der den Psychotherapeuten bekannten Auffassung der Beklagten von der Einlegung von Rechtsmitteln abgehalten worden; eines diesbezüglichen Nachweises durch Vorlage entsprechender Korrespondenz bedürfe es nicht. Schließlich habe das SG zu Unrecht von der Möglichkeit einer "Teilaufhebung" im Sinne einer Punktwertfestsetzung von "mindestens 8,5 Dpf." Gebrauch gemacht. Rechtmäßig wäre allein gewesen, die der Klägerin erteilten Honorarbescheide aufzuheben und ihre Vergütung auf der Grundlage eines Punktwerts von 10 Pfennig neu zu berechnen.

18

Die Beklagte beantragt,

die Anschlussberufung der Klägerin zurückzuweisen.

19

Entgegen der Auffassung der Klägerin liege in Bezug auf die BSG-Entscheidung vom 22. Juni 2005 kein atypischer Fall vor, aufgrund dessen sich ein Anspruch auf Aufhebung gemäß § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X ergeben könne. Auch wenn sie seinerzeit die Rechtsauffassung vertreten habe, die Gruppe der Psychologischen Psychotherapeuten zähle nicht zu den Mitgliedern der Beklagten, führe dies nicht zur Annahme, die Beklagte habe indirekten Einfluss auf die Entscheidung ihrer Mitglieder genommen, Rechtsmittel einzulegen.

20

Die Beigeladenen stellen keinen Antrag.

21

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

22

Die Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung der Klägerin sind zulässig. Die Anschlussberufung der Klägerin ist auch begründet, mit den noch darzulegenden geringfügigen Ausnahmen in Hinblick auf die Quartale II und IV/94. Das SG hat die für die Quartale II - IV/94 und I/96 - II/98 neu festzusetzenden Honorare zu Unrecht auf einen niedrigeren Punktwert als 10 Pfennig gestützt. Die Berufung der Beklagten ist dagegen unbegründet. Gegenüber dem Tenor des angefochtenen SG-Urteils war lediglich klarzustellen, dass der Bescheid vom 21. August 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09. März 2001 nicht aufgehoben, sondern nur abgeändert wird.

23

Klagegegenstand sind im Berufungsverfahren noch die Honorarbescheide für die Quartale II - IV/94 und I/96 - II/98, der Bescheid vom 21. August 2000, mit dem die Aufhebung dieser Honorarbescheide abgelehnt worden ist, sowie der Widerspruchsbescheid vom 09. März 2001, der die genannten Bescheide bestätigt hat. Nach den Darlegungen der Klägerin ist ihr Klagebegehren so auszulegen, dass sie sich primär gegen die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Honorarbescheide wendet und dabei davon ausgeht, dass diese noch nicht bestandskräftig sind. Nur für den Fall, dass insoweit Bestandskraft eingetreten ist, macht sie einen Anspruch auf Rücknahme dieser Verwaltungsakte geltend. Die so verstandene Klage ist als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) statthaft.

24

1.

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist eine unmittelbare Überprüfung der Rechtmäßigkeit der streitbefangenen Honorarbescheide nicht mehr möglich. Diese sind bestandskräftig geworden (§ 77 SGG); denn der Widerspruch hiergegen, der im Schreiben vom 28. Dezember 1999 gesehen werden kann, ist nicht fristgerecht eingelegt worden.

25

Gemäß § 84 Abs. 1 SGG ist der Widerspruch binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekannt gegeben worden ist, schriftlich oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Die Honorarbescheide sind zwar unstreitig nur an die Beigeladenen gerichtet gewesen, weil die Beklagte im damaligen Zeitraum davon ausging, dass eine direkte Honorarabrechnung im Verhältnis zwischen KV und Delegationspsychotherapeut nicht möglich sei (vgl hierzu BSG SozR 3-5540 Anl. 1 § 10 Nr. 1). Die Honorarbescheide sind aber auch der Klägerin - als die durch zu niedrige Honorarfestsetzungen Beschwerte - bekannt gegeben worden. Die Bekanntgabe (§ 37 Abs. 1 Satz 1 SGB X) eines Verwaltungsakts liegt vor, wenn die Behörde willentlich dem Adressaten oder dem Betroffenen von seinem Inhalt Kenntnis verschafft (Engelmann in: von Wulffen, SGB X, 5. Auflage, § 37 RdNr. 3 m.w.N.). Dies ist hier zu bejahen, weil die Beklagte der Klägerin Ausdrucke der an die Beigeladenen gerichteten Honorarabrechnungen übermittelt hat, die diesen - mit Ausnahme der Rechtsbehelfsbelehrungen - inhaltlich entsprachen. Wenn der Senat demgegenüber in seiner Entscheidung vom 26. September 2001 (Az: L 3/5 KA 46/99) zum Ergebnis gekommen ist, eine Bekanntgabe an die dort klagende Delegationspsychotherapeutin habe nicht vorgelegen, war dies darin begründet, dass entsprechende Honorarmitteilungen an die Klägerin nicht vorgetragen worden waren.

26

Neben dem - unstreitig gegebenen - Willen der Beklagten, die Klägerin mit der Übersendung von Ausdrucken der Honorarabrechnungen über das für ihre Leistungen zu zahlende Gesamthonorar sowie die hierfür maßgeblichen Berechnungswerte zu informieren, erfordert eine rechtlich beachtliche Bekanntgabe nicht zusätzlich den Willen, ihr auch einen sie betreffenden Verwaltungsakt zu eröffnen, wie die Klägerin geltend macht. Teilweise wird zwar vertreten, aus der Sicht eines Drittbetroffenen müsse erkennbar sein, dass ihm ein Verwaltungsakt bekannt gegeben und nicht nur vom Inhalt eines Verwaltungsakts Mitteilung gemacht werden solle (Stelkens in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Auflage, § 41 RdNr. 16). Die hiermit vorausgesetzte Unterscheidung zwischen besonderem Bekanntgabewillen und bloßem Mitteilungswillen ist jedoch regelmäßig allenfalls dann durchführbar, wenn die Bekanntgabe an besondere Formerfordernisse (insbesondere bei Zustellungen) geknüpft ist, die von einer einfachen Mitteilung nicht erfüllt werden könnten. Bei der einfachen schriftlichen Übermittlung von Inhalten eines Verwaltungsakts, wie sie vorliegend gegeben ist, sind dagegen auch aus der Sicht einer rechtskundigen Person keine Differenzierungen zwischen Bekanntgabe und bloßer Mitteilung möglich.

27

Der Umstand, dass die den Honorarbescheiden seit 1996 beigefügten Rechtsbehelfsbelehrungen in den der Klägerin übermittelten Ausdrucken gefehlt haben, ändert nichts am Vorliegen der Bekanntgabe. Das Fehlen der Rechtsbehelfsbelehrung führt gemäß § 66 Abs. 1 SGG lediglich dazu, dass an die Stelle der Monatsfrist eine solche von einem Jahr tritt. Die Jahresfrist ist durch das Antrags- bzw. Widerspruchsschreiben vom 28. Dezember 1999 aber nicht gewahrt worden. Wie die Beklagte auf Anfrage des Senats mitgeteilt hat, war der Ausdruck des letzten hier streitbefangenen Honorarbescheides (für das Quartal II/98) am 22. Oktober 1998 an die Klägerin versandt worden. Die Bekanntgabe war gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X damit am 25. Oktober 1998 bewirkt. Das Antrags- bzw. Widerspruchsschreiben ist jedoch erst am 30. Dezember 1999 und damit mehr als ein Jahr später bei der Beklagten eingegangen.

28

Eine Widerspruchseinlegung innerhalb der Jahresfrist war der Klägerin auch nicht infolge höherer Gewalt unmöglich (§ 66 Abs. 2 Satz 1 SGG), weil sie durch die Beklagten und der von ihr vertretenen Auffassung der fehlenden Widerspruchsbefugnis hiervon abgehalten worden wäre. Unter höherer Gewalt ist ein Ereignis zu verstehen, das auch die größtmögliche, von dem Betroffenen unter Berücksichtigung seiner Lage, Bildung und Erfahrung vernünftigerweise zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (BSG SozR 4 - 1500 § 67 Nr. 1). Ein derartiger Fall kann zwar - im Hinblick auf § 66 Abs. 2 Satz 1 Alternative 2 SGG auch vorliegen, wenn die Behörde unrichtige Mitteilungen über fehlende Rechtsbehelfe gemacht hat, ohne dies im Einzelfall schriftlich zu fixieren. Der Klägerin war jedoch die rechtliche Fragwürdigkeit dieser Auffassung bekannt, was sich schon daraus ergibt, dass sie gleichwohl für einige Quartale insbesondere des Jahres 1995 - Widerspruch eingelegt hat. Angesichts dessen wäre es ihr zumutbar gewesen, aus verfahrensrechtlicher Sorgfalt auch für die übrigen Quartale Widerspruch einzulegen.

29

Schließlich war ihr wegen des Ablaufs der Widerspruchsfrist auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 Abs. 1 SGG) zu gewähren. Im Ansatz zutreffend beruft sie sich zwar darauf, dass sie ohne Verschulden hieran gehindert war, weil für sie die Auffassung der Beklagten leitend gewesen ist, mangels eigenständiger Rechtsbeziehungen zwischen KV und Delegationspsychotherapeuten fehle es an der Widerspruchsbefugnis. An das Verschulden i.S. des § 67 Abs. 1 SGG sind insoweit geringere Anforderungen zu stellen als an ein unabwendbares Ereignis. Ausgehend hiervon hat die Klägerin aber die Frist des § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG versäumt, wonach der Wiedereinsetzungsantrag binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen ist. Denn wie sie der Beklagten in ihrem Schreiben vom 24. Juli 2000 mitgeteilt hat, war sie bereits Mitte 1999 von dem für sie zuständigen Dachverband DGPT aufgefordert worden, Widerspruch gegen Honorarbescheide einzulegen, nachdem das BSG die Widerspruchsbefugnis der Psychotherapeuten in seinem Urteil vom 3. März 1999 (SozR 3-5540 Anl. 1 § 10 Nr. 1) bejaht hatte. Der erst am 30. Dezember 1999 bei der Beklagten eingegangene Widerspruch konnte die genannte Monatsfrist deshalb nicht mehr wahren.

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2.

Die Honorarbescheide für die noch streitbefangenen Quartale sind jedoch von der Beklagten zurückzunehmen.

31

Dies folgt aus § 44 Abs. 2 SGB X. Danach ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, der weder die Erbringung von Sozialleistungen noch die Erhebung von Beiträgen zum Gegenstand hat, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (Satz 1). Nach Satz 2 kann er auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden; die Rücknahme steht insoweit im Ermessen der Behörde. Diese Vorschriften regeln abschließend, in welchen Fällen und mit welcher Maßgabe von der Bestandskraft entsprechender Verwaltungsakte Abstand genommen werden kann; der Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze - wie der von der Klägerin angeführte Grundsatz von Treu und Glauben - ist daneben nicht möglich (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl., § 77 RdNr. 6). § 44 Abs. 2 SGB X gilt auch für Verwaltungsakte, die die Festsetzung vertragsärztlicher Honorare zum Gegenstand haben (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr. 23). Die Befugnis, einen hierauf gerichteten Antrag zu stellen, steht auch der Klägerin zu, obwohl die Honorarbescheide den Beigeladenen gegenüber erlassen worden sind. Insoweit kann nichts anderes gelten als für die Einlegung von Widersprüchen, zu der nach der o. g. BSG-Entscheidung auch die im Delegationsverfahren tätigen Psychologischen Psychotherapeuten befugt sind, soweit die delegierenden Ärzte - wie im vorliegenden Fall - ihre Honoraransprüche an sie abgetreten haben.

32

Die hier noch streitbefangenen Honorarbescheide für die Quartale II - IV/94 und I/96 - II/98 waren - mit zwei Ausnahmen, hierzu sogleich - rechtswidrig. Die Honorarfestsetzung für das Jahr 1994 erfolgte gemäß dem Honorarverteilungsmaßstab Primärkassen (HVM PK) der Beklagten vom 13. November 1993 (dort: § 8 Abs. 3 e (d) i.V.m. Ziffer II der Anlage 3); für den Ersatzkassenbereich galt der HVM Ersatzkassen (HVM EK) vom 13. November 1993 (§ 8 Abs. 3 e). Für die Quartale I/96 - II/97 war der HVM PK vom 18. November 1995 (dort § 8 Abs. 3 g i.V.m. Ziffer II der Anlage 3) einschlägig, für die Ersatzkassenfälle der HVM EK vom 18. November 1995 (§ 8 Abs. 3 d). Für die Quartale ab III/97 galt schließlich der einheitliche HVM vom 31. Mai 1997 (§ 9 Abs. 3 g i.V.m. § 2 Abs. 1 der Anlage 3). Die Anwendung dieser HVM-Regelungen führte dazu, dass die Honorare auf der Grundlage eines Punktwerts berechnet wurden, der für die hier streitbefangenen Leistungen zwischen 4,7581 (Primärkassen im Quartal II/96) und 10,5 Pfennig (Ersatzkassen im Quartal IV/94) lag.

33

Diese Regelungen standen mit höherrangigem Recht nicht im Einklang, soweit sie zu einem Punktwert von weniger als 10 Pfennig führten. Wie das BSG wiederholt entschieden hat (SozR 3-2500 § 85 Nr. 29, Nr. 33, Nr. 35 und Nr. 41), verletzt es den aus Artikel 12 Abs. 1 und Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) herzuleitenden Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit, wenn im jeweiligen HVM keine Regelungen vorgesehen sind, die für die im Kapitel G Abschnitt IV des EBM-Ä enthaltenen psychotherapeutischen Leitungen einen gestützten Punktwert vorsehen. Denn die Eigenart dieser - genehmigungspflichtigen und zeitgebundenen Leistungen - erfordert eine Sonderregelung, weil die sie erbringenden Psychotherapeuten - anders als die übrigen Behandler - nicht in der Lage sind, die durch einen Punktwertverfall verursachte Honorarminderung durch Mehrleistungen auszugleichen. Als Folge hiervon könnte ein starker Punktwertverfall selbst bei voll ausgelasteten Psychotherapeuten zu existenzbedrohenden Honorarausfällen führen. Die Höhe des gestützten Punktwerts hat das BSG mit 10,0 Pfennig beziffert (zu den Kalkulationsgrundlagen vgl. BSG SozR 3-2500 § 85 Nr. 33). Zu dem hiervon betroffenen Personenkreis zählen die ausschließlich psychotherapeutisch tätigen Ärzte sowie die ohnehin auf psychotherapeutische Behandlungen beschränkten Psychologischen Psychotherapeuten (vgl. BSG SozR 3-2500 § 85 Nr. 33) und damit auch die Klägerin, um deren Leistungen es vorliegend geht.

34

Mit Ausnahme der Honorarbescheide, die dem Beigeladenen zu 2) gegenüber für das Quartal II/94 (Ersatzkassen) und dem Beigeladenen zu 1) gegenüber für das Quartal IV/94 (Ersatzkassen) mit Punktwerten von 10,0 bzw. 10,5 Pfennig erlassen worden sind, sind daher alle vorliegend betroffenen Honorarbescheide rechtswidrig. Nur die beiden genannten Bescheide sind rechtmäßig; die hierauf bezogene Anschlussberufung der Klägerin gegen die klagabweisende Entscheidung des SG ist daher unbegründet.

35

In Hinblick auf die danach von der Beklagten durchzuführende Ermessensprüfung, ob die Bescheide korrigiert werden sollen, ist nach der Rechtsprechung des BSG (SozR 3-1300 § 44 Nr. 23; SozR 4-1300 § 44 Nr. 6) im Grundsatz entscheidend, dass im Falle der Korrektur in gleicher Weise einer Vielzahl von Aufhebungsanträgen anderer Vertragsärzte bzw. Psychotherapeuten stattgegeben werden müsste, weil für alle maßgeblich ist, dass die zugrunde liegenden HVM-Regelungen rechtswidrig sind. Hieraus folgende u.U. erhebliche - Zahlungsverpflichtungen müssten dann aber aus der laufenden Gesamtvergütung beglichen werden, wodurch auch diejenigen Ärzte bzw. Psychotherapeuten belastet würden, die in den früheren, hier betroffenen Zeiträumen noch nicht Mitglieder der KV gewesen sind. Aus diesen Gründen ist es nach der o. g. BSG-Rechtsprechung grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn eine KV diesen Folgewirkungen einer Nachvergütung dem finanziellen Interesse des einzelnen Klägers gegenüber ausschlaggebendes Gewicht zumisst und die rückwirkende Aufhebung der Honorarbescheide ablehnt.

36

Etwas anderes soll allerdings in atypischen Fällen gelten, die nach der BSG-Entscheidung vom 22. Juni 2005 (SozR 4-1300 § 44 Nr. 6) vor allem dann vorliegen, wenn die KV auf die Entscheidung ihrer Mitglieder, Rechtsmittel einzulegen, direkten oder indirekten Einfluss genommen hat, indem sie betroffene Ärzte durch entsprechende Hinweise von der Einlegung von Rechtsmitteln abgehalten oder sich insoweit zumindest mehrdeutig verhalten hat. Eine derartige Konstellation liegt hier vor. Unbestritten hatte die Beklagte bis zur anderslautenden Entscheidung des BSG vom 3. März 1999 (SozR 3-5540 Anl. 1 § 10 Nr. 1) die Auffassung vertreten, zwischen ihr und den Delegationspsychotherapeuten bestünden keine Rechtsbeziehungen, die diese dazu berechtigten, die an die delegierenden Ärzte gerichteten Honorarbescheide anzufechten; vielmehr seien nur die Ärzte zur Einlegung von Widersprüchen befugt. Dennoch eingelegte Widersprüche wurden entweder als unzulässig zurückgewiesen oder nicht bearbeitet, insbesondere dann, wenn der jeweilige Psychotherapeut sich - wie die Klägerin in ihren Widersprüchen - mit einer Zurückstellung der Entscheidung bis zum Abschluss laufender Verfahren einverstanden erklärt hatte. Hiervon hatte die Klägerin auch Kenntnis. Dies ergibt sich schon daraus, dass die delegierenden Ärzte sich allen ihren Widersprüchen ausdrücklich angeschlossen hatten, was nur Sinn machte, wenn die Klägerin aufgrund der bisherigen Haltung der Beklagten selbst im Zweifel darüber war, ob ihre eigenen Widersprüche akzeptiert werden würden. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, wenn die Klägerin darlegt, sie habe nach den Quartalen IV/94 von der Einlegung weiterer Widersprüche abgesehen, weil sie es für unzumutbar gehalten habe, ihre Delegationsärzte Quartal für Quartal wegen ihrer eigenen Honorarangelegenheiten in Anspruch zu nehmen. Die von der Beklagten in ihrer Berufungsbegründung demgegenüber geäußerte Annahme, vor Bekanntwerden der BSG-Entscheidung über den Mindestpunktwert von 10 Pfennig hätten die Psychotherapeuten "teilweise eine Widerspruchserhebung auch deshalb unterlassen", weil sie sich entweder mit der Vergütung zufrieden gegeben oder wenig Erfolgsaussichten gesehen hätten, ist demgegenüber als bloße Vermutung unerheblich. Eines weitergehenden Nachweises der Kausalität zwischen der Rechtsauffassung der Beklagten zur Widerspruchsbefugnis und des Unterlassens weiterer Widersprüche durch die Klägerin bedarf es daher nicht, zumal es nach der o. g. BSG-Rechtsprechung ausreicht, dass die Beklagte nur indirekten Einfluss genommen und sich zumindest mehrdeutig verhalten hat.

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Liegt der genannte atypische Fall vor, ist das Ermessen der KV nach dem BSG-Urteil vom 22. Juni 2005 (SozR 4-1300 § 44 Nr. 6, RdNr. 14) von vornherein i.S. der Bescheidkorrektur und Nachvergütung vorgeprägt. Die demnach anzunehmende Ermessensreduzierung auf Null ist auch nach Ansicht des erkennenden Senats allein sachgerecht. Denn die Beklagte darf die rechtswidrig zu gering honorierten Delegationspsychotherapeuten nicht auf einer Nachvergütung entgegenstehende Ermessensgesichtspunkte verweisen, wenn sie durch ihre Verwaltungspraxis selbst wesentlich dazu beigetragen hat, dass eine Bescheidkorrektur nur noch nach vorheriger Ermessensprüfung (gemäß § 44 Abs. 2 S. 2 SGB X) möglich ist.

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Für die Quartale II - IV//94 gilt nichts anderes, auch wenn sie länger als vier Jahre vor dem Antrag auf Aufhebung der Honorarbescheide zurückliegen. § 44 Abs. 4 Satz 1 und 3 SGB X, wonach Sozialleistungen für derart lang zurückliegende Zeiträume nicht nachgezahlt werden, steht dem nicht entgegen. Dabei kann offen bleiben, ob diese Vorschrift für andere Leistungen von vornherein nicht anwendbar ist (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr. 3; BVerwG NVwZ-RR 2000, 136 [BVerwG 05.10.1999 - 5 C 27/98]) oder im vorliegenden Zusammenhang der ihr zu Grunde liegende Rechtsgedanke als Ermessenskriterium Berücksichtigung finden könnte (so das Senatsurteil vom 01. Dezember 2004 - L 3 KA 4/04). Denn auch im zweiten Fall wäre das Ermessen der Beklagten aus den dargelegten Gründen mit dem Ergebnis auf Null reduziert, dass sie zur Neufestsetzung der Honorare verpflichtet ist.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und Abs. 4 SGG (in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden Fassung). Dabei hat die Beklagte auch die erstinstanzlich entstandenen Kosten der Klägerin in vollem Umfang zu erstatten, weil der auf die nunmehr nicht mehr streitigen Quartale I - IV/93 entfallende Honoraranteil von nur geringfügiger Bedeutung ist.

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Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor. Zwar dürfte noch eine größere Zahl von Parallelverfahren zur Entscheidung anstehen. Die Rechtslage ist jedoch auf der Grundlage der BSG-Entscheidung in SozR 4-1300 § 44 Nr. 6 als geklärt anzusehen.-