Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 10.11.2003, Az.: 1 A 4315/01

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
10.11.2003
Aktenzeichen
1 A 4315/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 40721
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2003:1110.1A4315.01.0A

Amtlicher Leitsatz

Entscheidungsrelevanz der Staatsangehörigkeit armenischer Volkszugehöriger aus Aserbaidschan mit langjährigem Aufenthalt in Russland.

Die Situation in Aserbaidschan ist in der Regel nicht entscheidungserheblich bei armenischen Volkszugehörigen, die Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre Aserbaidschan in Folge der Pogrome verlassen und sich seitdem in der Russischen Föderation aufgehalten haben.

In der Russischen Föderation gibt es eine staatliche landesweite Gruppenverfolgung in Anknüpfung an den moslemischen Glauben, die Herkunft aus dem Kaukasus oder einem "südländischen" Aussehen weiterhin nicht.

Tatbestand

1

Die Kläger sind nach eigenen Angaben armenische Volkszugehörige christlichen Glaubens. Sie gelangten im September 2001 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland und beantragten die Anerkennung als Asylberechtigte.

2

Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 11. Oktober 2001 machte der Kläger zu 1) geltend: Er habe bis Januar 1990 in B. in Aserbaidschan gelebt, von da an in R. am Don in der Russischen Föderation. Er sei seit 1990 verwitwet, seine Frau sei Aserbaidschanerin gewesen. In Aserbaidschan habe er von 1978 bis 1988 als Lehrer gearbeitet und dann von Ersparnissen gelebt. In der Russischen Föderation habe er als Tagelöhner an unterschiedlichen Baustellen für Privatleute gearbeitet. Er habe mit seinem Sohn, dem Kläger zu 2), 1990 Aserbaidschan verlassen müssen, weil sie vertrieben worden seien. Am 12. Januar 1990 sei eine Gruppe von Polizisten zu ihnen nach Hause gekommen und hätten sie verprügelt. Sie hätten daraufhin im Krankenhaus behandelt werden müssen; seine Frau sei dort verstorben. Die Russische Föderation habe er verlassen, weil sie dort seit 2 1/2 Jahren nicht mehr in Ruhe hätten leben können. Er sei ständig bei Passkontrollen angehalten worden. Da er nur eine Passersatzbescheinigung gehabt habe, sei er misshandelt worden und sein ganzes Geld, das er jeweils dabei gehabt habe, verlangt worden. Die Passersatzbescheinigung habe sein Schwiegervater in Aserbaidschan gekauft, sie sei nicht offiziell ausgestellt worden.

3

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte mit dem hier angefochtenen Bescheid den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs.1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen und forderte die Kläger unter Fristsetzung und Androhung der Abschiebung in die Russische Föderation zur Ausreise auf.

4

Die Kläger haben am 21. Dezember 2001 Klage erhoben. Zur Begründung tragen sie ergänzend vor: Sie könnten als Armenier nicht nach Aserbaidschan zurückkehren. Auf die Russische Föderation könne als Anknüpfungspunkt für eine politische Verfolgung nicht abgestellt werden, da sie nicht russische Staatsangehörige seien. Aber auch von dort seien sie vorverfolgt ausgereist, weil sie als Illegale polizeilichen Übergriffen ausgesetzt gewesen seien.

5

Die Kläger beantragen,

  1. die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass für sie die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass für sie die Voraussetzungen des § 53 AuslG vorliegen und den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 18. Dezember 2001 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht und ihre Abschiebung in die Russische Föderation angedroht worden ist.

6

Die Beklagte beantragt,

  1. die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger zu 1) ist im Termin zur mündlichen Verhandlung informatorisch angehört worden. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

8

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sowie die in der Erkenntnismittelliste aufgeführten Unterlagen Bezug genommen; sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

9

Die Klage, über die nach Übertragungsbeschluss der Kammer durch den Einzelrichter entschieden werden konnte, ist zulässig, aber unbegründet.

10

Die Kläger können sich mit Erfolg weder auf ein Abschiebungsverbot nach § 51 Abs.1 AuslG noch auf Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG berufen.

11

Nach § 51 Abs.1 AuslG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Diese Voraussetzungen sind deckungsgleich mit denen des Asylgrundrechts, soweit es die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut, den politischen Charakter der Verfolgung und die Frage, ob eine derartige Verfolgung droht, betrifft (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Januar 1994 - 9 C 48.92 -, BVerwGE 95, 42).

12

Das Grundrecht des Art. 16 a Abs. 1 GG ist ein Individualgrundrecht. Nur derjenige kann es in Anspruch nehmen, der selbst - in seiner Person - politische Verfolgung erlitten hat, weil ihm in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt intensive und ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzende Rechtsverletzungen zugefügt worden sind, und weil er aus diesem Grunde gezwungen war, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Land zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen; dabei steht der eingetretenen Verfolgung die unmittelbar drohende Gefahr der Verfolgung gleich. Politische Verfolgung ist grundsätzlich staatliche Verfolgung

13

(BVerfG, Beschlüsse vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315 [BVerfG 10.07.1989 - 2 BvR 501/86] und vom 10. August 2000 - 2 BvR 260/98 - NVwZ 2000, S. 1165 = DVBl. 2000, S. 1518).

14

Übergriffe von Privatpersonen fallen nur dann in den Schutzbereich des Art. 16 a Abs. 1 GG, wenn der Staat für das Tun der Dritten wie für eigenes Handeln verantwortlich ist. Das setzt voraus, dass Verfolgungsmaßnahmen Dritter dem jeweiligen Staat zuzurechnen sind. Hierfür kommt es darauf an, ob der Staat den Betroffenen mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Mitteln Schutz gewährt. Es begründet die Zurechnung, wenn der Staat zur Schutzgewährung entweder nicht bereit ist oder wenn er sich nicht in der Lage sieht, die ihm an sich verfügbaren Mittel im konkreten Fall gegenüber Verfolgungsmaßnahmen bestimmter Dritter einzusetzen. Allerdings ist es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich, einen lückenlosen Schutz vor politisch motivierten Unrecht und Gewalt durch nicht staatliche Stellen oder Einzelpersonen zu garantieren. Entscheidend ist, ob der Staat unter Einsatz der ihm zur Verfügung stehenden Mittel im Großen und Ganzen Schutz gewährt. Übersteigt hingegen die Schutzgewährung die Kräfte des konkreten Staates, liegt die Schutzgewährung mit anderen Worten jenseits der dem Staat an sich zur Verfügung stehenden Mittel, so endet seine asylrechtliche Verantwortlichkeit

15

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989, aaO; BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, 372).

16

Die Gefahr eigener politischer Verfolgung kann sich aus gegen den Betreffenden selbst gerichtete Maßnahmen des Verfolgers ergeben. Sie kann aber auch auf gegen Dritte gerichtete Maßnahmen beruhen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der betreffende Flüchtling mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, mithin seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen als eher zufällig zu bezeichnen ist (Gruppenverfolgung). Die unmittelbare Betroffenheit des Einzelnen durch gerade auf ihn zielende Verfolgungsmaßnahmen und die Gruppengerichtetheit der Verfolgung stellen nur Eckpunkte eines durch fließende Übergänge gekennzeichneten Erscheinungsbildes politischer Verfolgung dar. Die Anknüpfung an die Gruppenzugehörigkeit bei Verfolgungshandlungen ist nicht immer eindeutig erkennbar. Oft tritt sie nur als ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit mitprägender Umstand hervor, der - je nach Lage der Dinge - für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Gruppenmitglieds, wohl aber bestimmter Gruppenmitglieder rechtfertigt, die sich in vergleichbarer Lage befinden. Auch solchen Fällen im Übergangsbereich zwischen anlassgeprägter Einzelverfolgung und gruppengerichteter Kollektivverfolgung muss Rechnung getragen werden. So ist die gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung für einen Gruppenangehörigen aus dem Schicksal anderer Gruppenmitglieder möglicherweise auch dann herzuleiten, wenn diese Referenzfälle es noch nicht rechtfertigen, vom Typus einer gruppengerichteten Verfolgung auszugehen (Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit). Hier wie da ist es von Belang, ob vergleichbares Verfolgungsgeschehen sich in der Vergangenheit schon häufiger ereignet hat, ob die Gruppenangehörigen als Minderheit in einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung leben müssen, das Verfolgungshandlungen wenn nicht gar in den Augen der Verfolger rechtfertigt, so doch tatsächlich begünstigt, und ob sie ganz allgemein Unterdrückungen und Nachstellungen ausgesetzt sind, mögen diese als solche auch noch nicht von einer Schwere sein, die die Annahme politischer Verfolgung begründet.

17

(BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85, 515/89,1827/89 - BVerfGE 80, 315, 333f. [BVerfG 10.07.1989 - 2 BvR 501/86]).

18

Die sowohl bei einer individuellen als auch einer landesweiten bzw. regional begrenzten Gruppenverfolgung entscheidende Frage, ob eine Verfolgungsgefahr für die absehbare Zukunft besteht, muss aufgrund einer Prognose beurteilt werden, die - ausgehend von den Verhältnissen im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung - die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Betroffenen in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat

19

(BVerwG, Urteile vom 3. Dezember 1985 - 9 C 22.85 -, NVwZ 1986 S. 760 und vom 5. November 1991 -9 C 118/90-, BVerwGE 89, 162).

20

Für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender asylberechtigt ist, gelten unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik gekommen ist. Hat der Betroffene seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen, ist festzustellen, dass er im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist. Derartig vorverfolgt Ausgereisten ist eine Rückkehr aufgrund veränderter Umstände nur zuzumuten, wenn die Gefahr, erneut mit Verfolgungsmaßnahmen überzogen zu werden, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann

21

(BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 -, BVerfGE 54, 341, 357; BVerwG, Urteil vom 25. September 1984 - 9 C 17.84 -, BVerwGE 70, 169).

22

Demgegenüber kommt dem Schutzbegehren eines unverfolgt Ausgereisten grundsätzlich nur dann Erfolg zu, wenn ihm im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nunmehr aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, BVerwGE 96, 200).

23

Gemessen an diesen Grundsätzen besteht für die Kläger ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht.

24

Insofern ist allein auf die Situation in der Russischen Föderation abzustellen. Auf die Situation in Armenien, die - wohl versehentlich - auf Seite 6 des angefochtenen Bescheides Erwähnung findet, kommt es ersichtlich nicht an, da die Kläger offensichtlich weder armenische Staatsangehörige sind noch dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt vor der Ausreise nach Deutschland hatten und ihnen auch nicht die Abschiebung nach Armenien angedroht worden ist. Entgegen der Ansicht der Kläger ist die Situation in Aserbaidschan ebenfalls nicht entscheidungserheblich. Die Kläger stammen zwar aus Aserbaidschan, haben dieses Land aber bereits 1990 im Zusammenhang mit den Pogromen gegen armenische Volkszugehörige verlassen und sich seitdem bis zur Ausreise nach Deutschland im Jahr 2001 in der Russischen Föderation aufgehalten. Es spricht folglich viel dafür, dass die Kläger jedenfalls am Tage des Inkrafttretens der Neuregelung des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsrechtes am 30. September 1998 (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 27. September 2000 an das VG Berlin) keinen tatsächlichen Aufenthaltsort in Aserbaidschan hatten, an dem sie behördlich angemeldet waren, wobei anzunehmen ist, dass als Grundlage für eine Anerkennung der Staatsangehörigkeit ein amtlich gemeldeter Wohnsitz ohne faktischen Aufenthalt in Aserbaidschan nicht ausreicht

25

(so Verwaltungsgericht Braunschweig, Urteil vom 4. Dezember 2002 - 8 A 546/01 -).

26

Zudem erfolgte nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schleswig vom 28. April 2003 bei armenischen Volkszugehörigen in der Regel sieben Jahre nachdem sie an ihrem Wohnsitz nicht mehr aufhältig waren eine Abmeldung von Amts wegen. Danach lag für die Kläger zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsrechtes am 30. September 1998 auch ein amtlich gemeldeter Wohnsitz, der als Grundlage für eine Anerkennung der Staatsangehörigkeit dienen könnte, nicht mehr vor. Aber selbst dann, wenn eine Interpretation der in Aserbaidschan geltenden Regelungen zur Staatsangehörigkeit noch die Annahme einer formalen Staatsangehörigkeit der Kläger zuließe, besäßen sie dennoch keine asylrechtlich zureichende Beziehung zu Aserbaidschan mehr. Denn der Einzelrichter nimmt mit dem OVG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 4. März 2001 - 11 A 5348/98.A -) an, dass es sich insofern nur noch um eine inhaltsleere rechtliche Hülse handeln würde, da die Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Aserbaidschan keine Dokumente erhalten würden, die für eine Wiedereinreise nach Aserbaidschan erforderlich sind, mithin Aserbaidschan im Verhältnis zu armenischen Volkszugehörigen, die infolge der Pogrome Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre das Land verlassen haben, nunmehr faktisch die Rolle eines nicht zur Aufnahme bereiten Drittstaates annimmt. Ob die Kläger Abschiebungsschutz nach § 51 AuslG beanspruchen können, ist folglich ungeachtet einer möglicherweise formal fortbestehenden Staatsangehörigkeit nicht im Hinblick auf die Verhältnisse in Aserbaidschan zu erörtern. Die Rechtsprechung der Kammer, wonach eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass erkennbar armenischen Volkszugehörigen in Aserbaidschan Maßnahmen politischer Verfolgung drohen und eine Fluchtalternative in Berg-Karabach nur gegeben ist, wenn die Betroffenen aus Karabach stammen

27

(vgl. VG Oldenburg, Urteil vom 19. Juni 2001 - 1 A 1916/99 - ) findet mithin auf die Situation der Kläger ebenso wenig Anwendung wie die dem teilweise entgegenstehende Rechtsprechung, wonach armenischen Volkszugehörigen in Aserbaidschan in der Regel keine politische Verfolgung droht

28

(vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 23. September 2002 - 13 LA 262/02) oder eine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach besteht

29

(OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. September 2001 - 6 A 11840/00 -; OVG Schleswig, Urteil vom 12. Dezember 2002 - 1 L 239/01 -).

30

Ob die Kläger Staatsangehörige der Russischen Föderation sind, kann dahinstehen. Denn auf die Verhältnisse in der Russischen Föderation kommt es jedenfalls deshalb an, weil die Kläger dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt vor der Ausreise nach Deutschland hatten. Maßnahmen politischer Verfolgung drohen ihnen im Falle einer Rückkehr dorthin jedoch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht.

31

In der Russischen Föderation gibt es eine staatliche landesweite Gruppenverfolgung in Anknüpfung an den moslemischen Glauben, die Herkunft aus dem Kaukasus oder einem "südländischen" Aussehen weiterhin nicht. Diese Merkmale betreffen eine sehr große Bevölkerungsgruppe, bestehend zum einen aus Menschen, die in Folge mehrerer Flüchtlingsströme z. B. - wie hier - aus Armenien und Aserbaidschan (wegen des Konfliktes um Nagorny-Karabach) oder aus Georgien (wegen des Konfliktes in Südossetien) in die Russische Föderation gekommen sind, zum anderen in großen Gebieten wie Tschetschenien, Dagestan, Karbadino-Balkarien, Inguschetien, Nordossetien und den Siedlungsgebieten von Tscherkessen und Kalmücken etc. innerhalb der Russischen Föderation die Bevölkerungsmehrheit stellen oder sich von dort aus in andere Regionen der Russischen Föderation, insbesondere die wirtschaftlich reizvolleren Großstädte, begeben haben. Für den gesamten Bereich der Russischen Föderation werden zwar immer wieder Übergriffe von Angehörigen der Sicherheitsbehörden und aus der Bevölkerung sowie speziell für die Regionen mit russischen Bevölkerungsmehrheiten administrative Behinderungen gegenüber Kaukasiern, etwa bei der Beschaffung von Wohnraum, den Möglichkeiten der Arbeitsaufnahme und verschiedenen Zuzugs- und Registrierungsformalitäten bekannt,

32

(vgl. AA, Lageberichte vom 15. November 2000, 28. August 2001 und 7. Mai 2002; UNHCR vom November 2000 und Januar 2002; ai an VG Bremen vom 12. November 1998 und Bericht über Tschetschenien vom 01. Dezember 1999), auch für Tschetschenen und andere Kaukasier besteht aber grundsätzlich das allgemeine, von der russischen Verfassung gewährte Recht auf Wohnsitznahme in der gesamten Russischen Föderation

33

(vgl. AA an VG Braunschweig vom 12. Dezember 2001 und an VG Karlsruhe vom 26. April 2002).

34

Berichtet wird allerdings von einer in der russischen Bevölkerung (ethnische Russen) latent vorhandenen nationalistischen und antisemitischen Strömung. Diese äußere sich u.a. in spürbaren Antipathien und einem tiefverwurzelten Misstrauen im Sinne traditioneller Vorurteile gegenüber den "politisch verdächtigen" Kaukasusvölkern, welche möglicherweise durch die maffiaähnlichen Aktivitäten einzelner Gruppen gefördert würden, deren Zusammenhalt wesentlich durch die kaukasische Herkunft ihrer Mitglieder bestimmt sei. Dies gehe z.T. sogar so weit, dass in Sankt Petersburg über stadteigene Sender zu ethnischen Säuberungen aufgerufen worden sei

35

(AA, Lagebericht vom 22. Mai 2000, AA an BAFL vom 30. Mai 2000, an VG Trier vom 07. Oktober 1998 und an VG Schwerin vom 14. Juni 1999; UNHCR vom November 2000 und Januar 2002; taz vom 1. November 2001, Die Welt vom 11. Februar 2002).

36

Nach den Sprengstoffanschlägen im September 1999 in Moskau kam es im Rahmen der Antiterroraktion "Wirbelwind" auch in größerer Zahl zu Menschenrechtsverletzungen. Nach den Angaben von amnesty international haben in Moskau daran 22.000 Beamte der Strafverfolgungsbehörden teilgenommen, zusätzlich 9.000 Polizeibeamte sind aus anderen Städten hierfür nach Moskau entsandt worden. Amnesty international bewertet diese Maßnahme als massive Einschüchterungskampagne gegen Tschetschenen und andere aus dem Kaukasus stammende Personen. Die Überprüfung des Besitzes von Wohnerlaubnissen und der Registrierung habe als Vorwand gedient, um jede Person, die aus dem Kaukasus zu stammen scheine, für eine Identitätsprüfung auf der Straße anzuhalten und anschließend festzunehmen. Bis zu 20.000 Nichtmoskowiter seien dabei vorläufig festgenommen, mehr als die Hälfte sei die offizielle Registrierung und eine Wohnerlaubnis verweigert worden. Moskauer Beamte hätten angegeben, dass ungefähr 10.000 Nichtmoskowiter, die keine Wohnerlaubnis besessen hätten und denen die Registrierung verweigert worden sei, aus der Stadt ausgewiesen worden seien

37

(ai, Bericht über Tschetschenien vom 01. Dezember 1999; ai an VG Ansbach vom 12. Januar 2001).

38

Ebenfalls im Anschluss an die Sprengstoffanschläge erließ der Moskauer Bürgermeister Luzhkov am 13. September 1999 die Verfügung Nr. 1007 "über dringende Maßnahmen, die Registrierung von vorübergehend in Moskau wohnenden Staatsangehörigen sicherzustellen". Darin wurde geregelt, dass sich alle nur vorübergehend in Moskau wohnhaften Bürger innerhalb von drei Tagen erneut registrieren lassen müssten; die Nichtregistrierung habe die Ausweisung aus der Stadt zur Folge. Nach verschiedenen Berichten sei diese kurze Frist vor allem von Flüchtlingen, die oft Hals über Kopf und ohne Papiere ihre Heimatregionen verlassen hätten, nicht einzuhalten gewesen, so dass ihre Abschiebung aus Moskau und von dort u.a. auch nach Tschetschenien die Folge gewesen sei

39

(IGFM an VG Ansbach vom 25. Oktober 1999; ai, Bericht über Tschetschenien vom 01. Dezember 1999; AA, Lagebericht vom 22. Mai 2000; ai an VG Ansbach vom 12. Januar 2001).

40

Sowohl bei den Übergriffen im Einzelfall als auch bei den genannten Großaktionen handelt es sich aber nicht um Maßnahmen, die darauf abzielen, die gesamte Bevölkerungsgruppe der Personen kaukasischer Herkunft vollständig aus dem Staatsgebiet der Russischen Föderation zu vertreiben oder diese gar zu vernichten. Dies ist weder das erklärte noch das anderweitig erkennbare Ziel der russischen Regierung. Zwar kann - wegen der bereits angesprochenen Ressentiments von Russen gegenüber Kaukasiern - angenommen werden, dass es den jeweils Verantwortlichen nicht nur darum geht oder ging, in tschetschenischen Kreisen vermutete Terroristen zu finden, sondern wohl auch darum, den Zustrom von Flüchtlingen in die russischen Großstädte zu stoppen bzw. ihre Zahl zu verringern. Sie haben dabei auch zu ungesetzlichen Mitteln gegriffen. Im Vordergrund stand dabei aber offenbar, die entsprechende Bevölkerungsgruppe in ihre angestammten Herkunftsgebiete innerhalb der Russischen Föderation zurückzudrängen (allerdings ohne Rücksicht auf die dortigen Zustände) oder eine weitere Zuwanderung aus diesen Gebieten zu verhindern, nicht aber, sie zu vernichten oder außer Landes zu treiben.

41

Insgesamt sind zudem im Vergleich zur Größe der Bevölkerungsgruppe der Kaukasier zu wenige asylrelevante Vorfälle und Übergriffe dokumentiert, um eine Situation der unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung annehmen zu können

42

(vgl. auch VG Oldenburg, Urteile vom 5. Februar 2002 - 1 A 4782/99 - und vom 12. Februar 2002 - 1 A 3689/99 - , jeweils mwN).

43

Diese Beurteilung hat auch angesichts der Ereignisse nach der Geiselnahme in einem Moskauer Theater Ende Oktober 2002 Bestand. Im Anschluss daran ist es zwar zu einer Zunahme der antitschetschenischen Stimmungen in Russland gekommen

44

(vgl. FAZ vom 29. Oktober 2002, FR vom 19. November 2002, Welt am Sonntag vom 24. November 2002, Tageszeitung vom 20. März 2003)

45

Gleichzeitig wird über eine Verstärkung der sog. "antiterroristischen Polizei-Aktion" in Tschetschenien berichtet (Welt am Sonntag vom 24. November 2002, IGFM, Pressemitteilung vom 28. November 2002).

46

Andererseits sah das Internationale Komitee vom Roten Kreuz nach einer Verlautbarung vom 6. November 2002 zu diesem Zeitpunkt noch keine negativen Auswirken des Geiseldramas auf ihre Arbeit in Tschetschenien (vgl. NZZ vom 7. November 2002).

47

Im Hinblick auf die Situation in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens wurde in der Berichterstattung zu der Geiselbefreiung außerdem herausgestellt, dass der russische Präsident Putin sich in den Tagen des Geiseldramas nur zweimal kurz an die Bevölkerung gewandt habe, wobei er in einer Rede insbesondere vor nationalistischen Übergriffen gewarnt habe (vgl. FAZ vom 29. Oktober 2002).

48

Eine Änderung dahingehend, dass nunmehr in der Russischen Föderation für alle Personen südländischen Aussehens oder moslemischen Glaubens eine Situation der Gruppenverfolgung bestehen könnte, lassen sich den Erkenntnismitteln seit der Geiselnahme im Oktober 2002 nicht entnehmen. Gegen die Annahme eines entsprechenden Verfolgungsprogramms sprechen bereits die zitierten Verlautbarungen des russischen Präsidenten. Auch Berichte über pogromartige Ausschreitungen oder entsprechend drastische Übergriffe gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe liegen nicht vor. Das Auswärtige Amt erwähnt in dem aktuellen Lagebericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 27. November 2002 allerdings, dass derzeit kaukasisch aussehende Personen unter einer Art Generalverdacht stünden, so dass die auch in der deutschen Presse beschriebenen verstärkten Kontrollmaßnahmen aller Art (Ausweiskontrollen, Wohnungsdurchsuchungen, Abnahme von Fingerabdrücken) nicht von der Hand zu weisen seien. Russische Menschenrechtsorganisationen berichteten von einer verschärften Kampagne der Miliz gegen Tschetschenen, bei denen einziges Kriterium die ethnische Zugehörigkeit sei. Außerdem sei davon auszugehen, dass abgeschobenen Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden gewidmet werde, insbesondere solchen Personen, die sich in der Tschetschenienfrage engagiert hätten bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellten. Der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages und der Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen zum Thema Folter hätten sich deshalb unter dem Aspekt der besonderen Gefährdung mit geplanten Abschiebungen von Tschetschenen aus Deutschland in die Russische Föderation befasst. Diese Ausführungen machen deutlich, dass sich die Situation für Tschetschenen in der Russischen Föderation durch die Vorfälle Ende Oktober 2002 nochmals erheblich verschärft hat. In Einzelfällen dürften davon auch nichttschetschenische Volkszugehörige mit südländischem Aussehen beeinträchtigt sein, so etwa bei Personenkontrollen und Durchsuchungen. Im Mittelpunkt dieser Aktivitäten steht aber offenkundig weiterhin eine spezifische Eingrenzung auf solche Personen, die im Verdacht stehen, mit den Zielen der tschetschenischer Rebellen zu sympathisieren oder diese sogar aktiv zu unterstützen. Es dürfte folglich zwar anzunehmen sein, dass südländisch aussehende Personen in der Russischen Föderation nunmehr noch häufiger kontrolliert werden. Daran anknüpfende Übergriffe und Misshandlungen von einer Häufigkeit und Intensität, die eine Gruppenverfolgung für diesen großen und kaum eingrenzbaren Personenkreis begründen könnten, sind jedoch weiterhin nicht zu erwarten. Dies auch bereits deshalb, weil russische Volkszugehörige bzw. Angehörige der russischen Sicherheitsbehörden schon wegen der Sprachkenntnisse in der Regel tschetschenische Volkszugehörige von anderen südländisch aussehenden Personen unterscheiden können.

49

Anhaltspunkte für eine drohende politische Verfolgung der Kläger in der Russischen Föderation aus individuellen Gründen sind ihrem Vorbringen ebenfalls nicht zu entnehmen. Die vom Kläger zu 1) geschilderten Schikanen und Übergriffen bzw. Gelderpressungen bei Kontrollen bewegen sich - die Wahrheit seiner Angaben unterstellt - auf der Ebene des geschilderten Klimas aus Vorurteilen und Ressentiments innerhalb der russischen Bevölkerung einschließlich des aus diesen Gründen z.T. willkürlichen Umgangs einzelner Angehöriger der russischen Sicherheitsorgane mit Menschen kaukasischer Herkunft, führen aber nicht zu einer aussichtslosen Lage innerhalb des gesamten Landes, der sich die Kläger nicht mehr durch einen Ortswechsel innerhalb der Russischen Föderation, sondern nur noch durch die Flucht ins Ausland hätten entziehen können.

50

Im Übrigen stützen sich die Kläger maßgeblich darauf, dass es ihnen nicht gelungen ist, Pässe oder andere ihren Aufenthalt legitimierende Unterlagen in der Russischen Föderation zu bekommen. Diese Schwierigkeiten wären aber dann beseitigt, wenn es ihnen gelänge, tatsächlich freiwillig in die Russische Föderation zurückzukehren und dabei offiziell die Grenze überschreiten zu können bzw. es möglich wäre, sie dorthin abzuschieben. Denn dies ist nur mit entsprechenden Papieren möglich.

51

Auch Anhaltspunkte für die Annahme von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG liegen deshalb nicht vor.

52

Soweit sich die Kläger darauf berufen, die russische Staatsangehörigkeit nicht zu besitzen bzw. Probleme bei der Ausstellung russischer Papiere erwarten, stellt dies die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung ebenfalls nicht in Frage. Es ist für die rechtliche Beurteilung des in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Zielstaates grundsätzlich unerheblich, ob der Ausländer dessen Staatsangehörigkeit besitzt. Eine Abschiebungsandrohung unterliegt in Bezug auf die Bezeichnung des Zielstaates auch nicht bereits deshalb der Aufhebung, weil der Abschiebungserfolg nicht sicher vorhergesagt werden kann. Besteht auf Grund der Beziehungen des Ausländers zum Zielstaat eine hinreichende Aussicht auf erfolgreiche Durchführung der Abschiebung, ist dem ausreisepflichtigen Ausländer vielmehr zuzumuten, sich um eine Einreise in diesen Staat zu bemühen, soweit es jedenfalls möglich erscheint, dass er in das in der Abschiebungsandrohung genannte Land auch abgeschoben werden kann (vgl. BVerwG, Beschl. vom 1. September 1998 - 1 B 41/98 - InfAuslR 1999, 73).

53

So ist es hier bereits deshalb, weil die Kläger nach ihren Angaben vor ihrer Ausreise viele Jahre in der Russischen Föderation gelebt haben.

54

Nur ergänzend bleibt anzumerken, dass eine Abschiebung in ein anderes Land als die Russische Föderation nur in Betracht käme auf Grund einer entsprechenden Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, gegenüber den Klägern gerichtlicher Rechtsschutz zu eröffnen ist, ohne dass den Ausführungen in der Begründung des hier angefochtenen Bescheid eine präkludierende Funktion zukommen könnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2000 - 9 C 42.99 - InfAuslR 2001, S. 46).

55

Auch im Übrigen bestehen rechtliche Bedenken gegen die Abschiebungsandrohung nicht, sie entspricht den gesetzlichen Voraussetzungen von § 38 Abs. 1 AsylVfG.