Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 30.10.2012, Az.: 13 B 5868/12

Ausweisung; Prognose; Straftäter

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
30.10.2012
Aktenzeichen
13 B 5868/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 44329
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 10.000,00 EURO festgesetzt (§§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 GKG).

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird sowohl für das Verfahren 13 B 5868/12 als auch für das Verfahren 13 A 5867/12 abgelehnt.

Gründe

I.

Der Antragsteller und Kläger (zukünftig nur Antragsteller) wendet sich gegen die Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und gegen seine Ausweisung und begehrt vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO sowie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für diese Verfahren.

Der Antragsteller ist türkischer Staatsbürger und wurde 1993 in Nienburg geboren. Bereits als Minderjähriger wurde er in erheblicher Weise straffällig. Er war Mitglied der sog. „Nienburger Kinderbande“.

Die Eltern des Antragstellers schickten ihn daraufhin zu seinen Großeltern in die Türkei zurück. Der Antragsteller reiste 2005 aus Deutschland aus.

2008 wurde zumindest sein Vater (die Eltern sind zwischenzeitlich geschieden) in Deutschland eingebürgert.

Trotz der vorangegangenen Auffälligkeiten durfte der Antragsteller Anfang 2010 wieder in Deutschland einreisen und erhielt eine Aufenthaltserlaubnis befristet bis zum 05. 01.2011.

Seit Juli 2010 wurden gegen den Antragsteller 40 Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Mit Urteil des Amtsgerichtes Nienburg wurde der Antragsteller dann wegen gemeinschaftlichen Diebstahls in drei Fällen in Tatmehrheit mit Diebstahl und Tatmehrheit mit Beleidigung zunächst zu einer Jugendstrafe von 10 Monaten verurteilt.

Mit Urteil vom 16.04.2012 des Amtsgerichtes Nienburg wurde der Antragsteller dann wegen mehreren versuchten und durchgeführten Wohnungseinbruchsdiebstählen, wegen versuchten Diebstahls, Erschleichen von Leistungen, Urkundenfälschung und Betrug verurteilt. Unter Einbeziehung der vorangegangenen Verurteilung verurteilte das Gericht den Antragsteller zu 1 Jahr und 10 Monaten Jugendstrafe. Zunächst wurde die Strafe zur Bewährung ausgesetzt, die Bewährung wurde im August 2012 zwischenzeitlich widerrufen.

Mit Bescheid vom 01.10.2012 lehnte der Antragsgegner und Beklagte (zukünftig nur Antragsgegner) den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab, wies den Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland aus, ordnete insoweit die sofortige Vollziehung der Ausweisung an, forderte den Antragsteller zum Verlassen des Bundesgebietes auf und drohte seine Abschiebung in die Türkei an.

Am 16.10.2012 hat der Antragsteller hiergegen Klage erhoben, um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht (zunächst in Form eines Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung) und für diese Verfahren die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt.

Der Antragsteller trägt vor, er sei lediglich einmal verurteilt worden und das Urteil sei zur Bewährung ausgesetzt gewesen. Es gebe mithin eine günstige Sozialprognose. Die Bewährung sei nur widerrufen worden, weil kein regelmäßiger Kontakt zum Bewährungshelfer bestanden habe. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung sei durch ihn mithin nicht gefährdet. Sein Vater sei zudem eingebürgert worden, er sei mithin Kind eines Deutschen. Wegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK genieße er besonderen Ausweisungsschutz. Alle Familienangehörigen lebten in Deutschland. Außerdem habe er 2005 Deutschland nicht freiwillig verlassen, dass könne ihm nicht zugerechnet werden. Weiterhin möchte er gerne in Deutschland eine Drogentherapie durchführen.

Hinsichtlich seines Prozesskostenhilfeantrages trägt er vor: Nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen könne er die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen. Die notwendigen Nachweise und die Erklärung zu seinen wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen werde er kurzfristig nachreichen.

Im Klageverfahren beantragt der Antragsteller, den Antragsgegner zu verpflichten, ihm unter Aufhebung der Verfügung vom 01.10.2012 die Aufenthaltserlaubnis zu verlängern.

Der Antragsteller beantragte im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zunächst,

den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber ihm bis zu einer unanfechtbaren Entscheidung über das Klageverfahren abzusehen.

Mit Schriftsatz vom 18.10.2012 bat der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers darum, diesen Antrag als Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO anzusehen.

Außerdem beantragt der Antragsteller

ihm für seine Klage und seinen Antrag Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Rechtsanwalts Hans Alfred Israel, Bremen, zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen und die Klage abzuweisen.

Er tritt Klage und Antrag entgegen.

Die Kammer hat die Sachen (A- und B-Verfahren) mit Beschluss vom 30.10.2012 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

II.

Die Entscheidung ergeht gemäß § 6 Abs. 1 VwGO durch den Einzelrichter.

Soweit es um die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis geht, ist der Antrag des Antragstellers als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage zu verstehen. In den Fällen der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis ist ein derartiger Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig, weil gemäß § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufEnthG die Ablehnung eines Antrages keine aufschiebende Wirkung entfaltet.

Soweit die Ausweisung im Raum steht, ist der Antrag des Antragstellers als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage zu verstehen. Auch insoweit ist der Antrag zulässig.

In der Sache ist der Antrag jedoch unbegründet.

Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelf (§ 80 Abs. 1 VwGO) ganz oder teilweise wiederherstellen bzw. in Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO die aufschiebende Wirkung anordnen. Dabei prüft das Gericht zum einen, ob im Fall des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO die Anordnung der sofortigen Vollziehung ordnungsgemäß nach § 80 Abs. 3 VwGO begründet wurde. Zum anderen trifft das Gericht eine eigene Interessenabwägung zwischen dem privaten Interesse des bzw. der Antragsteller, vorläufig von den Wirkungen des angefochtenen Verwaltungsaktes verschont zu bleiben (Aufschubinteresse) und dem besonderen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsaktes (Sofortvollzugsinteresse). Bei dieser Interessenabwägung sind wiederum zunächst die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs des bzw. der Antragsteller in der Hauptsache zu berücksichtigen, soweit diese bei summarischer Prüfung absehbar sind. Bestehen bereits bei summarischer Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes (vgl. § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO) und wird der Rechtsbehelf deshalb in der Hauptsache mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben, ist dem Antrag regelmäßig stattzugeben, denn ein überwiegendes öffentliches (oder anderes privates) Interesse am sofortigen Vollzug eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes kommt nicht in Betracht. Bestehen solche Zweifel nicht, erweist sich also der angegriffene Verwaltungsakt bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig und wird der Rechtsbehelf in der Hauptsache deshalb mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben, so ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in der Regel abzulehnen. So liegt es hier.

Die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ist rechtmäßig. Der Antragsteller ist ausgewiesen worden. Gem. § 11 Abs. 1 Satz 2 AufEnthG darf ihm deshalb - selbst wenn ansonsten die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel vorliegen würden - kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Unabhängig von dem vorläufigen Rechtsschutzgesuch und der Klage gegen die Ausweisung ist die Ausweisung hier zu beachten, §84 Abs. 2 AufEnthG. Im Übrigen ist der Lebensunterhalt des Antragstellers nicht gesichert. Er ist auf öffentliche Leistungen angewiesen. Schon allein deshalb durfte der Antragsgegner den Verlängerungsantrag ebenfalls ablehnen.

Auch hinsichtlich der Ausweisung hat der vorläufige Rechtsschutzantrag keinen Erfolg.

Die formellen Erfordernisse hat der Antragsgegner eingehalten. Die Anordnung des Sofortvollzuges wurde ordnungsgemäß begründet.

Die Ausweisungsentscheidung des Antragsgegners selbst ist ebenfalls nicht zu beanstanden, ermessengegerecht und verhältnismäßig. Rechtsgrundlage ist § 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AufEnthG. Von einem vereinzelten oder geringfügigen Verstoß kann angesichts der kriminellen Karriere des Antragstellers nicht mehr die Rede sein. Im Übrigen würde daneben auch ein Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufEnthG vorliegen.

Das Gericht nimmt insoweit zunächst auf die umfangreiche Begründung im Bescheid vom 01.10.2012 Bezug, die es sich zu Eigen macht.

Ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass das gesamte Verhalten des Antragstellers seit seiner Jugendzeit daneben auch die Prognose rechtfertigt, dass er auch in Zukunft weiterer Straftaten begehen wird. Die ursprüngliche Prognose des Jugendrichters wird vom Gericht angesichts der Auffälligkeiten des Antragstellers nicht geteilt. Antragsgegner und im vorläufigen Rechtsschutzverfahren auch das Gericht müssen in eigener Verantwortung eine Prognose treffen. Im Übrigen wurde zwischenzeitlich die Strafaussetzung zur Bewährung auch widerrufen.

Auf frühere Aufenthaltstitel bzw. Entscheidungen in einem Asylverfahren kann sich der Antragsteller nicht berufen. Mit seiner Ausreise 2005 sind alle diesbezüglichen Aufenthaltsrechte erloschen. Die Ausreise in die Türkei 2005 war auch „freiwillig“. Der damals noch minderjährige Antragsteller muss sich die Entscheidungen seiner gesetzlichen Vertreter zurechnen lassen.

Eine Verletzung von Grundrechten aus Art. 6 GG liegt nicht vor. Der Antragsteller ist volljährig. Wenn seine Familie oder einige Familienangehörige mit ihm zusammen leben wollen, steht es diesen frei, dies in der Türkei zu tun.

 Daneben wird auch nicht Art. 8 EMRK, der als einfaches Bundesrecht gilt, jedoch im Lichte der Rechtsprechung des EGMR auszulegen ist, verletzt. Auch wenn die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs uneinheitlich ist und eine fest umgrenzte Auslegung kaum zulässt, kann zwar festgestellt werden, dass die Verweigerung eines Aufenthaltsrechtes auch dann einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in das Privatleben darstellen kann, wenn der Ausländer über starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat verfügt, die sich unter dem Stichwort „faktischer Inländer“ zusammenfassen lassen. Die Situation muss dadurch gekennzeichnet sein, dass Deutschland das Land ist zu dem der Ausländer gehört, während ihn mit seinem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band seiner Staatsangehörigkeit verbindet. Eine derartige Verankerung kann möglicherweise auch bei einem Aufenthalt angenommen werden, der nicht überwiegend rechtmäßig war. Zwar wird bei einem überwiegend rechtmäßigen Aufenthalt im Aufenthaltsstaat die völlige Lösung vom Heimatstaat eher erfolgen als bei einem unrechtmäßigen oder nur geduldeten Aufenthalt, bei dem der Ausländer jederzeit mit seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat zu rechnen hat.

Der Antragsteller war seit Kindheit und als Jugendlicher immer wieder straffällig geworden. Er ist erst 2010 wieder aus der Türkei nach Deutschland eingereist und nach kurzer Zeit bereits erneut in erheblichem Umfang strafrechtlich in Erscheinung getreten. Von einer Integration kann von daher keine Rede sein.

Eine Drogentherapie kann der Antragsteller in der Türkei durchführen.

Der Umstand, dass der Antragsgegner bislang noch keine Befristungsentscheidung getroffen hat, spielt für die Frage, ob die aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage gegen eine Ausweisungsverfügung wiederherzustellen ist, keine Rolle. die Rechtmäßigkeit der Ausweisung wird hiervon nicht berührt. Insoweit bedarf es hier auch keiner Klärung, ob - gegen den Wortlaut des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufEnthG - dem Urteil des BVerwG vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 - zu folgen ist.

Ein besonderer Ausweisungsschutz nach ARB 1/80 ist nicht ersichtlich.

Im Übrigen folgt das Gericht ebenfalls der Begründung des angefochtenen Bescheides und sieht gemäß § 117 Abs. 5 VwGO von der weiteren Begründung ab.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.