Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 21.01.2008, Az.: L 6 AS 734/07 ER
Vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Form von Sozialgeld; Berücksichtigung des Einkommens eines Stiefvaters bei der Berechnung des Bedarfs; Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes; Leistungen an mit einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden unverheirateten Kindern
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 21.01.2008
- Aktenzeichen
- L 6 AS 734/07 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 11769
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2008:0121.L6AS734.07ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 15.10.2007 - AZ: S 19 AS 1417/07 ER
Rechtsgrundlagen
- § 28 SGB II
- § 9 Abs. 5 SGB II
- § 1 Abs. 2 Alg II-V
- § 9 Abs. 2 SGB II
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
- § 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 SGB II
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 15. Oktober 2007 wird aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum 26. September bis 31. Dezember 2007 monatlich 54,- EUR Sozialgeld unter dem Vorbehalt der Rückforderung bei Unterliegen im Hauptsacheverfahren zu zahlen.
Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin aus beiden Rechtszügen.
Der Antragstellerin wird unter Beiordnung von Rechtsanwältin Leben Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für den 2. Rechtszug gewährt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt ab Juli 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Form von Sozialgeld. Die am 9. Juni 1995 geborene und stark verhaltensauffällige (vgl. Bericht der Familienhelferin D. vom 8. Februar 2005) Antragstellerin zog im August 2004 nach einem Aufenthalt in einer Pflegefamilie zu ihrer Mutter und deren Lebensgefährten E. (R) in deren gemeinsame Wohnung. R. ist als Schachtmeister beschäftigt und seit Februar 2006 mit der Mutter der Antragstellerin verheiratet. Bis 31. Dezember 2004 gewährte die Stadt Celle Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz. Am 22. Dezember 2004 beantragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin Sozialgeld gemäß § 28 Sozialgesetzbuch II (SGB II). Ihre Mutter teilte mit Schreiben vom 25. Januar 2005 mit, dass weder sie noch der leibliche (alkoholabhängige) Vater in der Lage seien, für den Unterhalt der Antragstellerin aufzukommen. R. lebe nicht mit der Antragstellerin auf familiärer Grundlage. Für die Antragstellerin werde selbständig und getrennt gewirtschaftet. Da das Kindergeld zur Bestreitung des Lebensunterhaltes nicht ausreiche, habe man bereits eine Geldspende der Stadt Celle (für einen Tisch und einen Stuhl) in Anspruch nehmen müssen. R. gab mit Schreiben vom 27. Januar 2005 an, er leiste Unterhalt für seine eigenen Kinder. Für den Unterhalt der Antragstellerin seien deren Eltern zuständig. Er zahle keinen Unterhalt für ein neunjähriges Kind, das ihm durch Behörden in die Wohnung gebracht worden sei. Er habe zudem hohe finanzielle Verpflichtungen. Die Antragsgegnerin erkannte den Anspruch im Rahmen des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg (S 25 AS 27/05) an und gewährte in der Folgezeit Sozialgeld unter Anrechnung des Kindergeldes.
Den Antrag auf Fortzahlung ab Juli 2007 lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 2. Juli 2007 mit der Begründung ab, seit dem 1. August 2006 sei auch das Einkommen eines Stiefvaters bei der Berechnung des Bedarfs zu berücksichtigen (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 2007).
Dagegen hat die Antragstellerin am 1. August 2007 Klage vor dem SG Lüneburg (S 19 AS 1397/07=S 23 AS 1117/07) erhoben und dort am 26. September 2007 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Die Vermutung des hier anzuwendenden § 9 Abs. 5 SGB II sei im vorliegenden Fall aufgrund der Erklärungen des R. widerlegt. Eine Unterhaltsleistung sei angesichts der Einkommensverhältnisse des R. auch nicht zu erwarten. Ausgehend von einem Nettoeinkommen von 1.743,25 EUR (vgl. Bescheid vom 20. Januar 2005) ergebe sich unter Berücksichtigung der Freibeträge nach § 1 Abs. 2 Alg II-V kein anrechenbares Einkommen.
Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 15. Oktober 2007 abgelehnt. Im vorliegenden Fall komme nur § 9 Abs. 2 SGB II zur Anwendung. Zwar bestünden verfassungsrechtliche Bedenken, insbesondere angesichts des Umstands, dass nach dem Wortlaut des Gesetzes keine Möglichkeit bestehe, die in § 9 Abs. 2 SGB II inzidenter geregelte Unterstützungserwartung zu widerlegen. Diese Bedenken berechtigten das Gericht jedoch nicht, sich in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die gesetzliche Vorschrift hinwegzusetzen.
Gegen diesen Beschluss hat die Antragstellerin noch im selben Monat Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Antragsgegnerin ist im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes zu verpflichten, der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu erbringen.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (dh ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) und ein Anordnungsgrund (dh eine Eilbedürftigkeit) des Verfahrens gegeben sind.
1.
Vorliegend besteht eine Eilbedürftigkeit für die begehrte vorläufige Regelung. Denn der Antragstellerin steht monatlich nur das Kindergeld (154,- EUR) zur Verfügung, somit verfügt sie nicht über die notwendigen finanziellen Mittel zur Sicherung ihres Existenzmiminums (in Höhe des Sozialgeldes von 208,- EUR).
2.
Dagegen kann der Senat in diesem Eilverfahren nicht abschließend klären, ob die Antragstellerin in Höhe der Differenz zwischen Sozialgeld und Kindergeld (54,- EUR) einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes hat. Dies hängt davon ab, ob das Einkommen des R. zu berücksichtigen ist. Nach den glaubhaft gemachten Angaben der Antragstellerin muss der Senat für dieses Verfahren davon ausgehen, dass dies nicht der Fall ist.
a.
Nach § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II in der ab 1. August 2006 geltenden Fassung ist bei unverheirateten Kindern, die - wie die Antragstellerin - mit einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes nicht aus ihrem eigenen Einkommen oder Vermögen beschaffen können, auch das Einkommen des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners zu berücksichtigen. Ausgehend von dieser Anrechnungsvorschrift besteht kein Anspruch der Antragstellerin, weil das Einkommen des R. ausreicht, um dessen Bedarf sowie den Bedarf der Antragstellerin und deren Mutter zu decken: Dem Gesamtbedarf in Höhe von 1.377,85 EUR (Regelleistungen und Sozialgeld 832,- EUR; Kosten der Unterkunft 545,85, vgl. Berechnung Landkreis Celle vom 13. Juli 2007) steht Einkommen in Höhe von 1.592, 58 EUR (1.818,58 (Nettogehalt des R. im Mai 2005)./. 380,- EUR (Freibeträge nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 und § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II) sowie 154,- EUR Kindergeld) gegenüber, sodass sich ein Einkommensüberhang von 214,73 EUR ergibt. Für die Berücksichtigung der geltend gemachten Schulden gibt es keine gesetzliche Grundlage. Auch etwaige Unterhaltsschulden des R. gegenüber seinen beiden volljährigen Kindern können im vorliegenden Fall nicht vom Einkommen abgezogen werden, weil sie nicht tituliert sind ( § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB II).
b.
Im vorliegenden Fall ist aber glaubhaft gemacht, dass die gesetzgeberische Unterstützungserwartung nicht erfüllt wird. Ob dies tatsächlich so ist, wird im Hauptsacheverfahren zu klären sein. Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass R. sie tatsächlich nicht unterstützt. Ihre Angaben lassen sich auch mit objektiven Gesichtspunkten in Einklang bringen: Anders als im Regelfall ist R. nicht mit einer Partnerin und deren Kind zusammengezogen, sondern hat zunächst mit der Mutter der Antragstellerin allein zusammengewohnt, bevor die neunjährige und stark verhaltensauffällige Antragstellerin einzog. R. hat von Beginn an sowohl gegenüber der Antragsgegnerin (vgl. Schreiben vom 27. Januar 2005, 17. Juli 2005 und 2. September 2007) als auch gegenüber der Jugendhilfe (vgl. Bl. 146 der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin) deutlich darauf hingewiesen, dass er sich nicht für den Lebensunterhalt der Antragstellerin zuständig fühlt und auch tatsächlich nicht für deren Unterhalt sorgt. Auch wenn für ein Bestehen eines familiären Bandes spricht, dass R. inzwischen seit 3 Jahren mit der Antragstellerin zusammenwohnt und deren Mutter im Februar 2006 geheiratet hat, lässt sich angesichts der eingereichten Unterlagen zur derzeitigen finanziellen Lage des R. eine finanzielle Unterstützung der Antragstellerin seitens des - zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung im Rahmen von Maßnahmen der Zwangsvollstreckung geladenen - R. nicht ohne weiteres unterstellen. Auch die Antragsgegnerin geht offenbar davon aus, dass die Ernährung der Antragstellerin nicht sichergestellt ist. Denn sie hat ihr Bescheinigungen zur Vorlage bei der Celler Tafel ausgehändigt.
Auf die in Literatur und Rechtsprechung erörterte Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II n.F. (vgl. dazu SG Berlin, Beschluss vom 8. Januar 2007 - S 103 AS 10869/06 ER, info also 2007, 121 mit Anmerkung von Spindler; Wenner, SozSich 2006, 146) kommt es.in diesem Verfahren nicht an. Denn die Einkommensanrechnung kommt nach der glaubhaft gemachten Tatsachenlage vor dem Hintergrund der rechtlichen Regelung nicht in Betracht. Dies ergibt sich aus der Systematik des SGB II: Für alle Berücksichtigungstatbestände des § 9 Abs. 2 SGB II gilt die allgemeine Regel, dass nur Einkünfte zu berücksichtigen sind, die tatsächlich zufließen (Mecke in: Eicher/Spellbrink SGB II § 9 Rn 21; Brühl/Schoch in: LPK-SGB II 2. Aufl, § 9 Rn 16; Hänlein in: Gagel SGB II § 9 Rn 30; Fahlbusch in: Beck-online § 11 SGB II Rn 2 ff; vgl. auch § 2 Abs. 2 S 1 Alg II-V). Das Selbsthilfegebot des § 9 Abs. 1 SGB II führt im Tatbestandsmerkmal "aus dem zu berücksichtigenden Einkommen" die Anforderung mit, dass jeder der im Weiteren als berücksichtigungsfähig bezeichneten Einkommenteile zunächst Einkommen i.S.d. § 11 SGB II sein muss. Entsprechend können Leistungen nach dem SGB II nicht generell unter Hinweis auf bestehende Ansprüche oder unter Verweis auf die Fiktion einer Selbsthilfemöglichkeit abgelehnt werden. Ist mithin der Nachweis erbracht, dass das Stiefkind wegen der Weigerung des Stiefelternteils tatsächlich existenzsichernde Leistungen nicht erhält, fehlen diesem Kind bereite gegenwärtige Mittel zur Deckung seiner Bedarfe mit der Folge, dass es hilfebedürftig i.S.d. § 9 Abs. 1 SGB II ist (Fahlbusch in: Beck-online § 9 SGB II Rn 6b).
Hinsichtlich des Leistungszeitraums gilt folgendes: Es ist ständige Rechtsprechung in der Sozialgerichtsbarkeit, dass im einstweiligen Rechtsschutzverfahren keine Leistungen für vor dem Zeitpunkt dieser Antragstellung - hier 26. September 2007 - liegende Zeiträume gewährt werden, da davon auszugehen ist, dass erst mit dieser Antragstellung dokumentiert wird, dass existenzsichernde Leistungen erforderlich sind und der Lebensunterhalt nicht auf andere Weise bestritten werden kann. Zudem werden Leistungen nach dem SGB II grundsätzlich für sechs Monate bewilligt ( § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II), der Bewilligungsabschnitt ist von dem Zeitpunkt der Antragstellung bei der Antragsgegnerin (hier: ab Juli 2007) zu berechnen. Die Antragstellerin ist daher gehalten, einen erneuten Leistungsantrag zu stellen, in dem sich anschließenden Bewilligungsabschnitt sind dann ggf. eintretende Veränderungen ihrer Einkommenssituation (etwa Einkommen der Mutter der Antragstellerin, die sich seit 2004 aktiv um eine Arbeitsstelle bemüht, vgl. Schreiben vom 25. Januar 2005) zu berücksichtigen.
Der Antragstellerin wird PKH gewährt, weil der Antrag nach den vorstehenden Ausführungen Aussicht auf Erfolg hatte (§ 73 a i.V.m. § 114 ZPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).