Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 28.01.2008, Az.: L 11 AL 165/07 ER

Rechtmäßigkeit der Rückforderung von zu Unrecht gezahlter Arbeitslosenhilfe wegen Nichtmitteilung der Änderung persönlicher Lebensverhältnisse durch den Berechtigten; Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches; Bestehen eines Anspruches auf Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes betreffend die Rückforderung von behaupteter zuviel gezahlter Arbeitslosenhilfe wegen eines Behördenfehlers

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
28.01.2008
Aktenzeichen
L 11 AL 165/07 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 12114
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2008:0128.L11AL165.07ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 11.12.2007 - AZ: S 9 AL 302/07 ER

Tenor:

Der Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 11. Dezember 2007 wird aufgehoben.

Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, bis zur Entscheidung über den Antrag gem. § 44 SGB X über den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16. Juni 2004, Zwangsvollstreckungsmaßnahmen aus diesem Bescheid durchzuführen.

Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

Gründe

1

I.

Der Kläger wendet sich im Rahmen eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens gegen Maßnahmen der Zwangsvollstreckung, die die Antragsgegnerin aufgrund des bestandskräftigen Aufhebungs- und Erstattungsbescheides gegen den Antragsteller eingeleitet hat.

2

Der Antragsteller stand im fortlaufenden Bezug von Arbeitslosenhilfe (Alhi). Nach Anhörung und mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16. Juni 2004 hob die Antragsgegnerin die Entscheidung über die Bewilligung von Alhi im Zeitraum vom 11. September 2003 bis 30. April 2004 teilweise auf. Sie forderte die zu Unrecht gezahlten Leistungen zurück. Demnach war ein Betrag in Höhe von 1.322,83 EUR überzahlt worden. Zur Überzahlung sei es gekommen, weil der Kläger Änderungen in den persönlichen Verhältnissen nicht mitgeteilt habe. Dieser Verpflichtung sei er zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch SGB X ). Aus dem Aktenvermerk vom 10. August 2004 ergibt sich, dass der Kläger seine Heirat vom 9. August 2003 im Leistungsantrag vom 2. September 2003 der Beklagten mitgeteilt habe. Auch nach Aufforderung habe er die geänderte Lohnsteuerkarte 2003 vorgelegt. Dennoch seien versehentlich Leistungen nach der Leistungs-Gruppe "A" anstelle derer der Leistungsgruppe "D" weiterbewilligt worden. Da der Kläger den Fehler hätte erkennen können, sei die teilweise Aufhebung zu Recht erfolgt. Ein Verschulden könne dem Kläger jedoch nicht vorgeworfen werden. Mit Schreiben vom 10. August 2004 wurde dem Kläger die Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten mitgeteilt. Zugleich wurde ihm mitgeteilt, dass er die Heirat am 9. August 2003 im Antragsformular vom 2. September 2003 ordnungsgemäß eingetragen und auch die geänderte Lohnsteuerkarte vorgelegt habe. Die eingetretene Überzahlung habe er nicht verschuldet. Die Antragsgegnerin bat das Versehen zu entschuldigen. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16. Juni 2004 bliebe hiervon jedoch unberührt.

3

Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16. Juni 2004 ist bestandskräftig geworden. Die bestandskräftige Forderung wurde mittels Aufrechnung (wöchentlich 14,84 EUR) beglichen. Nach Beendigung der Aufrechnung erfolgte eine ratenweise Begleichung des verbliebenen Betrages (Ratenzahlung in Höhe von 10,00 EUR monatlich). Ab Januar 2007 erfolgten die monatlichen Zahlungen sporadisch, bzw. ab Mai 2007 nicht mehr. Die Restschuld wurde auf 682,02 EUR zuzüglich Vollstreckungskosten festgestellt, so dass das Hauptzollamt das Vollstreckungsverfahren gegen den Antragsteller einleitete (Zahlungsaufforderung vom 27. November 2007).

4

Am 5. Dezember 2007 hat der Kläger den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht (SG) Braunschweig beantragt. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass er die Rückzahlung eingestellt habe, weil er Kenntnis erlangt habe, dass eine Überzahlung, die durch einen Behördenfehler verursacht worden sei, nicht zurück zu erstatten sei. Der Antragsteller hat vorgetragen, dass die Rückforderung unrechtmäßig sei. Der Kläger hat die Zahlungsaufforderung vom 27. November 2007 des Hauptzollamtes B. vorgelegt. Das SG Braunschweig hat den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 11. Dezember 2007 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Kläger einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht habe. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16. Juni 2004 sei bindend geworden. Soweit der Antragsteller die Auffassung vertrete, dass dieser Bescheid rechtswidrig sei, müsse er einen Überprüfungsantrag bei der Antragsgegnerin stellen. Er könne nicht ohne weiteres die vereinbarten Ratenzahlungen einstellen. Es fehle auch an einem Anordnungsgrund. Der Antragsteller habe nicht dargelegt, dass er nicht in der Lage sei, die Raten zu zahlen; es sei ihm zuzumuten, ggf. eine Stundungsabrede mit der Antragsgegnerin zu treffen.

5

Der Kläger hat am 18. Dezember 2007 Beschwerde eingelegt. Er beruft sich auf den Vortrag aus dem erstinstanzlichen Verfahren. Ferner verweist er auf das Urteil des SG Koblenz zum Az: S 11 AS 635/06. Er ist nach wie vor der Ansicht, dass Rückforderungen aufgrund eines Behördenfehlers nicht zurückzuzahlen seien. Die Antragsgegnerin hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

6

II.

Die gemäß §§ 172 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Der Kläger hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund auf vorläufige Einstellung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen aus dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16. Juni 2004 hinreichend glaubhaft gemacht.

7

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 des SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer solchen Regelungsanordnung ist das Vorliegen eines die Eilbedürftigkeit der Entscheidung rechtfertigenden Anordnungsgrundes sowie das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs aus dem materiellen Recht. Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund müssen gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht werden. Ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht, wenn das Gericht aufgrund einer vorläufigen, summarischen Prüfung zu der Überzeugung gelangt, dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass dem Antragsteller ein Rechtsanspruch zusteht und er diesen voraussichtlich auch in einem Hauptsacheverfahren erfolgreich durchsetzen kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

8

Der Statthaftigkeit des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens steht vorliegend nicht entgegen, dass die Antragsgegnerin die Zwangsvollstreckung durch das Hauptzollamt durchführen lässt, denn die Antragsgegnerin bleibt auch dann als die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, verantwortliche Vollstreckungsbehörde (§ 249 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 3 der Abgabenordnung - AO -). Ob und inwieweit auch Vollstreckungsschutz durch die Finanzbehörden (§ 249 AO) zu erreichen wäre, kann dahinstehen. Denn vorläufiger Rechtsschutz kann daneben auch durch die Sozialgerichte in Anspruch genommen werden, wenn aus Gründen des materiellen Rechts der Vollstreckungstitel beseitigt werden soll (vgl. LSG Berlin, Beschluss vom 22. März 1996, Az: L 9 Kr SE 23/96).

9

Es entspricht ständiger Rechtsprechung der Finanzgerichte, dass Rechtsgrundlage für einen Anordnungsanspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Einstellung der Zwangsvollstreckung § 257 Abs. 1 Nr. 2 AO analog sein kann, wenn der Antragsteller geltend macht, der zu vollstreckende Verwaltungsakt sei nichtig bzw. aufzuheben, die Behörde aber schon mit der Vollstreckung begonnen hat. Dieser Einwand kann auch im Vollstreckungsverfahren geltend gemacht werden. Entgegen der Ansicht des SG steht der Umstand, dass Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Verwaltungsakt außerhalb des Vollstreckungsverfahrens mit dem hierfür zugelassenen Rechtsbehelf zu verfolgen sind (§ 256 AO) dem Einwand im Sinne von § 257 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht entgegen (vgl. BFH, Beschluss vom 26. Februar 1992, Az: I b 113/91, BFH/NV 1993, 349; FG Baden-Württemberg 9. Senat, Beschluss vom 19. März 1993, Az: 9 V 4/93, IFG 1993, 703).

10

Gemäß § 257 Abs. 1 Nr. 2 AO ist die Vollstreckung einzustellen oder zu beschränken, sobald der Verwaltungsakt, aus dem vollstreckt wird, aufgehoben wird. Diese Voraussetzungen hat der Antragsteller hinreichend glaubhaft gemacht. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16. Juni 2004 ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit rechtswidrig. Die von der Antragsgegnerin im Bescheid genannte Rechtsgrundlage § 48 Abs. 1 Nr. 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch trägt bereits deshalb nicht, weil der Kläger sowohl seine Heirat am 9. August 2003 ordnungsgemäß im Antragsformular vom 2. September 2003 mitgeteilt hat als auch die geänderte Lohnsteuerkarte aufforderungsgemäß eingereicht hat. Dies ergibt sich aus dem Aktenmaterial der Antragsgegnerin, insb. auch aus dem Aktenvermerk vom 10. August 2004. Im Übrigen räumte die Antragsgegnerin im Schreiben vom selben Tag ein, dass der Antragsteller die eingetretene Überzahlung nicht verschuldet habe und sich für das Behördenversehen ausdrücklich entschuldigt. Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass auch Rücknahmetatbestände im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn 2 bzw. 3 SGB X nicht in Betracht kommen, wenngleich sich die Antragsgegnerin hierauf bislang nicht berufen hat. Angesichts der zurückgeforderten Summe und des überzahlten Zeitraumes bestehen erhebliche Zweifel daran, ob die Unkenntnis des Klägers von der Überzahlung auf grober Fahrlässigkeit beruht. Dies wird allerdings im Überprüfungsverfahren noch festzustellen sein.

11

Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, hat die Behörde den Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Hierbei handelt es sich um die Rechtsgrundlage für eine Aufhebungsentscheidung i.S.v. § 257 Abs. 1 Nr. 2 AO. Bei Vorliegen der Voraussetzungen von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X muss die Behörde von sich aus tätig werden, d.h. es besteht ein Anspruch auf Rücknahme (vgl. Wiesner in von Wulffen SGB X § 44 Rdnr 13 m.w.N.). Spätestens seit Übersendung des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 5. Dezember 2007 an die Antragsgegnerin ist diese darüber unterrichtet, dass der Antragsteller die Unrechtmäßigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides geltend macht.

12

Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin hat durch das Hauptzollamt Maßnahmen der Zwangsvollstreckung in das Vermögen des Antragstellers eingeleitet (vgl. Zahlungsaufforderung vom 27. November 2007). Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt nicht vor, da die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nur vorläufig untersagt worden sind.

13

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 SGG.

14

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).