Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 19.12.2013, Az.: 2 B 920/13

andere Ausbildung; Ausbildung; ausländischer Ehegatte; unabweisbarer Grund; Spätaussiedler; Studium; Abbruch des Studiums; Vergleichbarkeit; Wahlfreiheit; Weiterförderung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
19.12.2013
Aktenzeichen
2 B 920/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 64485
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Einen unabweisbaren Grund für den Abbruch eines Hochschulstudiums im Herkunftsstaat durch den ausländischen Ehegatten eines Spätaussiedlers stellt die anschließende Aufnahme der Eheleute in der Bundesrepublik Deutschland dar.

2. Die Wahlfreiheit des betroffenen Ausländers in Bezug auf die Aufnahme einer anderen Ausbildung i.S.d. § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG kann nicht dergestalt eingeschränkt werden, dass die andere Ausbildung zumindest in Teilen mit der Erstausbildung vergleichbar sein muss (vgl. dazu Tz. 7.3.19 BAföGÄndVwV 2013).

Tenor:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 1. November 2013 vorläufig Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis u.a. dann treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden nötig erscheint. Dazu ist gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft zu machen, dass der Antragsteller zur Abwendung dieser Nachteile auf sofortige gerichtliche Hilfe angewiesen ist (sog. Anordnungsgrund) und dass ein Anspruch auf diese Regelung besteht (sog. Anordnungsanspruch).

Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, denn sie erhält von der Stadt D. - Jobcenter - seit November 2013 keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mehr. Ihren Lebensunterhalt sichert sie derzeit eigenen Angaben zufolge aus den geringfügigen Einkünften (Minijob), einer Gehaltsüberzahlung und gewährten Familiendarlehen ihres Ehemannes; hinzu kommt das Kindergeld für den gemeinsamen Sohn E..

Sie hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Denn es spricht ganz Überwiegendes dafür, dass der Antragsgegner ihr zu Unrecht den Förderungsausschluss nach § 7 Abs. 3 BAföG entgegenhält.

Die Antragstellerin gehört als russische Staatsangehörige, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG besitzt, zum leistungsberechtigten Personenkreis des Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Dies hat der Antragsgegner zutreffend in Anwendung von § 8 Abs. 2 Nr. 1 BAföG geprüft und bejaht. Ferner gehört die 3-jährige schulische Ausbildung der Antragstellerin zur Medizinisch - Technischen Assistenz (MTA) an der MTA-Schule Labor der Universitätsmedizin D. zu den förderungsfähigen Ausbildungen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BAföG.

Entgegen der Annahme des Antragsgegners ist die Förderung dieses Studiums nicht nach § 7 Abs. 3 BAföG ausgeschlossen, weil die Antragstellerin von September 2002 bis Juni 2008 an der Staatlichen Medizinischen Akademie F. (Russland) bereits Medizin studiert, allerdings das Medizinstudium dort nicht abgeschlossen, sondern im Juni 2008 abgebrochen hat, und die Bezirksregierung Düsseldorf dieses Studium mit Bescheid vom 10. September 2010 mit 3 Jahren (6 Semestern, davon 4 vorklinische und 2 klinische Semester) auf das Medizinstudium im Geltungsbereich der ÄAppO 2002 angerechnet hat. Die Antragstellerin hat zu den Gründen des Abbruchs ausgeführt, aufgrund der am 28. März 2008 erfolgten Heirat mit ihrem Ehemann, der damals schon als Spätaussiedler in der Bundesrepublik aufnahmeberechtigt war, habe sie ab Mitte 2008 durch Absolvierung eines Deutsch-Kurses am G. -Institut e.V. in H. die Voraussetzungen für ihre Einbeziehung in den Aufnahmebescheid des Ehemannes schaffen müssen; im Anschluss daran sei im Juni 2009 ihre Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland erfolgt.

Gemäß § 7 Abs. 3 BAföG wird dem Auszubildenden Ausbildungsförderung für eine andere Ausbildung geleistet, wenn er aus wichtigem (§ 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BAföG) oder unabweisbarem (§ 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG) Grund die Ausbildung abgebrochen oder die Fachrichtung gewechselt hat; bei Auszubildenden an Höheren Fachschulen, Akademien und Hochschulen gilt § 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BAföG nur bis zum Beginn des vierten Fachsemesters. Ein Auszubildender bricht nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BAföG die Ausbildung ab, wenn er den Besuch von Ausbildungsstätten einer Ausbildungsstättenart einschließlich der im Zusammenhang hiermit geforderten Praktika endgültig aufgibt.

Dementsprechend ist vorliegend davon auszugehen, dass die Antragstellerin - erstens - ihre Hochschulausbildung in Russland endgültig abgebrochen hat und - zweitens - dieser Abbruch zur Rechtfertigung eines Anspruchs auf Ausbildungsförderung für die am 14. Oktober 2013 begonnene Ausbildung zur MTA eines unabweisbaren Grundes bedarf, denn die Antragstellerin hat in Russland offenbar 12 Semester Medizin studiert, von denen ihr nach deutschen Maßstäben 6 Semester angerechnet würden.

Ein unabweisbarer Grund liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vor, wenn ein Umstand gegeben ist, der eine Wahl zwischen der Fortsetzung der bisherigen Ausbildung und ihrem Abbruch oder dem Überwechseln in eine andere Fachrichtung nicht zulässt. (vgl. Urteil vom 19. Februar 2004 - 5 C 6/03 -, BVerwGE 120, 149, zit. nach juris Rn. 9).

Für den vorliegend zu beurteilenden Ausbildungsabbruch des ausländischen Ehegatten eines deutschen Staatsangehörigen, der - insoweit anders, als die Antragstellerin - vor der Eheschließung einen berufsqualifizieren Abschluss im Herkunftsstaat erworben hat, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 10. April 2008 (5 C 12/07 - , NVwZ 2008, S. 1.131 ff., zit. nach juris Rn. 17) zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes „unabweisbarer Grund“ in § 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG wörtlich ausgeführt:

§ 7 Abs. 3 BAföG macht den Anspruch auf Förderung einer "anderen Ausbildung" davon abhängig, dass der Auszubildende die (bisherige) Ausbildung aus wichtigem oder unabweisbarem Grund abgebrochen hat, und beschränkt für Hochschulausbildungen die Förderungsvoraussetzung des wichtigen Grundes auf die Zeit bis zum Beginn des vierten Fachsemesters. Allerdings findet gemäß Absatz 4 für Auszubildende, die die abgebrochene Ausbildung vor dem 1. August 1996 begonnen haben, Absatz 3 Satz 1 in der am 31. Juli 1996 geltenden Fassung Anwendung, welche einen wichtigen Grund für den Ausbildungsabbruch ohne zeitliche Beschränkung auf die ersten drei Fachsemester zuließ. Die Frage, ob die Klägerin danach auf einen "wichtigen" oder einen "unabweisbaren" Grund angewiesen ist, braucht hier nicht vertieft zu werden, denn aus dem von Art. 6 Abs. 1 GG umschlossenen Recht der Eheleute auf freie Wahl des Familienwohnsitzes im Bundesgebiet ergibt sich, dass mit der Eheschließung der Klägerin und der Entscheidung für die Führung der Ehe in Deutschland ein legitimierender unabweisbarer Grund dafür vorlag, auf die durch die Philologieausbildung eröffneten beruflichen Perspektiven in Russland zu verzichten. Insoweit kann auf die vom Verwaltungsgericht genannte, zum Begriff des wichtigen Grundes in § 7 Abs. 3 BAföG F. 1993 ergangene Entscheidung des Senats vom 23. September 1999 - BVerwG 5 C 19.98 - (Buchholz 436.36 § 7 BAföG Nr. 119) Bezug genommen werden, wonach die Bedeutung des von Art. 6 Abs. 1 GG normierten Schutzes von Ehe und Familie, welche auch die freie Wahl des Familienwohnsitzes umfasst, es ausschließt, daran förderungsrechtliche Sanktionen zu knüpfen. Mit ihrer grundrechtlich geschützten und förderungsrechtlich hinzunehmenden Entscheidung, die Ehe im Bundesgebiet zu führen, bestand für die Klägerin eine Situation, die die Wahl zwischen der Fortsetzung der bisherigen Ausbildung (bzw. ihrer Ausnutzung durch eine Berufstätigkeit in Russland) und ihrem Abbruch oder dem Überwechseln in eine andere Ausbildung nicht zuließ (zum Begriff des unabweisbaren Grundes i.S.d. § 7 Abs. 3 BAföG s.a. Urteil vom 19. Februar 2004 - BVerwG 5 C 6.03 - BVerwGE 120, 149).“

Dieser Rechtsprechung schließt sich die beschließende Kammer an. Vom Vorliegen eines unabweisbaren Grundes ist nach diesen Maßstäben auch im Falle der Antragstellerin auszugehen, denn ihre Entscheidung, das in Russland begonnene Medizinstudium im Juni 2008 abzubrechen und sich auf die Übersiedung nach Deutschland (sprachlich) vorzubereiten, hat der Antragsgegner förderungsunschädlich hinzunehmen. Selbst ein weiteres Verbleiben der Antragstellerin im Herkunftsstaat zum Zwecke der Beendigung ihres Medizinstudiums hätte nach der vorstehend zitierten Rechtsprechung des BVerwG hier zu keinem anderen Ergebnis geführt; § 7 Abs. 1 Satz 2 BAföG wäre dann auf sie nicht anwendbar gewesen (BVerwG, a.a.O., Leitsätze 1 und 2; vgl. zu ähnlich gelagerten Fällen auch VG Augsburg, Urteil vom 27. November 2012 - Au 3 K 11.1865 -, zit. nach juris Rn. 24; VG Schwerin, Urteil vom 31. August 2011 - 6 A 915/08 -, zit. nach juris Rn. 23).

Soweit der Antragsgegner zur Rechtfertigung seiner Versagung von Ausbildungsförderung die Teilziffer 7.3.19 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift vom 29. Oktober 2013 zur Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföGÄndVwV 2013), veröffentlicht in GMBl. 2013, S. 1093, anführt, wonach ein unabweisbarer Grund nur dann anzunehmen ist, wenn die Ausbildung des Ausländers in Deutschland nicht in einer der bisherigen Ausbildung ggf. auch nur in Teilen vergleichbaren Ausbildung fortgesetzt werden kann, verkennt er wohl schon den Anwendungsbereich dieser Teilziffer. Sie gilt nach der dortigen Einleitung nur „für die Förderung der in Tz. 7.1.15 genannten Personen“. In Teilziffer 7.1.15 geht es um „Personen, deren ausländischer berufsqualifizierender Abschluss im Inland nicht anerkannt oder vom Amt für Ausbildungsförderung nicht für materiell gleichwertig erklärt werden kann und für die ein Verweis auf eine Berufsausübung im Ausland unzumutbar ist“, vgl. Abs. 1 Satz 1 der Teilziffer. Weiter heißt es in Absatz 2 Satz 1 dieser Teilziffer:

„Eine Förderung im Rahmen des Absatzes 1 i.V.m. Absatz 3 (vgl. Tz 7.3.19) ist für diese Personen grundsätzlich möglich, wenn …“ Die Antragstellerin unterfällt damit nicht dem in den Teilziffern 7.1.15 und 7.3.19 genannten Personenkreis; sie verfügt nämlich zum einen über keinen ausländischen berufsqualifizierenden Abschluss und zum anderen wurde ihr Medizinstudium in Deutschland zumindest teilweise anerkannt.

Den Anwendungsbereich der Teilziffer 7.3.19 im Falle der Antragstellerin unterstellt, wäre zudem die vom Antragsgegner vertretene Reichweite dieser Regelung der BAföGÄndVwV 2013 mit dem Gesetzeswortlaut des § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG nicht mehr zu vereinbaren. Das Gesetz verlangt dort für das Bestehen eines Anspruchs auf Ausbildungsförderung nur das Vorliegen eines wichtigen bzw. unabweisbaren Grundes für den Ausbildungsabbruch bzw. Fachrichtungswechsel. Liegt ein solcher Grund vor, wird Ausbildungsförderung für eine andere Ausbildung bindend geleistet. Zwar ist unter einer „anderen“ Ausbildung i.S.d. § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG grundsätzlich eine andersartige als die erste Ausbildung bzw. Erstausbildung i.S.d. § 7 Abs. 1 BAföG zu verstehen. Das schließt nach der Rechtsprechung indes nicht aus, dass eine Ausbildung auch dann eine „andere“ sein kann, wenn sie im gleichen Studiengang betrieben wird wie die erste förderungsfähige Ausbildung (VG Freiburg, Urteil vom 26. April 2001 - 7 K 1032/00 -, NVwZ-RR 2002, S. 122 (122 f.) m.w.N.; ebenso für die Rückkehr zur selben Ausbildung nach Abbruch: Rothe/Blanke, Kommentar zum BAföG, Loseblatt, Stand: 5. Aufl., 25. Lfg. Mai 2005, § 7 Rn. 38.1). Demzufolge ist die Wahlfreiheit des Auszubildenden in Bezug auf die neue bzw. „andere“ Ausbildung im Rahmen der „Weiterförderung“ gem. § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG grundsätzlich nicht eingeschränkt; Anforderungen an diese „andere“ bzw. andersartige Ausbildung, etwa Einschränkungen dergestalt, dass diese „in Teilen vergleichbar“ sein muss, wie Tz. 7.3.19 BAföGÄndVwV 2013 nahe legen mag, lassen sich jedenfalls mit dem Gesetzeswortlaut und dem Sinn und Zweck dieser Regelung nicht vereinbaren. Dem Umstand, dass die Antragstellerin in der Russischen Föderation bereits ein Hochschulstudium begonnen und ihr hiervon in Deutschland 6 Semester anerkannt wurden, kann nur im Rahmen der Anrechnung dieser Semester auf die Förderungshöchstdauer gem. § 17 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG Rechnung getragen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. April 2008, a.a.O., Rn. 18); auf das Vorliegen eines unabweisbaren Grundes i.S.d. § 7 Abs. 3 Satz 1 BAföG hat dieser Umstand indes keinen Einfluss. An diesem Befund ändert auch der Umstand nichts, dass die Antragstellerin im Rahmen ihrer förderungsfähigen Ausbildung zur MTA eine Berufsfachschule besucht, mit der Folge, dass deshalb die Anrechnungsvorschrift des § 17 Abs. 3 Satz 1 BAföG von vorn herein nicht zum Tragen kommt.

Da bisher eine konkrete Berechnung der der Antragstellerin zustehenden Förderleistungen nicht vorgenommen wurde, ist der Antragsgegner - wie tenoriert - zur Leistung in gesetzlicher Höhe zu verpflichten. Weil das Verfahren auf Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes im Recht der Ausbildungsförderung wie im Recht der Sozialhilfe der Beseitigung einer gegenwärtigen wirtschaftlichen Notlage dient, kann die Antragsgegnerin zur vorläufigen Leistungserbringung in diesem Verfahren nur ab dem ersten des Monats verpflichtet werden (vgl. § 15 Abs. 1 BAföG), in dem der gerichtliche Antrag gestellt worden ist. Eine rückwirkende Leistungserbringung ist ausgeschlossen, weil sich die Antragstellerin in dieser Zeit finanziell selbst geholfen hat (vgl. Beschluss der Kammer vom 21. Februar 2007 - 2 B 15/07 -, zit. nach juris Rn. 28).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.