Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 12.12.2013, Az.: 2 B 856/13

Abschiebungsandrohung; Dublin-Verfahren; Interessenabwägung; Minderjähriger; Polen; Reisefähigkeit; eingeschränkte Reisefähigkeit; inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
12.12.2013
Aktenzeichen
2 B 856/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 64421
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Berechtigte Zweifel an der Reisefähigkeit eines Asylbewerbers rechtfertigen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes. Solche Zweifel können sich aus einer amtsärztlich festgestellten bedingten Reisefähigkeit minderjähriger Asylbewerber ergeben.

2. Zur Wahrung der Familieneinheit ist die aufschiebende Wirkung der Klage auch zugunsten der Eltern der eingeschränkt reisefähigen minderjährigen Asylbewerber anzuordnen.

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen 2 A 855/13 bei der erkennenden Kammer seit dem 8. Oktober 2013 anhängigen Klage der Antragsteller gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 26. September 2013 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1 Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I Nr. 54 vom 5. September 2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses Gesetzes am Tag nach der Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in Kraft getreten ist, ordnet das Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Absatz 2 der geänderten Fassung des § 34a AsylVfG sind Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig.

Das Bundesamt hat vorliegend mit Bescheid vom 26. September 2013, der dem Prozessbevollmächtigten der Antragsteller eigenen Angaben zufolge am 2. Oktober 2013 zugestellt wurde, entschieden, dass die von den Antragstellern in Deutschland am 8. April 2013 gestellten (weiteren) Asylanträge unzulässig sind (Ziffer 1.); zugleich hat das Bundesamt die Abschiebung der Antragsteller nach Polen angeordnet (Ziffer 2.). Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrer in der Hauptsache - 2 A 855/13 - anhängigen Klage, die am 8. Oktober 2013 beim erkennenden Gericht eingegangen ist. Zeitgleich - damit fristgerecht - haben sie um Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage nachgesucht. Die Klage ist somit innerhalb der 2-wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylVfG erhoben worden; ob eine Verkürzung der Klagefrist auf eine Woche gem. § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG mit Wirkung vom 6. September 2013 erfolgt ist, kann die erkennende Kammer im vorliegenden Verfahren offen lassen. Das Bundesamt gibt seinen Außenstellen für die Rechtsbehelfsbelehrung ersichtlich eine zweiwöchige Klagefrist vor (vgl. Rundschreiben des Bundesamtes an alle Innenministerien der Bundesländer vom 17. Juli 2013 - 430-93604-01/13-05 - zur Änderung der Verfahrenspraxis des Bundesamtes im Rahmen des Dublinverfahrens im Hinblick auf § 34a AsylVfG n.F.); die Rechtsbehelfsbelehrung des angefochtenen Bescheides verhält sich dementsprechend. Wäre dagegen eine einwöchige Klagefrist zugrunde zu legen, was nach dem Wortlaut des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG jedenfalls nicht von vorn herein auszuschließen ist, wäre diese vorliegend auch gewahrt worden.

Der Bescheid gilt trotz Zustellung an den Prozessbevollmächtigten der Antragsteller unter Verletzung der zwingenden Vorgaben in § 31 Abs. 1 Sätze 4 und 6 AsylVfG hier gegenüber den Antragstellern als am 2. Oktober 2013 bekanntgegeben und wirksam; er ist damit tauglicher Gegenstand eines Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO. Zur weiteren Begründung dieser Feststellung verweist die Kammer auf ihren dem Prozessbevollmächtigten der Antragsteller und der Antragsgegnerin bekannten Beschluss vom 9. Dezember 2013 - 2 B 869/13 - (veröffentlicht in juris). Wie in dem dort von der Kammer entschiedenen Fall ist auch vorliegend davon auszugehen, dass der Prozessbevollmächtigte den Antragstellern im Rahmen des Mandantengesprächs vom 2. Oktober 2013, das u.a. in die vorgelegte Prozessvollmacht vom selben Tage mündete, den Originalbescheid vorgelegt und erläutert hat, sodass die Antragsteller die Möglichkeit hatten, von seinem Inhalt Kenntnis zu nehmen. Der Zustellungsmangel gilt somit gem. § 8 VwZG als geheilt.

Das erkennende Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Das VG Trier hat hierzu in seinem Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, zit. nach juris, eingehend dargelegt, dass eine derartige Einschränkung der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis in Anlehnung an § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gerade nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach; eine entsprechende Initiative zur Ergänzung des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine Mehrheit (a.a.O., Rn. 7 ff.). Dementsprechend ist vorliegend eine reine Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragsteller vorzunehmen, die sich maßgeblich - aber nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientiert, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen. Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten der Antragsteller aus, denn die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet rechtlichen Bedenken, weil bei dieser Entscheidung die nur eingeschränkte Reisefähigkeit der minderjährigen Antragsteller zu 3.) bis 5.) nicht zureichend in den Blick genommen wurde.

Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:

„Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§ 26a   AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das Bundesamt vor Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG auch zu prüfen, ob Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder Duldungsgründe vorliegen. Anders als bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG im Zusammenhang mit dem Erlass einer Abschiebungsandrohung (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383, und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf die Prüfung von sogenannten "zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG bestimmt ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet „sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“. Die Abschiebungsanordnung darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach § 26a oder § 27a AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls sowohl "zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der Abschiebung entgegenstehende "inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse" zu berücksichtigen hat. Es ist in diesem Zusammenhang unter anderem verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden und damit vom System der normativen Vergewisserung nicht erfassten Gründen - wenn auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-, Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011, 310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG MV, Beschl. v. 29. November 2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15; Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnrn. 15 f., 43 ff., Loseblatt, Stand August 2006; jew. m.w.N.).“

Dieser Rechtsprechung hat sich die erkennende Kammer angeschlossen (vgl. Beschlüsse vom 6. November 2013 - 2 B 848/13 -, zit. nach juris Rn. 6; und vom 7. November 2013 - 2 B 783/13 -, zit. nach juris Rn. 8).

Der von der zuständigen Ausländerbehörde - Landkreis J. - mit einer Untersuchung der Antragsteller zu 3.) bis 5.) beauftragte Amtsarzt hat nach den vorgelegten Bescheinigungen vom 2. Und 6. Dezember 2013 festgestellt, dass der 5-jährige Antragsteller zu 5.) nur unter der Bedingung reisefähig ist, dass die erforderliche Hilfsmittelversorgung (Reha-Karre, dynamische Fußorthesen) zuvor umgesetzt wurde und die eingeleitete medikamentöse Behandlung einschließlich der kinderärztlichen Betreuung im zuständigen Mitgliedsstaat (Polen) fortgesetzt wird. Mit der Anfertigung der erforderlichen Hilfsmittel soll nach einem Vermerk der Ausländerbehörde bis spätestens 20. Januar 2014 zu rechnen sein. Die 9- bzw. 14-jährigen Antragsteller zu 3.) und 4.) sind nur mit der amtsärztlichen Maßgabe reisefähig, dass die dringend erforderliche Psychotherapie im zuständigen Mitgliedsstaat fortgesetzt wird. Die Ausländerbehörde hat mit Schreiben vom 9. Dezember 2013 das Bundesamt um Abklärung gebeten, ob diesen amtsärztlichen Maßgaben von den übernehmenden polnischen Stellen entsprochen wird; die Antwort des Bundesamtes steht bislang aus. Diese ist vorliegend einzelfallbezogen insbesondere deshalb notwendig, weil das das Office for Foreigners of the Republic Poland, Department for Refugee Procedures, gegenüber dem Bundesamt mit Schreiben vom 25. September 2013 seine Zuständigkeit für die Antragsteller gem. Art. 16 Abs. 1 d) der Dublin-II-Verordnung erklärt hat, es demzufolge davon ausgeht, dass die Antragsteller ihren in Polen gestellten (ersten) Asylantrag zurückgenommen haben bzw. insoweit eine Rücknahmefiktion zu deren Lasten greift. Das Bundesamt kann sich diesbezüglich nicht auf allgemeine Auskünfte seiner Liaisonbeamtin in Warschau zur medizinischen Versorgung von Asylbewerbern beschränken und darauf verweisen, die polnischen Stellen würden ggf. eigene medizinischen Feststellungen zum weiteren Behandlungsbedarf der Antragsteller treffen, sodass eine dahingehende Zusage nicht erlangt werden könne.

Da derzeit nicht sicher abschätzbar ist, innerhalb welchen Zeitraumes die vorstehend beschriebenen Schritte vom Bundesamt bzw. dem mit der Hilfsmittelversorgung beauftragten Sanitätshaus umgesetzt sein werden, sieht die Kammer von einer befristeten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ab.

Da die Antragsteller zu 1.) und 2.) die Eltern der minderjährigen Antragsteller zu 3.) bis 5.) sind, nehmen auch diese Antragsteller unter Berücksichtigung des Schutzes der Familieneinheit durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK - der Grundsatz der Familieneinheit ist zudem ein tragendes Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin-II- Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14 und 15 Abs. 1 und 2 EGV 343/2003, der ggf. eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin zur Folge haben kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012 S. 383 ff., zit. nach juris Rn. 42) - an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage teil. Die Trennung der offensichtlich nur bedingt reisefähigen Antragsteller zu 3.) bis 5.) von ihrer Familie ist unzumutbar; die Überstellung der übrigen Antragsteller nach Polen somit rechtlich unmöglich i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. VG München, Beschluss vom 26. März 2013 - M 1 S 13.30170 -, zit. nach juris Rn. 17; VG Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L 145/13.A -, zit. nach juris Rn. 17).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).