Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 12.09.2001, Az.: 2 L 1082/00

Rückkehrgefährdung durch Familienmitglieder wegen Entziehung von Eltern bestimmter Ehe durch Flucht; Feststellung eines Abschiebungshindernisses als einzige ermessensfehlerfreie Entscheidung (Ermessensreduzierung auf Null); Konkrete, landesweite Lebensgefahr durch vermeintliche Verletzung der "Familienehre"

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
12.09.2001
Aktenzeichen
2 L 1082/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 19006
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2001:0912.2L1082.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Osnabrück - 02.09.1996 - AZ: 5 A 282/96

Fundstelle

  • InfAuslR 2002, 154-156

Amtlicher Leitsatz

Eine syrische Frau, die aus einer noch traditionellen Wertvorstellungen verhafteten Familie stammt, kann in ernsthafte Lebensgefahr geraten, wenn sie sich der elterlichen Wahl eines Ehepartners durch "unerlaubtes" Verlassen der Familie entzogen hat und wieder nach Syrien zurückkehrt.

Gründe

1

I.

Die Klägerin will mit ihrer Berufung die Verpflichtung der Beklagten erreichen, festzustellen, dass in ihrer Person ein Abschiebungshindernis im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliegt; sie macht geltend, im Falle ihrer Rückkehr nach Syrien in Lebensgefahr zu geraten, weil sie sich der Eheschließung mit ihrem von ihren Eltern als Ehemann bestimmten Cousin durch Flucht entzogen habe.

2

Die am 7. März 1975 in D. geborene Klägerin ist syrischer Staatsangehörigkeit, arabischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Sie lebte zuletzt vor ihrer Ausreise in A., das auch der Wohnsitz der elterlichen Familie war und ist. Die Klägerin reiste nach ihren Angaben am 4. März 1995 mit Hilfe von Schleppern und einem gefälschten Pass auf dem Luftweg von A. nach F. in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 28. Mai 1995 wurde sie bei einer polizeilichen Gaststättenkontrolle in O. angetroffen; dabei wurde festgestellt, dass sie nicht im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung war. Darauf stellte sie am 2. Juni 1995 einen Asylantrag. Bei ihrer polizeilichen Vernehmung und der späteren Anhörung vor dem Bundesamt am 14. Juni 1995 trug sie Folgendes vor:

3

Sie lebe in Deutschland mit dem syrischen Staatsangehörigen B. zusammen, mit dem sie in Syrien im Jahre 1990 nach religiösem Ritus die Ehe geschlossen habe und der im selben Jahre aus politischen Gründen aus Syrien in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei. In Syrien habe sie nach 12 Jahren die Schule mit dem Abitur abgeschlossen und dann im Jahr 1994 ein Studium der Ingenieurwissenschaften an der Universität A. aufgenommen, das sie aber nach einem halben Jahr abgebrochen habe. Ihre Eltern hätten sie schon seit langem gedrängt, ihren Cousin zu heiraten, da Herr B. (im Folgenden als "Verlobter" bezeichnet) nicht nach Syrien zurückkehre und sie zu alt für eine Ehe werde. Sie habe die Hochzeit mit dem Cousin zunächst unter Hinweis auf den noch nicht vorliegenden Schulabschluss hinauszögern können, habe dann aber nach dem Abitur keine Möglichkeiten mehr gehabt, die Eheschließung hinauszuzögern. Als Datum der Hochzeit hätten ihre Eltern den 28. November 1994 festgelegt, an dem zugleich auch die religiöse Ehe mit ihrem Verlobten annulliert werden sollte.

4

Vor der Hochzeit sei sie am 28. November 1994 geflohen, habe zunächst die Nacht auf der Straße verbracht und dann bei den Eltern ihres Verlobten Unterschlupf gefunden. Von diesen sei sie betreut worden und habe sich drei Monate versteckt gehalten. Sie habe Angst gehabt, von ihrer eigenen Familie getötet zu werden; denn dies sei in Syrien Brauch, wenn ein Mädchen vor der geplanten Hochzeit fliehe. Da sie auf Dauer in Syrien nicht sicher gewesen sei, habe sie die Ausreise zu ihrem Verlobten nach Deutschland geplant und sich von einem Schlepper einen gefälschten Reisepass besorgen lassen. Als dieser dann vorgelegen habe, sei sie heimlich aus ihrem Versteck zum Flughafen nach A. gebracht worden und von dort nach Deutschland ausgereist. Sie habe schon vorher im Sommer 1994 einmal bei der Deutschen Botschaft versucht, ein reguläres Visum zu erhalten; dieser Antrag sei jedoch im Juli 1994 abgelehnt worden.

5

In Syrien habe sie keine Schwierigkeiten mit den Behörden gehabt. Sie sei allerdings nach der Ausreise ihres Verlobten zeitweise mehrmals zu Verhören abgeholt worden; die Behörden hätten herausfinden wollen, wo sich ihr Verlobter aufhalte.

6

Durch Bescheid vom 11. März 1996 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag der Klägerin ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG nicht vorliegen und forderte die Klägerin unter Androhung der Abschiebung auf, das Bundesgebiet nach Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Klägerin habe eine Verfolgung durch staatliche Stellen nicht glaubhaft gehabt. Bei den von ihr vorgetragenen Verhören durch syrische Stellen handele es sich nur um Recherchen, welche die Schwelle der Asylerheblichkeit nicht überschritten. Die von ihr behauptete Gefahr einer Verfolgung durch ihre Familie sei asylrechtlich unerheblich.

7

Darauf hat die Klägerin am 1. April 1996 beim Verwaltungsgericht Klage erhoben. Zur Begründung hat sie ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren vertieft und betont, dass sie bei Rückkehr nach Syrien mit einer Verfolgung durch Familienangehörige rechnen müsse, da sie nach deren Auffassung Schande über die Familie gebracht habe. Dabei sei auch zu berücksichtigten, dass sie nunmehr schwanger von ihrem Verlobten sei, mit dem sie in einer staatlich noch nicht anerkannten Ehe zusammenlebe. Es sei bisher nicht möglich gewesen, die für eine derartige Eheschließung erforderlichen Unterlagen zu besorgen.

8

In Syrien würden Racheakte der Familie gegen Frauen, die sich der für sie bestimmten Ehe entzogen hätten, von Seiten des Staates nicht wirksam verfolgt. So sei im Jahre 1988 oder 1989 ein Mädchen, das in der unmittelbaren Nachbarschaft ihres Verlobten gewohnt habe, von der Familie getötet worden, nachdem sie einen jungen Mann geheiratet habe, der nicht dem Willen der Familie entsprochen habe. Das Strafverfahren sei abgeschlossen worden, ohne dass man den wahren Schuldigen zur Rechenschaft gezogen habe. Dass ihre Eltern sie töten wollten, wisse sie auch von ihrer Freundin, die sie damals in Syrien in dem Versteck bei den Eltern ihres Verlobten aufgesucht habe. Selbst wenn sie mit dem Leben davon komme, sei davon auszugehen, dass sie sich ohne den Schutz ihrer Familie in Syrien nicht über Wasser halten könne; als alleinstehende Frau ohne familiären Anhang wäre es für sie aussichtslos, Unterkunft und Arbeit zu finden.

9

Im Übrigen müsse sie bei Rückkehr nach Syrien mit menschenrechtswidrigen Verhören der Sicherheitskräfte rechnen. Rückkehrer, die wie sie einen Asylantrag gestellt und keine gültigen Dokumente hätten, gerieten in den Verdacht einer oppositionellen Betätigung und wären bei den Verhören schweren Misshandlungen ausgesetzt.

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Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 11. März 1996 zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen,

hilfsweise festzustellen,

dass die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG vorliegen.

11

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

12

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hat keinen Antrag gestellt und sich nicht zur Sache geäußert.

13

Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 2. September 1996 als unbegründet abgewiesen. Die Klägerin habe eine politische Verfolgung durch staatliche Stellen nicht glaubhaft gemacht. Dass sie wegen ihres in Deutschland lebenden Verlobten politisch verfolgt werde, habe sie nicht mehr ernsthaft geltend gemacht. Die ihr angeblich drohende Verfolgung durch ihre Eltern sei nicht als politische Verfolgung einzuordnen und könne auch kein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG begründen. Dieser Sachverhalt könne allenfalls im Rahmen einer Duldung nach § 55 AuslG bedeutsam sein; dies habe aber die am Verfahren nicht beteiligte Ausländerbehörde zu überprüfen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe des Urteils Bezug genommen.

14

Durch Beschluss vom 22. März 2000 hat der Senat auf Antrag der Klägerin die Berufung zugelassen, weil das Urteil von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG abweiche; nach dieser Rechtsprechung könne die von der Klägerin vorgetragene Gefährdung durch ihre Familienangehörigen im Rahmen des von der Beklagten zu prüfenden § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bedeutsam sein.

15

Zur Begründung ihrer Berufung verweist die Klägerin auf ihren bisherigen Vortrag und trägt ergänzend vor: Im Falle ihrer Rückkehr nach Syrien sei sie auch gegenwärtig noch gefährdet, weil ihr Vater und ihr ältester Bruder ihr weiterhin nach dem Leben trachteten. Zwar sei davon auszugehen, dass ihr Cousin nicht mehr bereit sei, sie zu heiraten. Aber ihre Familie wolle die Schande, die sie angeblich über die Familie gebracht habe, unverändert dadurch tilgen, dass man sie töte. Eine Schwester, die verheiratet außerhalb ihres Elternhauses lebe und Verständnis für sie aufbringe, habe ihr 1998 in einem Brief mitgeteilt, sie solle nicht daran denken, nach Syrien zurückzukehren. Bruder und Vater würden nicht nur sie, sondern auch die aus der Verbindung mit ihrem Verlobten hervorgegangenen beiden Kinder töten. - Für diese Absicht spreche auch das Erlebnis, das ein Bekannter, der Zeuge B., im August 2000 bei einem Besuch in Syrien gehabt habe. Dort hätten ihn ihre Eltern und ihr ältester Bruder besucht. Sie hätten Herrn B. nach ihrer Adresse befragt. Dieser sei jedoch von ihr dahingehend informiert gewesen, er dürfe die Adresse auf keinen Fall preisgeben, und habe dieses ihren Familienangehörigen gegenüber auch erklärt. Darauf seien diese in Zorn geraten, hätten ihn beschimpft und erklärt, sie würden die Adresse in Erfahrung bringen. Sie hätten im Zorn gerufen: "Wir kriegen sie."

16

Dass derartige Reaktionen in islamischen Ländern nicht unüblich seien, ergebe sich auch aus dem von ihr vorgelegten Artikel der Zeitung Al Arab vom 24. April 1996. Nach dem Bericht sei eine Jordanierin, die 1955 gegen den Willen ihrer Familie einen Mann geheiratet habe, 1995 von Familienangehörigen in Jordanien ermordet worden, nachdem die Familie sie wieder aufgespürt hatte.

17

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 11. März 1996 zu verpflichten, festzustellen, dass in ihrer Person ein Abschiebungshindernis im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliegt.

18

Die Beklagte und der Bundesbeauftragte stellen keine Anträge und äußern sich nicht zur Sache.

19

Die Klägerin hat bisher ihren Verlobten nicht standesamtlich geheiratet. Nach ihren Angaben konnten die hierfür erforderlichen Unterlagen bisher nicht beschafft werden. Aus der Verbindung mit ihrem Verlobten ist eine am 8. Dezember 1996 geborene Tochter und ein am 2. April 2000 geborener Sohn hervorgegangen. Der Verlobte der Klägerin ist am 11. August 1990 aus Syrien in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Er hat erfolglos ein Asylverfahren betrieben. Das Verwaltungsgericht hat die Klage des Verlobten durch Urteil vom 14. August 1995 (5 A 751/94) als unbegründet abgewiesen, da der Verlobte eine politische Verfolgung nicht glaubhaft gemacht habe. Sein Vortrag, er sei Mitglied der Moslem-Bruderschaft gewesen und deswegen in Syrien vor seiner Ausreise verhaftet und gefoltert worden, sei nicht glaubhaft. Wegen der Einzelheiten wird auf die Gründe des Urteils vom 14. August 1995 Bezug genommen. Der Zulassungsantrag des Verlobten hatte keinen Erfolg (Senatsbeschl. v. 24.03.1998 - 2 L 6099/95 -). Seitdem wird der Aufenthalt des Verlobten in Deutschland von der Ausländerbehörde geduldet.

20

Der Senat hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung angehört und den Verlobten der Klägerin über ihre familiären Verhältnisse als Zeugen vernommen. Ferner hat er den Zeugen B. über die Gespräche vernommen, die er während seines Aufenthalts in Syrien im Jahre 2000 mit der Familie der Klägerin geführt hat. Wegen des Ergebnisses der Anhörung und der Zeugenvernehmung wird auf das Terminsprotokoll Bezug genommen.

21

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird verwiesen auf die Schriftsätze der Beteiligten und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakten und Verwaltungsakten sowie auf die Gerichtsakten und Verwaltungsakten des Asylverfahrens des Verlobten der Klägerin. Sie waren in ihren wesentlichen Teilen Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

22

II.

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG einen Anspruch auf die Feststellung, dass in ihrer Person die Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses im Sinne dieser Vorschrift vorliegen.

23

1.

Nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben, weil die Klägerin bei Rückkehr nach Syrien in Gefahr gerät, von Mitgliedern ihrer Familie getötet zu werden. Dabei steht die Gewährung von Abschiebungsschutz hier nicht im Ermessen der Beklagten; vielmehr ist dieses Ermessen ("kann") wegen der Bedeutung des betroffenen Grundrechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) dahin reduziert, dass nur die Feststellung des Abschiebungshindernisses fehlerfrei ist (vgl. zur Reduzierung des Ermessens in derartigen Fällen Treiber in: GKAuslG, § 53 RdNr. 19).

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§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG stellt allein auf das Bestehen einer konkreten individuellen Gefahr ab, ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder Privatpersonen zuzurechnen ist. Für die Annahme einer konkreten Gefahr im Sinne dieser Vorschrift ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit erforderlich, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden; hierbei statuiert das Element der Konkretheit der Gefahr für "diesen" Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation, die außerdem landesweit gegeben sein muss (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324, 330) [BVerwG 17.10.1995 - 9 C 9/95].

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2.

Nach diesem Maßstab kann die Klägerin die begehrte Feststellung beanspruchen. Der Senat ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung der Überzeugung, dass die Klägerin bei Rückkehr nach Syrien landesweit nicht sicher vor den Nachstellungen ihrer Familie ist; vielmehr muss sie damit rechnen, von ihrem Vater oder ältesten Bruder getötet zu werden.

26

Die Klägerin hat vorgetragen, dass sie in einer von traditionellen Wertvorstellungen beherrschten, muslimisch geprägten Familie aufgewachsen ist; entsprechend dem dominierenden Einfluss ihres Vaters hätten ihre Eltern ihren Cousin für sie als Ehepartner bestimmt, nachdem ihr Verlobter auch mehrere Jahre nach seiner Ausreise nicht nach Syrien zurückgekehrt sei. Sie sei dann an dem Tag, an dem sie nach dem Willen ihrer Eltern mit ihrem Cousin verheiratet werden sollte, aus ihrer Familie geflohen, um sich der Heirat zu entziehen.

27

Der Senat hält diesen Vortrag der Klägerin für glaubhaft. Sie hat sich in diesem Sinne unverändert von Beginn des Asylverfahrens an bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat geäußert; bei ihrer Anhörung vor dem Senat hat sie ihren Vortrag zu den Verhältnissen in ihrer Familie auf Fragen des Gerichts anschaulich und ohne Zögern widerspruchsfrei weiter konkretisieren können. Insbesondere hat sie dabei glaubhaft geschildert, wie sie unter zunehmenden Druck ihres Vaters geriet, die Verbindung zu ihrem Verlobten zu lösen und ihren Cousin nach dem Tode von dessen Frau zu heiraten. Auch soweit es um die Angaben der Klägerin zu ihrem Aufenthaltsort nach der Flucht aus ihrer Familie geht, ergeben sich keine Zweifel gegen die Glaubwürdigkeit der Klägerin. Sie hat hierzu vor dem Senat plausibel dargelegt, dass sie sich aus Furcht vor Entdeckung nicht lange im Hause der Eltern ihres Verlobten aufgehalten habe, sondern alsbald von dessen Vater zu einem sichereren Versteck, der weiter entfernten Wohnung seiner Tochter, gebracht worden sei.

28

Der als Zeuge vernommene Verlobte der Klägerin hat die Angaben der Klägerin glaubhaft bestätigt. Zwar hat er wegen seines Aufenthalts außerhalb von Syrien die zunehmenden Spannungen in der Familie der Klägerin nicht selbst miterlebt. Er hat jedoch überzeugend ausgesagt, nach der Flucht der Klägerin zu seinen Eltern habe er von seinem Vater von der Notlage erfahren, in die die Klägerin geraten sei, weil sie einen von ihr abgelehnten Cousin heiraten solle. Bei dieser Sachlage hält der Senat unter Berücksichtigung der weiteren Ergebnisse der Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung und angesichts der ihm vorliegenden sachverständigen Äußerungen über die Verhältnisse innerhalb der syrischen Gesellschaft die konkrete Gefahr für gegeben, dass die Klägerin in Syrien von Mitgliedern ihrer Familie, insbesondere von ihrem Vater oder ältesten Bruder, zur vermeintlichen Wiederherstellung der "Familienehre" getötet wird.

29

Der Zeuge B. hat bei seiner Vernehmung glaubhaft über die Gespräche berichtet, die er bei seinem Aufenthalt in Syrien im vergangenen Jahr mit den Eltern der Klägerin und ihrem ältesten Bruder geführt hat. Danach empfindet die Familie das Verhalten der Klägerin, ihre Flucht vor der Heirat und das Zusammenleben mit ihrem Verlobten, noch gegenwärtig als eine Schande für die Familie, die getilgt werden müsse. Aus den Äußerungen des Vaters und des ältesten Bruders der Klägerin hat der Zeuge den Eindruck gewonnen, dass beide ernsthaft entschlossen sind, die "Familienehre" durch Tötung der Klägerin wieder herzustellen, sobald sie hierzu Gelegenheit haben. Diese Aussage wird bestätigt durch den von der Klägerin vorgelegten Brief der Schwester, die von der fortbestehenden unversöhnlichen Haltung der Eltern berichtet und dringend dazu rät, die Adresse in Deutschland weiter geheim zu halten.

30

Die Einschätzung, die sich für den Senat bei Würdigung der oben aufgeführten Beweismittel ergibt, stimmt mit dem überein, was sachverständige Kenner der gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse in Syrien und anderen Ländern des Vorderen Orients berichten. Danach kann eine syrische Frau, die aus einer noch traditionellen Wertvorstellungen verhafteten Familie stammt, in ernsthafte Lebensgefahr geraten, wenn sie sich der elterlichen Wahl eines Ehepartners durch "unerlaubtes" Verlassen der Familie entzogen hat und wieder nach Syrien zurückkehrt; die sachverständigen Äußerungen weisen zugleich darauf hin, dass die staatlichen Stellen in Syrien in derartigen Fällen keinen wirksamen Schutz gegen die Nachstellungen der Familie bieten. So hat R. in seinem in einem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht M. vorgelegten Gutachten vom 22. Januar 1999 zu einem vergleichbaren Fall einer Syrerin ausgeführt, innerhalb des in der Gesellschaft herrschenden Ehrenkodexes habe die Ehre der Familie eine herausragende Stellung. Die "Familienehre" mache sich bevorzugt am sittenstrengen Verhalten der Frauen und Töchter fest und ein schwerwiegender Verstoß gegen die Familienehre verlange nach Sühne. Nach traditioneller Vorstellung könne er nur dadurch wieder hergestellt werden, dass der nächste männliche Verwandte - in der Regel der Vater oder Bruder - das Mädchen, das dagegen verstoßen habe, töte. Es bedeute nach dieser Vorstellung eine "Schande" für die Familie, wenn sich eine Tochter der elterlichen Wahl eines Ehepartners durch "unerlaubtes" Verlassen der Familie entziehe. Diese "Schande" werde noch vergrößert, wenn sie in einer offiziell nicht anerkannten Verbindung mit einem anderen Mann lebe. Der syrische Staat habe in den vergangenen Jahren erhebliche aufklärerische Maßnahmen eingeleitet, um den Frauen eine gewisse Emanzipation zu ermöglichen. Es klaffe aber eine erhebliche Lücke zwischen dem offiziellen gesetzten Recht und der Wirklichkeit. Zwar orientiere sich das syrische Recht im Bereich des Strafrechts weitgehend an europäischen Rechtssystemen - im Gegensatz zum Personenstandsrechts, das sich weitgehend von Normen der islamischen Scharia leiten lasse; jedoch würden in der Rechtswirklichkeit Vergehen im Zusammenhang mit dem traditionellen Ehrenkodex nicht oder nur gering geahndet. Ein Vater, der in einem derartigen Fall seine Tochter wegen Verstoßes gegen die Familienehre töte, könne davon ausgehen, dass das Verbrechen nicht zur Anzeige gelange und auch keine polizeiliche und staatsanwaltliche Untersuchung zur Folge habe.

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In einem anderen, für das Verwaltungsgericht G. erstatteten Gutachten vom 28. Dezember 1998, das die Gefährdung einer Syrerin untersucht, die die Ehe gebrochen hatte, hat R. ebenfalls eine ernsthafte Lebensgefahr bejaht und dabei die Verhältnisse in der syrischen Gesellschaft und die fehlende Reaktion staatlicher Stellen auf Vergeltungsaktionen von Familienangehörigen in gleicher Weise geschildert wie in seinem Gutachten vom 22. Januar 1999; seine Einschätzung deckt sich mit der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 30. Dezember 1998 an das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen. Das Verwaltungsgericht M. hat sich in seinem in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen Beschluss vom 5. März 1999 (- 10 L 207/99.A -, InfAuslR 1999, 307 ff) der Argumentation R. in seinem Gutachten vom 22. Januar 1999 angeschlossen und im Falle der Syrerin, die sich der elterlichen Wahl des Ehepartners entzogen hatte, die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bejaht (ebenso das VG Gelsenkirchen im Falle der wegen Ehebruchs bedrohten Syrerin: Urt. v. 15.01.1999 - 18 aK 2523/98.A -, InfAuslR 2000, 51 ff).

32

Die Einschätzung R. wird von anderen Syrien- und Orient-Experten geteilt. So betonen T. und S., dass bis in die jüngste Zeit hinein in einzelnen Ländern des Nahen Ostens Verbrechen gegen Frauen wegen Verletzung der sogenannten Familienehre vorkommen und nicht ernsthaft verfolgt werden (vgl. für Ägypten Bassam, Tibi, Im Schatten Allahs, Der Islam und die Menschenrechte, 1996, S. 178 ff; für Syrien Gerhard Schweizer, Syrien: Religion und Politik im Nahen Osten, 1998, S. 146 ff). S. hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass derartige Verbrechen gegen Frauen sich nicht nur in Dörfern ereignen, sondern sogar noch häufiger in Städten mit westlich geprägtem Stadtbild und Schulen - ebendort, wo die Frauen sich schon stärker vom traditionellen Rollenververständnis gelöst haben und wo die staatlich verordneten Reformen ins Bewusstsein dringen. In diesen Städten sei es keineswegs nur der einfache, wenig gebildete Mann aus dem Volk, der sich zum blutigen Richter im Namen der Scharia aufschwinge. Man finde die selbsternannten Henker bis hinauf in westlich gebildete Akademikerkreise - eine Oberschicht, die allen technischen Fortschritt aus dem "Westen" bewundere, aber bei einer Reform traditionellen islamischen Familienrechts in Panik gerate (vgl. Schweizer, aaO, S. 147).

33

Gegen die Annahme einer konkreten Gefahr lässt sich auch nicht einwenden, die Klägerin könne sich den zu erwartenden Nachstellungen ihrer Familie durch Wahl eines neuen Wohnortes entziehen. R. führt in seinem Gutachten vom 22. Januar 1999 überzeugend aus, bei den großen Sippenverbänden, die die orientalische Gesellschaftsstruktur prägten, sei es in der Praxis für eine "ungehorsame" Frau unmöglich, selbst in einem der großen städtischen Zentren Syriens auf Dauer unerkannt unterzutauchen.

34

Der vom Senat bejahte Anspruch der Klägerin aus § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hat nicht zur Folge, dass der angefochtene Bescheid vom 11. März 1996 auch hinsichtlich Nr. 4 (Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung nach §§ 34 Abs. 1, 38 Abs. 1 AsylVfG) aufzuheben ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.04.1997 - 19 C 19/96 -, NVwZ 1997, 1132 ff.).

Streitwertbeschluss:

Der Gegenstandswert für den zweiten Rechtszug beträgt 3.000,00 DM (§ 83 b Abs. 2 Satz 1 2. Halbs. AsylVfG).