Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 29.02.2012, Az.: S 13 R 29/11

Missbräuchlichkeit der Einrede der Verjährung durch Krankenkassen gegenüber der Rentenversicherung bzgl. Beitragsforderungen; Folgen eines Inanssichtstellen eines Verzichts der Verjährungseinrede

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
29.02.2012
Aktenzeichen
S 13 R 29/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 36303
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2012:0229.S13R29.11.0A

Tenor:

  1. 1.

    Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.

    Die Klägerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beklagten.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen eine Beitragsforderung der Beklagten.

Mit Bescheid vom 15. Dezember 2010 machte die Beklagte gegenüber der Klägerin Nachforderungen in Höhe von insgesamt 390.590,78 EUR geltend, nachdem sie zuvor die Klägerin mit Schreiben vom 08. Oktober 2010 angehört hatte. Die Klägerin hatte sich zu der Anhörung nicht geäußert. Hintergrund des Bescheides war ein seit Jahren bestehender Streit zwischen den Krankenkassen und den Trägern der Rentenversicherung zu der Frage, auf welcher Grundlage und in welcher Höhe die Beiträge zur Rentenversicherung in den Fällen zu zahlen sind, in denen für Zeiten nach Inkrafttreten der Art. 22 Nr. 2 b und Art. 24 des Gesetzes zur Sanierung des Bundeshaushalts (Haushaltssanierungsgesetz) zum 01. Januar 2000 im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosenhilfe Krankengeld nach § 47 b Abs. 1 SGB V in Höhe des Betrages der Arbeitslosenhilfe gezahlt wird. Hierbei handelte es sich um Sachverhalte bis zum 31. Dezember 2004.

Auf der Grundlage der von ihnen vertretenen Auffassung berechneten die Krankenkassen die Beiträge zur Rentenversicherung aus dem Zahlbetrag der vor Beginn des Krankengeldes bezogenen Arbeitslosenhilfe. Die Rentenversicherung vertrat hingegen die Auffassung, dass ein Betrag in Höhe von 80 v. H. des der Leistung zu Grunde liegenden Arbeitsentgelts als Beitragsbemessungsgrundlage anzusetzen war.

Anlässlich einer Besprechung der Spitzenverbände der Krankenkassen, des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger und der BA über Fragen des gemeinsamen Beitragseinzugs am 26./ 27.05.2004 verständigten sich die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung darauf, die strittige Rechtsfrage höchstrichterlich klären zu lassen. Die einschlägigen Fälle sollten von den Krankenkassen gesondert festgehalten und bei der Bestätigung der Rechtsauffassung der Rentenversicherungsträger durch das BSG die zu wenig gezahlten Rentenversicherungsbeiträge von Amts wegen nachgezahlt werden. Es wurden in der Besprechung über Fragen des gemeinsamen Beitragseinzugs am 26./ 27.05.2004 zwei Musterstreitverfahren vereinbart. Im Übrigen hatten die Vertreter der Krankenversicherung zugesagt, ihren Mitgliedern zu empfehlen, im Falle des Obsiegens der Rentenversicherungsträger die Einrede der Verjährung nicht zu erheben. Eine weitgehend vergleichbare Ausgangssituation bestand im Bezug auf die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Auch hier war eine Klärung der Frage der Beitragshöhe auf dem Verfahrensweg über die Sozialgerichtsbarkeit vereinbart worden.

In seinem Urteil vom 21. Januar 2009 (Az.: B 12 AL 2/07 R - USK 2009-17) bestätigte das Bundessozialgericht in dem Musterstreitverfahren hinsichtlich der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung die Auffassung der Bundesagentur für Arbeit. Danach richtete sich die Bemessung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für Personen, deren Krankengeldbezug in Höhe des Betrages der Arbeitslosenhilfe vor dem 01.01.2005 begonnen hatte, für die Zeit des Leistungsbezugs nach 80 v. H. des der Leistung zu Grunde liegenden Arbeitsentgelts und nicht nach dem Zahlbetrag der Leistung.

In den als Musterstreitverfahren auch hinsichtlich der Beiträge zur Rentenversicherung geführten Rechtsstreitverfahren bestätigte das BSG mit Urteilen vom 27. Januar 2010 (Az.: B 12 R 2/09 R; B 12 R 7/09 R) unter Hinweis auf das Urteil vom 21. Januar 2009 (Az. siehe oben) die Auffassung der Rentenversicherung. Danach waren auch die Beiträge zur Rentenversicherung in den in Rede stehenden Fällen nach 80 v. H. des der Leistung zur Grunde liegenden Arbeitsentgelts zu bemessen. In der mündlichen Verhandlung haben die klagenden Krankenkassen auf Einlassung des Gerichts die Klagen (Revisionen) gegen die Säumniszuschläge zurückgenommen.

Die Beklagte sah die umstrittene Rechtsfrage für die Bereiche der Renten- und der Arbeitslosenversicherung mit den oben genannten höchstrichterlichen Entscheidungen als geklärt hat. Entsprechend der Besprechung vom 26./ 27.05.2004 waren die betreffenden Fälle nunmehr von den Krankenkassen aufzugreifen und hinsichtlich der Beiträge, die nicht auf der Grundlage in Höhe von 80 v. H. des der Leistung zu Grunde liegenden Arbeitsentgelts bemessen worden waren, neu zu berechnen. Die jeweiligen Meldungen der Krankenkassen an die Rentenversicherungsträger über Zeiten, in denen Personen aufgrund des Leistungsbezugs versicherungspflichtig sind, waren zu stornieren und unter Berücksichtigung der geänderten Beitragsbemessung neu abzugeben. Eine entsprechende Korrektur der die Klägerin betreffenden Fälle erfolgte nicht. Die Beklagte nahm Nachberechnungen auf der Grundlage der von der Klägerin zur Verfügung gestellten Datenselektionen zu diesem Personenkreis vor. Es ergab sich danach eine Nachforderung an Rentenversicherungsbeiträgen von insgesamt 225.548,28 EUR. Weiter ergaben sich aus der verspäteten Zahlung der Beiträge Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 165.042,50 EUR.

Mit dem oben genannten Bescheid vom 15. Dezember 2010 forderte die Beklagte von der Klägerin den Gesamtbetrag von 390.590,78 EUR. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht Lüneburg am 17. Januar 2011. Am gleichen Tage beantragte die Klägerin die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, was mit Beschluss vom 05. Juli 2011 abgelehnt wurde.

Die Klägerin trägt vor, dass die Ansprüche der Beklagte in der Zeit von 2002 bis 2005 entstanden und zwischenzeitlich verjährt seien. Mit Email vom 23. September 2010 sowie Schreiben vom 12. Januar 2010 habe die Klägerin die Einrede der Verjährung erhoben. Die Klägerin vertritt die Auffassung, dass der Forderung der Beklagten von Anfang an die Einrede der Verjährung entgegenstand, woraus sich die Rechtswidrigkeit des angegriffenen Bescheides ergebe. Soweit die Beklagte auf die Empfehlung der Spitzenverbände der Krankenkassen vertraut habe, sei darauf hinzuweisen, dass der BKK Bundesverband keine "Durchgriffsrechte" gegenüber der Antragstellerin habe. Seine Rechte waren in § 217 SGB V (alte Fassung) abschließend aufgeführt. Musterstreitvereinbarungen habe der BKK Bundesverband nicht zu Lasten der Krankenkassen vereinbaren können, er habe lediglich unverbindlich solche Verfahren vorbereiten können. Auch hier sei dies nur in dieser unverbindlichen Form erfolgt. Denn der vorliegenden Musterstreitvereinbarung der Verbände fehle ohne die Verjährungsverzichtserklärung der jeweils in Rechten betroffenen Krankenkassen das entscheidende, verbindliche Moment. Deshalb sei es nur zu einer unverbindlichen Empfehlung an die Krankenkassen durch deren Verbände gekommen. Insbesondere sei mit dieser Empfehlung auch kein Hinweis verbunden gewesen, möglichst vor Ablauf der Verjährung eine verbindliche Entscheidung mitzuteilen, um der Beklagten zur Durchsetzung ihrer Ansprüche zu verhelfen.

Soweit die Beklagte vortrage, sie hätte ohne die Absprache zwischen ihr und dem BKK Bundesverband bei jeder Krankenkasse eine Sonderprüfung durchführen müssen und es wäre unweigerlich zu einer Flut von Verfahren gekommen, sei dies übertrieben. Richtig sei, dass die Beklagte mit jeder einzelnen Krankenkasse eine Vereinbarung darüber zu treffen gehabt hätte, welche Wirkung das Musterstreitverfahren haben solle. Soweit weiter von der Beklagten vorgetragen werde, es entspräche der "Tradition" oder sei sonst üblich, im Falle von Musterstreitverfahren nicht zugleich die jeweiligen Verjährungsverzichtserklärungen einzuholen, sei das Gegenteil der Fall. Eine Verzichtserklärung der Betroffenen bzw. die Bevollmächtigung der Verbände zur Abgabe dieser Erklärung sei ein elementarer Bestandteil derartiger Vereinbarungen.

Die einzelnen Ansprüche der Beklagten seien in der Zeit von 2002 bis 2005 entstanden. Die Beklagte habe sie gebündelt mit dem angegriffenen Bescheid vom 15. Dezember 2010 erstmalig geltend gemacht. Für jeden einzelnen Anspruch habe die Verjährungsfrist gem. § 25 Abs. 1 SGB IV vier Jahre betragen. Mithin liege eine Verjährung vor. Ein Verzicht auf die Einrede der Verjährung sei weder von der Klägerin noch von den Spitzenorganisationen der Sozialversicherung/ Spitzenverband Bund abgegeben worden. Im Vorfeld des Bescheides hätten sich die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung darauf geeinigt, ein Musterverfahren zur Klärung der strittigen Fragen durchzuführen. Hierbei sei zwischen dem Spitzenverband (GKV) und der Deutschen Rentenversicherung Bund über eine solche Verzichtserklärung verhandelt worden. Diese habe von den einzelnen Kassen, auch der Klägerin, eingeholt werden sollen. Dies habe die Beklagte versäumt zu tun.

Aus Punkt 9) der Niederschrift der Besprechung vom 26./27. Mai 2004 gehe hervor, dass die Vertreter der Krankenversicherung zugesagt hätten, ihren Mitgliedern zu empfehlen, im Falle des Obsiegens der Rentenversicherungsträger die Einrede der Verjährung nicht zu erheben. Die Klägerin habe die entsprechende Empfehlung nicht erhalten und jedenfalls vor der Entscheidung über das Musterstreitverfahren keine Verzichtserklärung abgegeben. Auch nach Eintritt der Verjährung bzw. nach Beendigung des Musterstreitverfahrens habe die Klägerin keine Verzichtserklärung abgegeben. Ebenso wenig habe dies der GKV Spitzenverband im Namen der Antragstellerin getan. Letzteres wäre nicht unüblich, indem die Krankenkasse ihren Spitzenverband vor der Vereinbarung von Musterstreitverfahren mit einer entsprechenden Vollmacht zur Abgabe einer Verzichtserklärung bevollmächtigt und der Spitzenverband rechtlich so ausgestattet im Namen der Klägerin tätig wird. Dies Verfahren habe jedoch im vorliegenden Fall nicht stattgefunden, weshalb sich die Klägerin einer offensichtlich verjährten Beitragsforderung ausgesetzt sehe.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 15. 12. 2010 aufzuheben, hilfsweise, festzustellen, dass die mit dem Bescheid vom 15. 12. 2010 festgesetzte Forderung verjährt ist.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzulehnen.

Die Beklagte trägt vor, eine Verjährung der mit dem Bescheid geltend gemachten Beitragsansprüche sei nicht eingetreten. In ihrer Argumentation verkenne die Klägerin den Sinn und Zweck des Beratungsergebnisses der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung vom 26./27. Mai 2004, ferner missachte sie die Tradition solcher Absprachen und verstoße gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.

In der erwähnten Besprechung am 26./27. Mai 2004 hätten die Spitzenverbände der Krankenkassen u. a. zugesagt, dass sie ihren Mitgliedern empfehlen werden, im Falle des Obsiegens der Rentenversicherung die Einrede der Verjährung nicht geltend zu machen. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass von dieser Problematik zehntausende von Fällen betroffen waren. Es habe sich um alle Fälle gehandelt, in denen ein Versicherter der gesetzlichen Krankenversicherung in der Zeit vom 01. Januar 2000 bis zum 31. Dezember 2004 (ggfs. auch darüber hinaus) nachdem Bezug von Arbeitslosenhilfe Krankengeld bezogen habe. Ohne die Absprache hätten die Rentenversicherungsträger bei allen damals existierenden ca. 300 Krankenkassen Sonderprüfungen durchführen und die Höhe der Forderungen durch Verwaltungsakt geltend machen müssen. Dies hätte für alle Beteiligten einen immensen Verwaltungsaufwand bedeutet. Die Krankenkassen hätten wiederum gegen die Verwaltungsakte klagen müssen, um die Bindung der Bescheide zu verhindern. Selbst wenn man alle Verfahren danach zum Ruhen gebracht hätte, wäre auch den Sozialgerichten ein erheblicher Aufwand entstanden. Wenn die Klägerin nunmehr behaupte, die Beklagte hätte sich bei jeder einzelnen Krankenkasse rückversichern müssen, ob diese der Empfehlung ihres Spitzenverbandes nachkomme, so führe sie das ganze Verfahren ad absurdum. Es sei gerade Sinn und Zweck der Empfehlung gewesen, langwierige Schriftwechsel mit jeder einzelnen Krankenkasse zu vermeiden.

Der BKK-Bundesverband habe die Erklärung vom 26./27. Mai 2004 für alle BKK en - also auch für die Klägerin - abgegeben. Der BKK-Bundesverband sei seinerzeit Körperschaft des öffentlichen Rechts mit hoheitlichen Funktionen und Durchgriffsrechten gegenüber den BKK en gewesen. Nach dem in § 242 BGB normierten Grundsatz von Treu und Glauben habe sich die Beklagte auf die Zusage des BKK-Bundesverbandes verlassen können müssen. Die Verjährungsreinrede der Klägerin sei treuwidrig in diesem Sinne, denn es habe zunächst der Ausgang eines Musterprozesses abgewartet werden sollen. Wenn eine Partei den Eindruck erwecke, sie unterwerfe sich der Entscheidung in einem schwebenden Musterprozess, könne sie deren Verbindlichkeit nicht nachträglich bestreiten (BGHZ 94, 344, 354). Nach höchstrichterlicher Rechtssprechung sei die Berufung auf die Verjährung dann als rechtsmissbräuchlich anzusehen, sofern der Verpflichtete den Berechtigten - wenn auch unabsichtlich - durch sein Verhalten von der rechtzeitigen Geltendmachung des Anspruchs abgehalten habe. Dies sei hier der Fall gewesen. Zumindest bis zu ihrem Schreiben vom 14. Januar 2011 habe die Klägerin die Beklagten in dem Glauben gelassen, sie werde Beiträge und Säumniszuschläge im vollen Umfang zahlen. Die Beklagte habe im Vertrauen auf dieses Verhalten der Klägerin nichts unternommen, den Beitragsanspruch geltend zu machen.

Die Beklagte habe sich auch deshalb auf die Zusage des BKK-Bundesverbandes verlassen können müssen, weil in der Vergangenheit bereits mehrfach Absprachen dieser Art getroffen und eingehalten worden seien. Es habe im Mai 2004 nicht der geringste Zweifel daran bestehen können, dass derartige Absprachen nicht eingehalten würden. Der nunmehr vorliegende Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben sei innerhalb der Sozialversicherung einmalig. Dass auch der GKV-Spitzenverband von der Richtigkeit und "Verbindlichkeit" der damaligen Erklärung überzeugt sei, zeigten seine Fachinformationen in dieser Sache vom 29. April 2010. Darin bringe er unmissverständlich zum Ausdruck, dass die Beiträge aufgrund der nunmehr höchstrichterlich zu Gunsten der Beklagten entschiedenen Rechtsfrage nachgezahlt werden müssen.

Weiter habe die Klägerin bereits in den vergangenen Jahren sowohl Kenntnis von ihrer Beitragspflicht als auch von den beabsichtigten und abgesprochenen Musterstreitverfahren gehabt. Das Bundessozialgericht habe in seinem Urteil vom 17. April 2008 (Az. B 13 R 123/07 R) klargestellt, dass eine Wissenszurechnung zur Verlängerung der Verjährung auf 30 Jahre gem. § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV führe. Auch aus diesem Grund sei eine Verjährung nicht eingetreten.

Weiter sei der Klägerin die Vereinbarung der Spitzenverbände vom 26./27. Mai 2004 seit deren Zustandekommen bekannt gewesen. Auf die Einrede der Verjährung habe sich die Klägerin jedoch erstmalig mit Schreiben vom 14. Januar 2011 berufen. In dem fast siebenjährigen Zeitraum zwischen Abschluss der Vereinbarung und Erhebung der Verjährungseinrede habe die Klägerin keinerlei Anhaltspunkte dafür erkennen lassen, dass sie sich an das Ergebnis der Vereinbarung und somit auch an die Verzicht auf die Einrede der Verjährung nicht gebunden fühle. Hierdurch habe sie der Beklagte nachträglich auch die Möglichkeit genommen, ihre Ansprüche rechtswirksam innerhalb des nicht verjährten Zeitraums geltend zu machen. Die Klägerin wäre, soweit sie sich darauf beruft, dass die Formulierung der Vereinbarung laute, der Verzicht auf die Verjährungseinrede werde den Mitgliedskassen lediglich empfohlen, gehalten gewesen, der Beklagten rechtzeitig vor Ablauf der Verjährungsfrist anzuzeigen, dass sie sich an diese Absprache nicht gebunden fühle und die Erhebung der Einrede der Verjährung beabsichtige.

Die Beklagte habe sich auch deshalb auf die Verbindlichkeit der Vereinbarung verlassen können müssen, weil in der Vergangenheit bereits mehrfach Absprachen dieser Art getroffen und eingehalten worden seien.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagte sowie der Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Kammer konnte gem. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten einer solchen Entscheidung zugestimmt haben.

Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch unbegründet. Die Forderung der Beklagten ist rechtmäßig.

Der der Nachforderung zugrunde liegende Sachverhalt ist im vorliegenden Verfahren nicht streitig. Gleiches gilt für die Gesamthöhe der Forderung, die von der Kammer auch nicht als fehlerhaft erkannt werden kann.

Der von der Beklagten geltend gemachte Anspruch ist entstanden und fällig. Die Klägerin kann sich auch nicht auf die Einrede der Verjährung nach § 25 SGB IV berufen.

Nach § 25 Abs. 1 SGB IV verjähren Ansprüche auf Beiträge in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie fällig geworden sind. Dies ist im vorliegenden Fall der Fall. Die geltend gemachten Beitragsforderungen sind bereits in der Vergangenheit entstanden und wurden mit dem beklagten Bescheid geltend gemacht. Die Verjährungsfrist für die Ansprüche ist verstrichen.

Das Verhalten der Klägerin stellt jedoch einen Fall der unzulässigen Rechtsausübung dar. Hierbei handelt es sich um einen Unterfall des Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB.

Zwischen der Klägerin und der Beklagten besteht eine rechtliche Sonderverbindung. Dieser Begriff ist im Bereich des § 242 im weitesten Sinn zu verstehen. Es genügt hierfür jeder qualifizierte soziale Kontakt. Es werden auch erfasst Vertragsverhandlungen, dauernde Geschäftsverbindungen, Nachwirkungen eines Vertrages etc. (Palandt, BGB - Kommentar, 70. Auflage 2011, Rn. 3 zu § 42). Da die Klägerin hinsichtlich der Krankenkassenbeiträge grundsätzlich eng mit der Beklagten zusammenarbeiten muss, ist von einer rechtlichen Sonderverbindung im Sinne des § 242 BGB auszugehen.

Im Falle des Rechtsmissbrauches geht es typischerweise darum, dass die Ausübung eines individuellen Rechts als treuwidrig und unzulässig beanstandet wird (Palandt a. a. O. Rn. 40 zu § 242). Die Rechtsausübung kann unzulässig sein, wenn dem Berechtigten eine Verletzung eigener Pflichten zu Last fällt. Im vorliegenden Fall liegt eine derartige Verletzung eigener Pflichten durch die Klägerin vor. Nach Auffassung der Kammer ist die Klägerin nicht im hinreichenden Umfang ihrer Aufklärungspflicht nachgekommen. Aufklärungspflicht ist die Pflicht, den anderen Teil unaufgefordert über entscheidungserhebliche Umstände zu informieren. Sie betrifft Informationen, nach denen der andere Teil sein früheres Verhalten ausgerichtet hätte (Palandt a. a. O., Rn. 37 zu § 242).

Die Klägerin hat zwar offenbar vor Erlass des Bescheides gegenüber der Beklagten kundgetan, dass sie beabsichtigt, die Einrede der Verjährung zu erheben. Sie wäre jedoch dazu verpflichtet gewesen, dies zu einem Zeitpunkt zu tun, in dem die Beklagte hierauf noch sinnvoll hätte reagieren können, nämlich durch Geltendmachung der streitigen Forderungen. Aufgrund der Besprechung der Spitzenverbände der Krankenversicherungen und der Beklagten über Fragen des gemeinsamen Beitragseinzuges am 26./27. Mai 2004 ging die Beklagte davon aus, dass die betroffenen Krankenkassen die Einrede der Verjährung nicht erheben werden.

Soweit die Klägerin vorgetragen hat, sie habe von der Vereinbarung der Spitzenverbände vom 26./27. Mai 2004 keine Kenntnis gehabt, kann dies anhand der vorliegenden Akten nicht nachvollzogen werden. Dieser Vortrag ist jedoch nach Auffassung der Kammer nicht glaubhaft. Dass der BKK Bundesverband den Krankenkassen über eine derart entscheidende Vereinbarung, die erhebliche Kostenfolgen nach sich ziehen würde, keinerlei Information zukommen ließ, kann die Kammer nicht für zutreffend halten. Der Sinn einer Besprechung zu umstrittenen Themen ist gerade, allen Beteiligten eine Handlungsanweisung - unabhängig von deren rechtlicher Qualität - zukommen zu lassen. Wenn die Ergebnisse solcher Besprechungen nicht veröffentlicht würden, wäre die Besprechung als solche sinnlos. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse von Besprechungen der Spitzenverbände denjenigen, die davon betroffen sind oder sein können, zur Kenntnis gegeben werden. Weshalb das hier nicht der Fall gewesen sein soll, kann die Kammer nicht nachvollziehen. Unter diesen Umständen kann die Kammer nur davon ausgehen, dass die Klägerin zumindest Kenntnis haben konnte. Sollte diese möglicherweise von der Information versehentlich keine Kenntnis gehabt haben - etwa, weil die entsprechenden Informationen nicht sorgfältig gelesen wurden - hat sich die Beklagte dies nicht zurechnen zu lassen.

Ob der Spitzenverband der Krankenkassen eine gegenüber den einzelnen Krankenkassen bindende Erklärung hierüber abgegeben konnte oder nicht, kann im vorliegenden Verfahren dahingestellt bleiben. Denn die Beklagte durfte sich darauf verlassen, dass alle Beteiligten - auch die einzelnen Krankenkassen - sich an das Ergebnis der Besprechung halten oder aber rechtzeitig ankündigen würden, dass sie dies nicht tun würden.

Inhalt der oben genannten Besprechung war die Durchführung von Musterverfahren zur Klärung strittiger Rechtsfragen. Es ist üblich, dass bis zur Entscheidung einer Rechtsfrage durch das Bundessozialgericht etliche Jahre vergehen können, so dass die Verjährungsfristen im Laufe dieser Zeit ablaufen. Des Weiteren ist nicht ungewöhnlich, dass durch das Bundessozialgericht Rechtsfragen geklärt werden, die eine enorme Vielzahl von Einzelfällen betreffen. Es ist im Interesse der Allgemeinheit, derart streitige Rechtsfragen, die eben eine solche Vielzahl von Fällen betreffen, in Musterstreitverfahren klären zu können. Alternative hierzu wäre die Geltendmachung der Forderungen in jedem Einzelfall. Die Belastung sowohl der jeweils beteiligten Organisationen der Krankenversicherung, der Rentenversicherung und auch der Sozialgerichte überstiege jedes vernünftige Maß, würde man so verfahren. Auch die einzelnen Krankenkassen wären durch den Verwaltungsaufwand, den ein solches Verfahren nach sich zöge, überaus belastet. Soweit die Klägerin darauf hinweist, dass die Beklagte "lediglich" mit jeder einzelnen Krankenkasse eine Vereinbarung darüber zu treffen gehabt hätte, welche Wirkung das Musterstreitverfahren hätte haben sollen, kann dies nicht überzeugen. Im Gegensatz zu dem von der Klägerin angesprochenen Verfahren, in dem sie sich in derartigen Fällen mit jedem einzelnen ihrer Versicherten auf das Ruhen eines Widerspruchsverfahrens einige, wenn entsprechende Musterklagen bereits anhängig seien, bedürfte das Abschließen einer solchen Vereinbarung auch der jeweiligen - durchaus zeitaufwendigen - Verhandlungen mit den jeweiligen Krankenkassen, um deren Einverständnis zu erlangen. Mit der Vereinbarung des Ruhens eines Widerspruches lässt sich dies nicht vergleichen. Es ist auch gerade Sinn und Zweck von Spitzenverbänden, solche Vereinbarungen zu treffen. Dies spart nicht nur Verwaltungsaufwand, sondern auch Zeit- und Personalaufwand. Wie sich aus den von der Beklagten vorgelegten Unterlagen ersehen lässt, ist ein solches Vorgehen bereits in früheren Jahren üblich gewesen. Soweit die Klägerin darauf verweist, es gäbe keine "Tradition", wonach im Fall von Musterstreitverfahren nicht zugleich die jeweiligen Verjährungsverzichtserklärungen einzuholen seien, überzeugt dies nicht. Derartige Absprachen sind üblich und, wie oben bereits dargelegt, im Interesse der Allgemeinheit auch sinnvoll.

Im Hinblick auf die Vereinbarung der Besprechung vom 26./27. Mai 2004, die auch der Klägerin vorlag, durfte die Beklagte darauf vertrauen, dass von der Geltendmachung der Einrede der Verjährung abgesehen werden würde. Soweit die Klägerin die Absicht hatte, diese dennoch geltend zu machen, wäre sie dazu verpflichtet gewesen, dies der Beklagten kundzutun, bevor die Verjährungsfrist abgelaufen war. Wäre der Beklagte bekannt gewesen, dass die Klägerin die Einrede der Verjährung erheben will, so hätte sie, bevor die Frist ablief, noch darauf reagieren und ihre Ansprüche durch die rechtzeitige Geltendmachung schützen können. Dass sie dies nicht getan hat, ist ganz offensichtlich allein darauf zurückzuführen, dass sie davon ausging, dass sich die Krankenkassen an den vereinbarten Verzicht der Verjährungseinrede halten würden. Auch hier ist es nicht notwendig, zu entscheiden, ob der Spitzenverband der Krankenkassen für die einzelnen Krankenkassen verbindliche Erklärungen abgegeben hat. Die Beklagte durfte aufgrund der rechtlichen Sonderbeziehung zwischen ihr und den Krankenkassen darauf vertrauen, dass alle einzelnen Krankenkassen von dieser Vereinbarung Kenntnis erhalten würden und diese, sofern sie nichts Gegenteiliges kundtaten, sich daran halten würden.

Auch dass die Klägerin vor Erlass des Bescheides und auch noch vor dem Anhörungsschreiben der Beklagten deutlich machte, dass sie beabsichtigte, die Einrede der Verjährung zu erheben, ändert hieran nichts. Denn die entsprechenden Gespräche fanden offenbar erst im Jahr 2010, also nach Erlass des Urteils des BSG im Januar 2009 und deutlich nach Ablauf der Verjährungsfristen, statt. Zu diesem Zeitpunkt kundzutun, dass auf die Einrede der Verjährung nicht verzichtet wird, bedeutet nach Auffassung der Kammer, von diesem Recht missbräuchlich Gebrauch zu machen. Die Klägerin hat nach Auffassung der Kammer bei ihrem Handeln zugrunde gelegt, dass die Beklagte aufgrund des Fehlens anderslautender Mitteilungen von ihr davon ausging, sie werde auf die Einrede der Verjährung verzichten. Die Tatsache, dass die Klägerin nicht durch Tätigwerden einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat, wie von ihr gerügt wird, steht der Annahme einer unzulässigen Rechtsausübung nicht im Wege. Bei der konkreten Fallgestaltung war es an der Klägerin, die Beklagte rechtzeitig, also zu einem Zeitpunkt, in dem diese ihre Rechte noch schützen konnte, darauf hinzuweisen, dass sie die Vereinbarung des Spitzenverbands der Krankenkassen und der Deutschen Rentenversicherung nicht für auf sie anwendbar hielt und die Absicht hatte, die Einrede der Verjährung bei Eintritt derselben zu erheben.

Die Rechtsmissbräuchlichkeit, die sich aus dem Geltendmachen des Einwandes der Verjährung zu diesem späten Zeitpunkt ergibt, hat eine rechtshindernde Wirkung. Die Klägerin kann sich hierauf somit nicht berufen.

Die Klage war daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.