Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 25.09.2013, Az.: 6 A 5479/13

Förderbedarf, sonderpädagogischer: Altfall; Förderschulüberweisung: Inklusion: Ermessen; Inklusion, Förderbedarf: Altfall; Schule, inklusive: Fördergutachten

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
25.09.2013
Aktenzeichen
6 A 5479/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 64386
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Schulbehörde hat im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung nach § 68 Abs. 2 NSchG a.F. zu erwägen, ob dem Wunsch der Eltern eines Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf nach inklusiver Beschulung Rechnung getragen kann und hierfür den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären.
2. Lässt das Alter des Kindes einen Wechsel von der Förderschule in den 5. Jahrgang der Hauptschule zu, kann die inklusive Beschulung nicht ausschließlich mit dem Argument, das Kind werde sich im Zeitpunkt des Schulwechsels bereits im 6. Jahrgang der Förderschule befinden, abgelehnt werden.
3. Seit Einführung der inklusiven Schule kommt dem Erfordernis einer substantiierten Begründung der gegen den Willen der Eltern verfügten Förderschulzuweisung besondere Bedeutung zu.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich des Lernens und gegen die Verpflichtung zum Besuch einer Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen.

Die am 7. September 2001 geborene Klägerin wurde mit Beginn des Schuljahres 2008/2009 in die Grundschule F. eingeschult. Dort wiederholte sie Schuljahr 2009/2010 die 1. Klasse. Im 2. Halbjahr des Schuljahres 2010/2011 leitete die Grundschule F. das Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs der Klägerin ein. Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 30. Mai 2011 einen sonderpädagogischen Förderbedarf der Klägerin mit dem Schwerpunkt Lernen fest und verpflichtete die Schülerin, ab sofort die W.-Schule in S., eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen, zu besuchen. Dazu heißt es im Wesentlichen, die Klägerin habe trotz Wiederholung der 1. Klasse keine ausreichenden Grundlagen entwickeln können, um die Ziele der Klasse 2 zu erreichen. Eine erneute Wiederholung werde aufgrund ihres Alters nicht empfohlen. Die Eltern wünschten aufgrund der aktuellen schulischen Situation ihrer Tochter eine sofortige Umschulung auf eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen.

Die Klägerin wurde daraufhin im Schuljahr 2011/2012 in die Klasse 4 der W.-Schule in S. aufgenommen. Das Zeugnis der W.-Schule vom 20. Juli 2012 weist aus, dass sie die Anforderungen in den Lehrgängen Lesen und Schreiben zum Teil und in Mathematik ganz erfüllt hat und im Fach Deutsch nach dem Kerncurriculum der Klasse 5 unterrichtet worden ist. Aufgrund ihrer Versetzung besuchte die Klägerin im Schuljahr 2012/2013 die Klasse 5 der W.-Schule. Mit Beschluss der Klassenkonferenz vom 6. Juni 2013 ist die Klägerin in die Klasse 6 versetzt worden. Das Zeugnis der W.-Schule vom 26. Juni 2013 weist für die Klasse 5 in den Lehrgängen Deutsch die Note 3, in Englisch die Note 3 und in Mathematik die Note 2 aus. Im Zeugnis ist vermerkt, dass die Klägerin im Fach Deutsch nach den curricularen Vorgaben der Klasse 6 unterrichtet worden ist.

Mit Schreiben vom 5. Mai 2013 hatten die Eltern der Klägerin beantragt, sie mit Beginn des Schuljahres 2013/2014 in der 5. Klasse der G. -Hauptschule in H., in deren Schulbezirk die Klägerin ihren Wohnsitz hat, zu beschulen. Die Förderschullehrerin I. der W.-Schule erstellte daraufhin am 15. Mai 2013 einen Entwicklungsbericht über die Klägerin. Darin empfahl sie, weiterhin einen Bedarf der Klägerin an sonderpädagogischer Unterstützung mit dem Schwerpunkt Lernen festzustellen. Dazu heißt es im Wesentlichen, die Klägerin habe zwar bisher in allen Fächern die Bildungsziele der Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen erreicht. Sie benötige aber weiterhin eine intensive Hilfestellung, Bestätigung und Ermutigung, um Aufgaben vollständig zu bearbeiten. Sie benötige viel positive Bestärkung und Erfolgserlebnisse sowie klar strukturierte Aufgaben und individuelle Förderung. Die Lerninhalte müssten individuell ihrem Leistungsstand angepasst werden. Bei einer Beschulung an einer Regelschule sei deshalb eine zieldifferente Beschulung unerlässlich.

Die Förderkommission empfahl in ihrer Sitzung am 30. Mai 2013, einen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich des Lernens festzustellen und als Lernort die W.-Schule in S. vorzusehen. Die anwesende Mutter der Klägerin wünschte eine Beschulung der Klägerin an der Hauptschule in H..

Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 3. Juni 2013 fest, dass die Klägerin weiterhin einen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Lernen habe und verpflichtete die Klägerin, weiterhin die Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen in S. zu besuchen. Dazu heißt es im Wesentlichen, die Klägerin habe auch nach der Neufassung des Niedersächsischen Schulgesetzes keinen Anspruch auf eine inklusive Beschulung, weil dies für ihren Schuljahrgang noch nicht vorgesehen sei. Ihrem erneut festgestellten Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich des Lernens könne an einer allgemeinen Schule nicht entsprochen werden. Sie sei deshalb verpflichtet, eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen zu besuchen.

Die Klägerin hat am 1. Juli 2013 Klage erhoben, mit der sie neben der Anfechtung des Bescheides vom 3. Juni 2013 zunächst auch die gerichtliche Feststellung, dass sie verpflichtet ist, die G. -Hauptschule in H. zu besuchen, verfolgt hat. Den auf Feststellung gerichteten Klageantrag hat sie in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.

Die Klägerin trägt vor, ihr ursprünglicher Lernrückstand habe auf einem Hörproblem beruht, welches inzwischen durch eine Operation gelöst worden sei. Die W.-Schule S. sei nicht geeignet, sie hinreichend zu fördern. Die dortigen Klassen 6 und 7 würden lediglich von jeweils drei Schülern besucht, so dass die Schülerinnen und Schüler dieser Klassen gemeinsam beschult werden. Dies sei für die Schüler verwirrend und führe zu zusätzlichen Belastungen. Auch schade der Besuch dieser Schule ihrem Kindeswohl, weil sie wegen des Besuchs der Förderschule von anderen Schülern aus ihrem Wohnort gehänselt werde. Außerdem gingen die anderen Schüler aus ihrem Wohnort C. in H. zur Schule. C. liege außerdem im Schulbezirk der in H. gelegenen Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen, nicht im Bezirk der W.-Schule in S.. Ihre Zuweisung zur W.-Schule in S. sei nur erfolgt, weil die Beklagte möglichst viele Schulen im Landkreis H. erhalten wolle. Dieser Gesichtspunkt könne aber bei der Entscheidung über den Beschulungsort keine Bedeutung haben. Auch ihr Hausarzt, der Arzt für Allgemeinmedizin Dr. J., befürworte eine Beschulung in H.. Er habe sich in seiner Bescheinigung vom 25. Juni 2013 für den Besuch einer Hauptschule in H. ausgesprochen, weil sie dadurch ihre sozialen Kontakte zu anderen Schülern aus dem Ort C. aufrechterhalten könne. Die Klägerin trägt unter Vorlage eines an ihre Eltern gerichteten Schreibens des Schulleiters der G. -Hauptschule in H. vom 21. Juni 2013 vor, dass die Hauptschule ihren Förderbedarf abdecken könne, weil sie ab dem Schuljahr 2013/2014 mit der inklusiven Beschulung in dem Jahrgang 5 beginne. Es seien dort drei Kinder mit Unterstützungsbedarf für den 5. Jahrgang angemeldet worden.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2013 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie erwidert: Die Klägerin sei mit Bescheid vom 30. Mai 2011 auf Wunsch ihrer Eltern an die W.-Schule in S. überwiesen worden. Das erneut durchgeführte Feststellungsverfahren habe einen fortbestehenden Förderbedarf im Bereich des Lernens ergeben. Die Klägerin habe Schwierigkeiten beim Aufgabenverständnis und benötige viel Zeit bei der Aufgabenbearbeitung. Einen Anspruch auf inklusive Beschulung habe sie nicht, weil sie sich im Schuljahr 2013/2014 im 6. Jahrgang befinde. Eine Integrationsklasse Lernen sei an der G. -Schule in H. nicht eingerichtet. Angesichts der fortschreitenden inklusiven Beschulung sei auch nicht mit der Einrichtung neuer Integrationsklassen zu rechnen. Bei der Entscheidung über den Beschulungsort sei sie nicht an Schulbezirke gebunden. Die Klägerin habe sich in der W.-Schule gut eingelebt und weise seit Frühjahr 2011 auch eine positive Tendenz in ihrer Entwicklung auf. Sie werde derzeit in einer kombinierten Klasse 6/7 unterrichtet. In der Klasse 7 befänden sich fünf Kinder und in der Klasse 6 vier Kinder. Das Leistungsniveau dieser Lerngruppe sei für eine Förderschulklasse sehr homogen, so dass für die Klägerin keine belastende Lernsituation bestehe. Es habe deshalb kein Anlass bestanden, sie einer anderen Förderschule, insbesondere der Förderschule in H., zuzuweisen. Die vom Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. J. ausgesprochene Empfehlung sei für sie nicht bindend, weil der Beschulungsort nicht nach dem medizinischen, sondern nach dem pädagogischen Befund zu bestimmen sei.

Wegen des weiteren Sachverhalts nimmt die Kammer ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Beiakte A), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug.

Entscheidungsgründe

Nachdem die Klägerin die mit dem Klageantrag zu 2. ursprünglich verfolgte Feststellungsklage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat, ist das Verfahren insoweit gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

Die im Übrigen gegen den Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2013 erhobene Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO zulässig. Der angefochtene Bescheid der Beklagten beinhaltet zwei belastende Verwaltungsakte. Zum einen hat die Beklagte in diesem Bescheid erstmals über einen Bedarf der Klägerin an sonderpädagogischer Unterstützung nach Maßgabe der Verordnung zum Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung - VO-SU - vom 22. Januar 2013 (Nds. GVBI. S. 23) entschieden. Zum anderen hat sie eigenständig und erneut eine Entscheidung über den Beschulungsort getroffen. Demgegenüber verweist der Bescheid vom 3. SJuni 2013 weder im Entscheidungsausspruch noch in der Begründung auf den bestandskräftigen Bescheid der Beklagten vom 30. Mai 2011, mit dem bei der Klägerin ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich des Lernens festgestellt und sie an die W.-Schule S. überwiesen worden ist. Die Regelungen im Bescheid vom 3. Juni 2013 sind damit erkennbar an die Stelle derjenigen des Bescheides vom 30. Mai 2011 getreten und bilden deshalb die alleinige Grundlage für eine weitere Beschulung der Klägerin an der W.-Schule S. (vgl. dazu auch Beschlüsse des Gerichts vom 17.07.2013 - 6 B 6172/12 - und 28.07.2010 - 6 B 1677/10 -; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 13. Aufl., § 51 Rn. 22 und 23). Demzufolge gehen von der Zuweisungsverfügung der Beklagten vom 30. Mai 2011 keine Rechtswirkungen mehr aus, zumal das Aufrücken aus dem Primarbereich in den Sekundarbereich I nach Nr. 6 Abs. 2 der Ergänzenden Bestimmungen (EB) zu § 4 VO-SU (RdErl. des MK v. 31. 01.2013 - SVBI. 2013 S. 67) regelmäßig die erneute Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung notwendig macht.

Die Klage ist auch begründet.

Der Bescheid der Beklagten ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben, denn er ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Dies betrifft zunächst die in dem Bescheid getroffene Feststellung eines Bedarfs der Klägerin an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Lernen. Die Beklagte hat diese Feststellung auf die Rechtsgrundlage des § 68 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 des Niedersächsischen Schulgesetzes in seiner bis zum 31. Juli 2012 geltenden Fassung vom 3. März 1998 - NSchG a.F. - (Nds GVBl. S. 137), insoweit zuletzt geändert durch Gesetz vom 9. Dezember 2012 (Nds. GVBl. S. 471), gestützt. Zwar ist § 68 NSchG a.F. in Art. 1 Nr. 13 des Gesetzes zu Einführung der inklusiven Schule (vom 23.3.2012, Nds. GVBl. S. 34) am 1. August 2012 ersatzlos aufgehoben worden. Der Regelungsgehalt des § 68 NSchG a.F. ist aber nach der Übergangsvorschrift des § 183 c Abs. 1 Satz 3 NSchG weiterhin auf die Schülerinnen und Schüler anzuwenden, die von der in § 183 c NSchG vorgeschriebenen jahrgangsweisen Einführung der inklusiven Schule (noch) nicht betroffen sind.

Danach findet § 68 NSchG a.F. grundsätzlich auch auf die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs der Klägerin Anwendung, denn sie befand sich im Zeitpunkt des Wirksamwerdens des angefochtenen Bescheids bereits im 5. Schuljahrgang, für den die inklusive Beschulung gemäß § 183c Abs. 1 NSchG erstmalig im Schuljahr 2013/2014 vorgesehen ist. 68 Abs. 2 NSchG a.F. ermächtigt die Schulbehörde, durch Verwaltungsakt festzustellen, dass bei einer Schülerin oder einem Schüler im Sinne von § 68 Abs. 1 Satz 1 NSchG a.F. ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt. Dies setzt im vorliegenden Fall zunächst voraus, dass die Klägerin im Bereich des Lernens nach pädagogisch-fachlicher Einschätzung der Schulbehörde in ihren Entwicklungs-, Lern- und Bildungsmöglichkeiten im Bereich so eingeschränkt ist, dass sie sonderpädagogische Förderung benötigt und diese nur an einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt (§ 14 Abs. 2 Satz 2 NSchG a.F.) gewährleistet ist.

Eine solche von dem Regelungsgehalt des § 68 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 NSchG a.F. erfasste Feststellung hat die Beklagte im Bescheid vom 3. Juni 2013 aber nicht getroffen. Vielmehr hat sie festgestellt, dass die Klägerin weiterhin einen „Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Lernen“ habe. Diese Feststellung zielt aber im Grundsatz nicht auf den bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung der inklusiven Schule in Niedersachsen verfolgten staatlichen Bildungsauftrag einer sonderpädagogischen Förderung ab. Vielmehr soll die Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung nach Maßgabe der am 1. Februar 2013 in Kraft getretene Verordnung zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung - VO-SU - vom 22. Januar 2013 (Nds. GVBl. S. 23) nach der Zielsetzung des § 60 Abs. 1 Nr. 4 NSchG das Prinzip der inklusiven Schule in Niedersachsen und damit der umfassenden und uneingeschränkten Teilhabe von Kindern mit Behinderungen an den allgemeinen Schulen absichern. Danach werden Schülerinnen und Schüler, die wegen einer bestehenden oder drohenden Behinderung auf sonderpädagogische Unterstützung angewiesen sind, nach § 4 Abs. 1 Satz 2 NSchG im System der inklusiven Schule durch wirksame individuell angepasste Maßnahmen unterstützt, wobei die Leistungsanforderungen von denen der besuchten Schule abweichen können.

Die von der Beklagten getroffene Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung lässt sich auch nicht nach § 47 Abs. 1 VwVfG (i.V.m. § 1 Abs. 1 NVwVfG) in eine rechtmäßige Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs umdeuten.

Dabei kann es die Kammer im vorliegenden Verfahren offen lassen, wie sich das mit dem ersatzlosen Außerkrafttreten der Verordnung zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs (VO-SF) vom 1. November 1997 (Nds. GVBI. S. 458) durch Art. 3 Abs. 2 der Verordnung zum Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung (vom 22.01.2013; Nds. GVBl. S. 23) und den Wegfall der diesbezüglichen Verordnungsermächtigungen in § 60 Abs. 1 Nr. 4 und 5 NSchG a.F. auf die Anwendung des § 69 NSchG a.F. auswirken.

Ob die am 1. Februar 2013 in Kraft getretene Verordnung zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung - VO-SU - angesichts ihrer besonderen Zielsetzung (s. oben) während des Übergangszeitraumes bis zur vollständigen Umsetzung der Inklusion die durch das Außerkrafttreten der VO-SF entstandene Lücke in Bezug auf das aus verfassungsrechtlichen Gründen normativ zu regelnde Verfahren einer gegen den Willen der Erziehungsberechtigten verfügten Förderschulzuweisung (BVerfG, Beschl. vom 08.10.1997 - 1 BvR 9/97 - BVerfGE 96, 288 ff. = NJW 1998 S. 131 ff.) füllen kann, ist in der Rechtsprechung bisher nicht geklärt. Gleiches gilt für die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein nach Maßgabe der VO-SU festgestellter Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Einzelfall auch das Vorliegen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs indiziert oder ob der Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs für die Fälle des § 183c Abs.1 Satz 3 NSchG trotz der unterschiedlichen Zielsetzungen der Begriffe inhaltlich mit dem Begriff Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung gleichgesetzt werden darf.

Wäre dies zu Gunsten der Beklagten anzunehmen, so ist jedenfalls die so (umgedeutete) Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in einem Verfahren getroffen worden, das von mehreren durchgreifenden Rechtsfehlern geprägt ist. Grundlage der Entscheidung der Schulbehörde und damit wesentlicher Teil des Feststellungsverfahrens ist nach § 4 Satz 2 VO-SU das gemäß § 2 VO-SU zu erstellende Fördergutachten. Schon daran fehlt es im Fall der Klägerin. Die Veranlassung eines Fördergutachtens durch die Schulleitung der W.-Schule S. ist in den Verwaltungsvorgängen nicht dokumentiert. Das von der Beklagten im angefochtenen Bescheid als solches zitierte „Fördergutachten“ vom 15. Mai 2013 ist lediglich ein knapp zweiseitiger Entwicklungsbericht, der allein von der die Klägerin an der W.-Schule unterrichtenden Förderschullehrkraft erstellt worden ist. Hingegen bestimmt § 2 Satz 1 VO-SU, dass das Fördergutachten von einer Lehrkraft der Schule und einer Förderschullehrerin/Förderschullehrer der öffentlichen Schule zu erstellen ist.

Der Inhalt des Entwicklungsberichts vom 15. Mai 2013 kann die Anforderungen eines Fördergutachtens nicht erfüllen. Er geht nicht hinreichend erkennbar auf die nach Nr. 3 Abs. 1 der Ergänzenden Bestimmungen (EB) zu § 2 VO-SU (RdErl. des MK v. 31. 01.2013 - SVBI. 2013 S. 67) notwendigen Fragestellungen eines Fördergutachtens ein, sondern bezieht sich auf die „sonderpädagogische Überprüfung vom 24.03.2009“. So fehlt es nicht nur an einer Beschreibung und Bewertung des gegenwärtigen schulischen, familiären und außerschulischen Umfeldes. Unklar ist auch, in welchen Bereichen derzeit noch ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung bestehen soll, zumal von der Förderschule offenbar keinerlei Tests zum gegenwärtigen Stand des Bedarfs einer sonderpädagogischen Unterstützung in den in Rede stehenden Fächern Deutsch und Mathematik durchgeführt worden sind. So soll es nach der dem Entwicklungsbericht beigefügten und als Förderplan bezeichneten Auflistung des Förderstands einen vorrangigen Förderbedarf der Schülerin nur noch im Bereich Sachrechnen (Mathematik) geben. Das Zeugnis vom 26. Juni 2013 weist allerdings im Widerspruch dazu im Fach Mathematik die Note 2 aus. Im Bereich Deutsch soll ein nachrangiger Förderbedarf beim mündlichen Ausdruck, Lesen, schriftlichen Ausdruck, Sprachlehre und der allgemeinen Verwendung von Wort und Schrift gegeben sein. Ausweislich der Zeugnisse vom 20. Juli 2012 und vom 26. Juni 2013 ist die Klägerin aber in der Klasse 4 im Fach Deutsch nach dem Kerncurriculum der Klasse 5 und in der Klasse 5 nach dem Kerncurriculum der Klasse 6 unterrichtet worden. Dies spricht in der Zusammenschau mit der Deutschnote (3) nicht für einen besonderen Förder- oder Unterstützungsbedarf im Fach Deutsch. Insoweit lässt sich den Feststellungen der Förderschule und der Beklagten auch nicht entnehmen, welche Auswirkungen eine mit der vor der Einschulung der Klägerin in die Grundschule beseitigten Schwerhörigkeit des Mädchens einhergehende Störung der Sprachentwicklung vorgelegen hat und ob - falls dies der Fall war - diese jetzt mit zunehmendem Alter und schulischer Förderung des Mädchens überwunden worden ist. Auch die nach dem Förderplan vorgesehenen Maßnahmen der Förderschule sprechen nicht für einen besonderen Unterstützungs- oder Förderbedarf der Klägerin im Bereich des Lernens, sondern erschöpfen sich in allgemeinen Aussagen. So heißt es zum Bereich Lesen, dass Bücher aus der Bücherei ausgeliehen und zu Hause gelesen (vorlesen) werden sollen. Hinsichtlich des Arbeitsverhaltens ist als individuelles Ziel vorgegeben worden: Aufgaben direkt bearbeiten, selbständig anfangen, zügig arbeiten (ohne gleich zu sagen: "Ich kann das nicht“).

Dass die Erziehungsberechtigten der Klägerin von der Fertigung des von der Beklagten als Entscheidungsgrundlage angesehenen und als Fördergutachtens bezeichneten Entwicklungsberichts unverzüglich schriftlich benachrichtigt worden wären (vgl. § 2 Satz 3 VO-SU), lässt sich den Verwaltungsvorgängen ebenfalls nicht entnehmen.

Das Vorliegen eines den sonderpädagogischen Förderbedarf indizierenden Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung lässt sich schließlich auch nicht der Niederschrift der Förderkommission entnehmen. Die darin empfohlenen sonderpädagogischen Unterstützungsmaßnahmen erschöpfen sich mit Ausnahme der Empfehlungen „Kleine Lerngruppe“ und „Intensive Hilfestellung“ in den allgemeinen unterrichtlichen Anforderungen Bestätigung, Ermutigung, klar strukturierte Aufgaben, Stärkung des Selbstbewusstseins eines Unterrichts. Sie sind daher ohne erkennbaren Bezug zu einem sonderpädagogischen Förderbedarf.

Angesichts des Fehlens einer die Pflicht zum Besuch der Förderschule nach § 68 Abs. 1 Satz 1 NSchG a.F. begründenden rechtmäßigen Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs oder eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung ist der Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2013 auch rechtswidrig, soweit die Beklagte darin die weitere Zuweisung der Klägerin zur W.-Schule S. verfügt hat.

Wird dagegen ein fortbestehender sonderpädagogischer Förderbedarf unterstellt und dieser der Praxis der Beklagten entsprechend mit dem Begriff Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung gleichgesetzt, würde sich die Zuweisung der Klägerin an die W.-Schule S. aus den folgenden Gründen als rechtswidrig erweisen:

Nachdem sie das Vorliegen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich des Lernens festgestellt hat, entscheidet die Schulbehörde gemäß § 68 Abs. 2 NSchG a.F. nach Ermessen, ob sie dem Wunsch der Erziehungsberechtigten nach Beschulung ihres Kindes in einer allgemeinen Schule Rechnung trägt, wenn dort die notwendige sonderpädagogische Förderung nach § 68 Abs. 1 Satz 2 NSchG a.F. gewährleistet ist. Ob die notwendige Förderung in einer anderen Schule, insbesondere einer Hauptschule, gewährleistet ist, kann nur bei hinreichend verlässlichen Feststellungen zum Umfang des sonderpädagogische Förder- oder Unterstützungsbedarfs rechtsfehlerfrei entschieden werden. Daran fehlt es hier. Bereits deshalb ist auch die Ermessensentscheidung der Beklagten, die Klägerin weiterhin an der W.-Schule und nicht an einer allgemeinen Schule zu beschulen, rechtswidrig.

Unabhängig davon lässt sich mangels der bei einer gegen den Willen der Eltern verfügten Förderschulzuweisung notwendigen substantiierten Begründung ihrer Maßnahme (BVerfG, Beschl. vom 08.10.1997, a.a.O., NJW 1998 S. 134 [BVerfG 08.10.1997 - 1 BvR 9/97]) nicht erkennen, dass die Beklagte wesentliche Überlegungen bei der von ihr nur nach pädagogisch-fachlichen Erwägungen zu treffenden Ermessensentscheidung über den Beschulungsort angestellt hätte (Zur Bedeutung des Ermessens s. Beschl. der Kammer vom 29.07.2003 - 6 B 2994/03 -, juris).

So hat die Beklagte nicht erkennbar erwogen, ob die Klägerin - einen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung unterstellt - in einer 5. Klasse der Hauptschule in H. beschult werden kann. Der im Zeugnis der W.-Schule vom 26. Juni 2013 ausgewiesene Leistungsstand der Klägerin lässt dies jedenfalls nicht von vornherein als ausgeschlossen erscheinen. Im 5. Jahrgang hat die G. -Schule in H. entsprechend der gesetzlichen Vorgabe des § 183c Abs. 1 Satz 1 NSchG zum Schuljahr 2013/2014 die inklusive Beschulung eingeführt und ist hierfür nach Äußerung ihres Schulleiters in dessen Schreiben vom 21. Juni 2013 an die Erziehungsberechtigten der Klägerin gut aufgestellt. Das erreichte Alter der Klägerin steht einer inklusiven Beschulung im 5. Jahrgang der Hauptschule ebenfalls nicht entgegen. Die Schülerin befand sich bei Erlass der Zuweisungsverfügung zwar schon im 5. Jahrgang des Sekundarbereichs I. Dies beruhte aber allein darauf, dass sie bei Vollzug der Überweisung in die W.-Schule vom 30. Mai 2011 den 3. Jahrgang des Primarbereichs der Förderschule übersprang. Wäre ihr sonderpädagogischer Förderbedarf hingegen an der Grundschule gedeckt worden, wäre ein Aufrücken in den 5. Schuljahrgang erst mit Beginn des Schuljahres 2013/2014 in Betracht gekommen.

Welche Fördermöglichkeiten der Klägerin auf dieser Hauptschule offen stehen, ist aber von der Schulbehörde nicht erkennbar ermittelt worden. Die Beklagte hat auch nicht erkennbar bedacht, dass angesichts der mittlerweile begonnenen schrittweisen Einführung der inklusiven Beschulung eine weite Anwendung des § 68 Abs. 1 Satz 2 NSchG a.F. in Übergangsfällen geboten ist (Waje/Wachtel, Die Verordnung zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung, SVBI. 2013 S. 82 [85]). Dies stellt nicht nur erhöhte Anforderungen an die Abwägung der widerstreitenden Interessen bei der Wahl des Beschulungsortes, sondern auch an die von Amts wegen gebotene Aufklärung des Sachverhalts durch die Schulbehörde. Der angefochtene Bescheid vom 3. Juni 2013 erschöpft sich insoweit in der nicht näher begründeten Behauptung, die Klägerin könne aus organisatorischen, personellen und sachlichen Gegebenheiten nicht ihren Bedürfnissen entsprechend an der Regelschule gefördert werden. Dies genügt angesichts des gesetzgeberischen Zieles der Inklusion und der damit einher gehenden Freigabe des Elternwillens bei der Wahl der inklusiven Schule den in der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 08.10.1997 (a.a.O., NJW 1998 S. 134 f. [BVerfG 08.10.1997 - 1 BvR 9/97]) wiedergegebenen verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Beschulungsentscheidung nach § 68 Abs. 1 NSchG a.F. nicht.

Daran ändert auch die im Klageverfahren hervorgehobene Erwägung der Beklagten, dass sich die Klägerin in der W.-Schule gut eingelebt habe und seit Frühjahr 2011 auch eine positive Tendenz in ihrer Entwicklung aufweise, nichts. Diesem Gesichtspunkt trägt der Gesetzgeber durch die Bestimmung des § 4 Abs. 1 Satz 2 NSchG, wonach die Erziehungsberechtigten die Wahl der inklusiven Schule für ihr Kind treffen, grundsätzlich nicht (mehr) Rechnung.

Die nach teilweiser Klagerücknahme einheitlich zu treffende Kostenentscheidung folgt aus den §§ 155 Abs. 2 und 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Der mit dem Klageantrag zu 2. ursprünglich verfolgte und in der mündlichen Verhandlung zurückgenommene Feststellungsantrag war aus Sicht der Klägerin lediglich als Kehrseite des Anfechtungsantrags (Klageantrag zu 1.) zu verstehen. Es betraf daher nur einen unwesentlichen Teil der Klage und hat im Sinne von § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO keine besonderen Kosten verursacht.