Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 24.01.2001, Az.: L 3 P 33/00
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 24.01.2001
- Aktenzeichen
- L 3 P 33/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 39219
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - AZ: S 91 P 9/00
Tenor:
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 16. Juni 2000 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit ab 1. November 1999 Leistungen der privaten Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III zu zahlen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten aus beiden Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger, der bis zum 31. Oktober 1999 Leistungen der privaten Pflegeversicherung nach Pflegestufe III bezog, begehrt auch für die Zeit ab 1. November 1999 Leistungen nach dieser Pflegestufe.
Bei dem 1939 geborenen Kläger, der bei der Beklagten (privat) pflegeversichert ist, wurde im Jahre 1987 eine Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert. Aufgrund dieser - chronisch verlaufenden - Erkrankung bewilligte die Beklagte dem Kläger seit 1995 Leistungen nach Pflegestufe III. Dabei stützte sie sich zuletzt auf ein Gutachten der Firma H. vom 28. Mai 1998, in dem der Gutachter I. zu dem Ergebnis kam, der Kläger habe im Bereich der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) einen Hilfebedarf von 241 Minuten. Unter dem 25. Juni 1999 erstattete der Gutachter J. der Firma H. ein weiteres Gutachten, in dem er bei dem Kläger im Bereich der Grundpflege einen täglichen Hilfebedarf von 252 Minuten feststellte. Allerdings teilte die Firma H. auf Nachfrage der Beklagten mit Schreiben vom 12. Oktober 1999 mit, "nach zwischenzeitlich erfolgtem regem Schriftverkehr mit dem Gutachter" sei im Bereich der Grundpflege nur ein Hilfebedarf von 171 Minuten, insgesamt ein solcher von 231 Minuten anzuerkennen. Mit Schreiben vom 20. Oktober 1999 teilte die Beklagte dem Kläger daraufhin mit, sie werde ab 1. November 1999 nur noch Leistungen nach der Pflegestufe II zahlen.
Auf Einwände des Klägers hin, dass sich seine Krankheit laufend verschlechtere und dementsprechend sein Hilfebedarf zunehme und nach Vorlage eines Pflegeprotokolls veranlasste die Beklagte die Erstattung eines weiteren Gutachtens der Firma H ... In diesem Gutachten nach ambulanter Untersuchung kam der Arzt K. zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger im Bereich der Grundpflege nur ein Hilfebedarf im Umfang von 204 Minuten bestehe. Die Beklagte teilte dem Kläger demgemäß mit Schreiben vom 28. Januar 2000 mit, dass auch ihre weiteren Ermittlungen zu keinem dem Kläger günstigeren Ergebnis geführt hätten, vielmehr weiterhin nur die Voraussetzungen für die Annahme der Pflegestufe II beständen.
Mit seiner am 25. Februar 2000 vor dem Sozialgericht Oldenburg erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, es sei nicht nachvollziehbar, dass trotz der zunehmenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes der daraus erwachsende Pflegeaufwand geringer geworden sein sollte. Tatsächlich sei sein Pflegebedarf in allen drei Bereichen der Grundpflege deutlich höher, als dies von der Beklagten angenommen worden sei und rechtfertige unverändert die Annahme der Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach Pflegestufe III.
Das Sozialgericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts die Ehefrau des Klägers als Zeugin und den Arzt K. als sachverständigen Zeugen gehört und die Klage sodann mit Gerichtsbescheid vom 16. Juni 2000 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, auch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ließen sich nur die Voraussetzungen für die Annahme der Pflegestufe II feststellen. Der Gutachter L. habe bei seiner Anhörung überzeugend dargetan, dass auch bei Zugrundelegung der Aussagen der Ehefrau des Klägers im Bereich der Grundpflege nur ein gegenüber seiner früheren Beurteilung zusätzlicher Hilfebedarf von 22 Minuten bestehe, insgesamt also ein solcher von 226 Minuten angenommen werden könne. Ein vom Kläger geltend gemachter Hilfebedarf bei der Verabreichung von Medikamenten, der Begleitung beim Spaziergang sowie bei weniger als einmal wöchentlich stattfindenden Arztbesuchen sei ebenso wenig berücksichtigungsfähig wie Hilfe beim Eincremen der Haut nach dem Duschen. Auch Transferleistungen vom Rollstuhl in einen Ruhesessel könnten nicht berücksichtigt werden, weil sie nicht der Wahrnehmung von Verrichtungen des täglichen Lebens dienten.
Gegen den - am 30. Juni 2000 zugestellten - Gerichtsbescheid hat der Kläger am 24. Juli 2000 Berufung eingelegt, zu deren Begründung er weiterhin die Auffassung vertritt, dass er die Voraussetzungen für die Annahme der Pflegestufe III erfülle. Die mit seiner Krankheit verbundenen Einschränkungen erforderten bei der Wahrnehmung fast aller Verrichtungen des täglichen Lebens im Bereich der Grundpflege einen stark erhöhten Hilfebedarf von insgesamt 245 Minuten. Hinzu komme noch ein Hilfebedarf bei der Reinigung der Umgebung des Klägers nach dem Essen sowie für ein tägliches Brausebad der Füße.
Der Kläger beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 16. Juni 2000 aufzuheben;
2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger auch für die Zeit ab 1. November 1999 Leistungen der privaten Pflegeversicherung nach Pflegestufe III zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Der Hilfebedarf des Klägers habe in diesem Bescheid eine angemessene Berücksichtigung gefunden. Ein darüber hinausgehender Hilfebedarf wie zum Beispiel das Eincremen der Haut oder das Fönen der Haare sei nicht anrechenbar. Reinigungsarbeiten nach dem Essen fielen nicht in den Bereich der Grundpflege sondern in jenen der hauswirtschaftlichen Versorgung, Maßnahmen der Behandlungspflege wie etwa das An- und Auskleiden der Kompressionsstrümpfe oder das Hochlegen der Beine wegen Wasseransammlungen oder zur Vermeidung von Ödemen sowie Fußbäder zur Vermeidung von Durchblutungsstörungen gehörten ebenfalls nicht zur Grundpflege.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat von der Pflegefachkraft M. ein Gutachten vom 3. Oktober 2000 eingeholt. Die Verwaltungsvorgänge der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand des Verfahrens gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, des Vorbringens der Beteiligten und der Ergebnisse der Beweisaufnahme wird auf die Prozess- und Beiakten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist begründet.
Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger (auch) ab 1. November 1999 Leistungen nach Pflegestufe III zu zahlen.
Dies folgt aus dem Gutachten der Sachverständigen N., ist aber auch bereits durch die im Verwaltungsverfahren von der Beklagten eingeholten Gutachten nahe gelegt. In dem Gutachten des Neurologen und Psychiaters Prof. Dr. O. vom 3. März 1995 wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Kläger seit 1987 unter einer progredient verlaufenden Multiplen Sklerose leide und dass er deshalb in allen Bereichen der Grundpflege einen umfangreichen Hilfebedarf habe. Es erscheint schon nach diesen Feststellungen nahe liegend, dass dieser Hilfebedarf des Klägers in der Zukunft eher zu- als abnehmen würde.
In dem wenig später erstatteten Gutachten der Gutachterin Dr. P. vom 29. Mai 1995 wurde bei Annahme derselben pflegebegründenden Diagnose insbesondere auf die aus diesem Krankheitsbild folgenden Einschränkungen, insbesondere eine inkomplette Halbseitenlähmung links, eine inkomplette Lähmung der unteren Extremität rechts sowie Blasenfunktionsstörungen hingewiesen und ausgeführt, der Kläger habe bei der Wahrnehmung der im Einzelnen genannten Verrichtungen des täglichen Lebens einen Pflegebedarf von mindestens 5 Stunden täglich, rund um die Uhr, auch nachts. Er erfülle die Voraussetzungen für die Annahme der Pflegestufe III, der Pflegestatus werde sich in der Zukunft nicht ändern.
In einem weiteren Gutachten der Firma H. vom 12. März 1997 betonte der ärztliche Gutachter Q., das Gehen und Stehen sei dem Kläger nur noch mit Gehstützen möglich, er verbringe den größten Teil des Tages im Rollstuhl, könne auch mit der rechten Hand kaum noch eine Tasse halten (Koordinationsstörungen), die Sehstörungen (Doppeltsehen) sowie die Harninkontinenz hätten ebenso zugenommen wie die Gedächtnisleistung abgenommen habe. Unverändert habe der Kläger in allen Bereichen der Grundpflege einen Hilfebedarf von mindestens 5 Stunden, bei der Darm- und Blasenentleerung sowie beim Aufstehen und Zu-Bett-Gehen auch rund um die Uhr, also auch nachts. Es lägen die Voraussetzungen für die Annahme der Pflegestufe III vor.
Auch der Gutachter Dr. R. der Firma H. betonte in seinem Gutachten vom 28. Mai 1998 die Progredienz des Leidens des Klägers, dem er in fast allen Bereichen des täglichen Lebens einen umfangreichen Hilfebedarf, zum Teil rund um die Uhr auch nachts, von insgesamt 241 Minuten im Bereich der Grundpflege bescheinigte. Dabei ging der Gutachter unter anderem davon aus, dass der Kläger beim Waschen einen täglichen Hilfebedarf von 28 und beim Duschen einen solchen von 15 Minuten habe. Auch Dr. R. ordnete den Kläger der Pflegestufe III zu.
Auch der Gutachter J. der Firma H. kam in seinem Gutachten vom 25. Juni 1999 zu dem Ergebnis, dass der Kläger der Pflegestufe III zuzuordnen sei, weil er im Bereich der Grundpflege bei fast allen Verrichtungen des täglichen Lebens einen täglichen Hilfebedarf von 252 Minuten, zum Teil (Richten der Bekleidung, Windelwechsel, Wechseln bzw Entleeren von Auffanggeräten) auch nachts, habe. Den Pflegestatus bezeichnete der Gutachter J. als "gleich bleibend". Allerdings findet sich in der Verwaltungsakte der Beklagten unter dem 23. September 1999 der Vermerk, der Gutachter sei "wegen Nachbesserung" nochmals angeschrieben worden. Tatsächlich teilte der Ärztliche Dienst Beate Hiebel. der Firma H. der Beklagten sodann mit Schreiben vom 12. Oktober 1999 mit, ""nach zwischenzeitlich erfolgtem regem Schriftwechsel mit dem Gutachter" sei mitzuteilen, dass die Zeitansätze in dem Gutachten dahin zu ändern seien, dass unter Berücksichtigung von 20 Minuten für das Duschen und 49 Minuten für die Darm- und Blasenentleerung insgesamt 109 Minuten für den Bereich der Körperpflege als Hilfebedarf zu berücksichtigen seien. Nach Addition von 8 Minuten Hilfebedarf für den Bereich der Ernährung und 54 Minuten Hilfebedarf für den Bereich der Mobilität ergebe sich ein anrechenbarer Zeitbedarf für die Grundpflege von 171 Minuten. Hinzuzuziehen seien 60 Minuten für die hauswirtschaftliche Versorgung. Im Vergleich zu den Vorgutachten sei vor allem der Hilfebedarf bei der Aufnahme der Nahrung "nicht mehr dokumentiert", was angesichts der Funktionsbeschreibung der oberen Extremität ("rechte Hand frei beweglich und nutzbar") durchaus nachvollziehbar erscheine. Diese Begründung der Firma H. erscheint allerdings schon deshalb nicht einleuchtend, weil bereits in dem beanstandeten Gutachten des Gutachters J. vom 25. Juni 1999, in dem der Gutachter die Pflegestufe III angenommen hatte, im Bereich der Ernährung nur ein Hilfebedarf von insgesamt 8 Minuten apostrophiert worden war während in dem ein halbes Jahr später erstatteten Gutachten des Arztes K. vom 28. Dezember 1999 in diesem Bereich ein Hilfebedarf von immerhin 16 Minuten anerkannt wird. Im Übrigen bleibt völlig unklar, aufgrund welcher konkreten Befunde bzw. Zeitansätze das Gutachten J. eine derart gravierende Änderung erfahren hat. Dies wird auch nicht einsichtiger durch das anschließend erstattete Gutachten des Arztes L. vom 28. Dezember 1999. Dieser Gutachter kommt zu dem Ergebnis, dass der Kläger im Bereich der Grundpflege einen Hilfebedarf von 204 Minuten, insgesamt einen solchen von 264 Minuten habe.
Der Senat hat jedoch erhebliche Zweifel an der Verwertbarkeit dieses Gutachtens. Bei seiner Anhörung vor dem Sozialgericht musste der Gutachter K. einräumen, dass er bei seinem Hausbesuch der Frage einer selbständigen Getränkeaufnahme (mit der rechten Hand) keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt habe und aufgrund der Darstellung der Ehefrau des Klägers hier ein zusätzlicher Hilfebedarf von 10 Minuten anzuerkennen sein könnte. Dass der Gutachter K. der Funktionsfähigkeit der rechten oberen Extremität keine besondere Beachtung geschenkt haben könnte, wird auch dadurch nahe gelegt, dass er sich bei seiner Anhörung vor dem Sozialgericht auch nicht mehr daran erinnern konnte, mit dem Kläger die Frage eines - die rechte Hand erfordernden - selbständigen Rasierens und Zähneputzens besprochen zu haben und dass er "vom Krankheitsbild her" hier einen zusätzlichen Hilfebedarf (von 7 bis 12 Minuten) für plausibel hielt und ebenso bei dem - zunächst gänzlich übersehenen -täglichem An- und Auskleiden (zusätzlich 4 bis 5 Minuten). Angesichts der von dem Gutachter eingeräumten Versäumnisse bei der Beurteilung der Leistungseinschränkungen im Bereich der rechten oberen Extremität hält es der Senat nach allem für durchaus denkbar, dass der Gutachter diesen Funktionseinschränkungen auch bei der Wahrnehmung anderer Verrichtungen des täglichen Lebens nicht in angemessener Weise Rechnung getragen hat. Abgesehen davon erscheint nicht nachvollziehbar, warum trotz eines insgesamt unveränderten bzw. eher fortgeschrittenen Krankheitsbildes (das Gutachten K. enthält dazu allerdings keine ausdrückliche Aussage, sondern hält nur für die Zukunft eine "kurzzeitige" Verschlechterung für möglich) bei der Begutachtung durch den Arzt K. ein geringerer Hilfebedarf des Klägers als bei den Vorgutachten erkennbar gewesen sein sollte. Der Gutachter räumt selbst ein, dass der Hilfebedarf gegenüber den Vorgutachten keine tatsächliche Änderung erfahren habe, dass er für bestimmte Bereiche vielmehr nur einen anderen Zeitansatz gewählt habe. Unklar bleibt indessen, wodurch dieser andere Zeitansatz gerechtfertigt sein sollte.
Sprechen nach allem die von der Beklagten bei der Firma H. eingeholten Gutachten bereits eher dafür, dass auch für den Zeitraum ab 1. November 1999 unverändert die Pflegestufe III besteht, so wird dieses Ergebnis zur Überzeugung des Senats jedenfalls durch das von ihm eingeholte Gutachten der Pflegefachkraft M. begründet. Diese Sachverständige, die über eine umfangreiche forensische Erfahrung verfügt, hat in ihrem Gutachten zunächst mit großer Sorgfalt die Funktionsdefizite des Klägers bei der Wahrnehmung der einzelnen Verrichtungen des täglichen Lebens beschrieben (vgl. dazu insbesondere ausführlich unter I 2 des Gutachtens). Ausgehend von diesen pflegerelevanten Befunden hat die Sachverständige nachvollziehbar die Einschränkungen des Klägers bei der Wahrnehmung der einzelnen Verrichtungen des täglichen Lebens dargetan. Auch die von der Sachverständigen für die zeitliche Bewertung des Hilfebedarfs bei der Wahrnehmung der einzelnen Verrichtungen gewählten Zeitansätze, die sich an den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI Buch des Sozialgesetzbuchs vom Juli 1997 richten, sind nachvollziehbar und werden im Übrigen auch von der Beklagten im Wesentlichen nicht beanstandet. Danach beträgt der Hilfebedarf des Klägers im Bereich der Körperpflege 116 Minuten, im Bereich der Ernährung 11 Minuten und im Bereich der Mobilität 116 Minuten, mithin im Bereich der Grundpflege insgesamt 243 Minuten.
Die von der Beklagten gegen das Gutachten vorgetragenen Einwände überzeugen nicht. Zu Recht betont die Beklagte zunächst, dass auch in der privaten Pflegeversicherung die zitierten Begutachtungsrichtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen maßgebend sind. Schon deshalb ist allerdings nicht nachvollziehbar, warum die Beklagte gegen das Gutachten N. einwendet, es sei nicht angängig, neben dem täglichen Hilfebedarf beim Duschen noch einen täglichen Hilfebedarf bei der Ganzkörperwäsche anzuerkennen. Die Begutachtungsrichtlinien betonen demgegenüber ausdrücklich, dass bei der Bemessung der Häufigkeit des Hilfebedarfs von den tatsächlichen individuellen Lebensgewohnheiten des Versicherten auszugehen ist, die dieser nachvollziehbar in seinem Lebensumfeld habe und dass es keine allgemeinen gültigen Standards gebe, wie oft man sich täglich kämme, die Zähne putze etc (vgl. unter D 5 III 2). Wenn die Sachverständige bei der Feststellung des Hilfebedarfs des Klägers bei der Körperreinigung also von dessen Schilderung sowie derjenigen seiner Ehefrau ausgegangen ist, so kann dies nicht beanstandet werden. Dies gilt um so weniger, wenn bedacht wird, dass der Kläger unter Darm- und Blasenentleerungsstörungen mitrezidivierend auftretender Inkontinenz leidet. Dass diese Gesundheitsstörungen mit einem erheblichen Reinigungsbedarf des Körpers verbunden sind, bedarf keiner besonderen Begründung. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Sachverständige nicht, wie die Beklagte offenbar annimmt, den gesamten Zeitaufwand des vom Kläger praktizierten Fußbades in einem Whirlpool, sondern nur jenen Zeitaufwand berechnet hat, der für das normale Waschen der Füße erforderlich ist. Soweit die Beklagte gegen die Berücksichtigung einer Ganzkörperwäsche neben einem Duschbad einwendet, dem stehe die Regelung des § 29 Abs. 1 Satz 2 SGB XI entgegen, wonach Leistungen das Maß des Notwendigen nicht übersteigen dürfen, ist darauf hinzuweisen, dass der Inhalt dessen, was notwendig ist, nicht in dieser Vorschrift vollständig konkretisiert wird, sondern sich aus den anspruchsbegründenden Normen selbst sowie den allgemeinen Zielvorstellungen des SGB XI ergibt, wie sie insbesondere in den §§ 2 ff niedergelegt sind. Die durch die Pflegeversicherung zu gewährenden Hilfen sollen dazu beitragen, dass der Versicherte trotz seines Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbst bestimmtes Leben führen kann, das der Würde des Menschen entspricht (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB XI). Das SGB XI begreift dementsprechend den Versicherten nicht als Leistungsempfänger, der staatlicher Umsorgung anheim gegeben ist, sondern als selbstverantwortliches Individuum. Inhalt und Organisation der Leistungen haben eine humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde zu gewährleisten (§ 11 Abs. 1 Satz 2 SGB XI). Die starke Betonung des Schutzes der individuellen Menschenwürde, der Bewahrung bzw. Wiederherstellung eines selbst bestimmten und nach Möglichkeit nicht "pflegeverwalteten" Lebens des Versicherten in der Solidargemeinschaft gebietet es dementsprechend, das Ausmaß der Hilfebedürftigkeit des einzelnen Versicherten an seiner individuellen Persönlichkeit zu messen (Individualitätsprinzip). Maßstab für die Bestimmung der Hilfebedürftigkeit ist also der Versicherte als Individuum. Dementsprechend können die in Anhang 1 der Begutachtungsrichtlinien niedergelegten Zeitkorridore für die Begutachtung nach dem SGB XI aber auch im Rahmen der privaten Pflegeversicherung nur Anhaltsgrößen im Sinne eines Orientierungsrahmens liefern. Darin erschöpft sich bereits die Tragweite dieser Anhaltspunkte. Das Maß des Notwendigen an Hilfebedarf wird weder durch sie noch durch ein starr vorgegebenes Menschenbild und daraus abgeleiteten Verhaltensmustern bestimmt.
Da die Beklagte im Übrigen gegen das Gutachten N. Einwände nicht erhoben hat und auch aus der Sicht des Senats entsprechende Bedenken nicht bestehen, musste die Berufung des Klägers Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Es hat kein Anlass bestanden, die Revision zuzulassen.