Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 03.04.2014, Az.: S 19 U 103/12

Anerkennung eines Unfalls in der Schultoilette als Arbeits-/Schulunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
03.04.2014
Aktenzeichen
S 19 U 103/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 18075
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOSNAB:2014:0403.S19U103.12.0A

Fundstellen

  • NZS 2014, 595
  • SchuR 2017, 18-20
  • SchuR 2017, 154
  • SchuR 2021, 28

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid des Beklagten vom 13. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2012 wird aufgehoben.

  2. 2.

    Es wird festgestellt, dass der Schüler I. (geb. am J.) am K. einen Schul-/Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung erlitten hat.

  3. 3.

    Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

Der am L. geborene Kläger begehrt die Anerkennung seines Unfalls vom 15. Dezember 2010 als Arbeits-/Schulunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung.

Der Kläger ist Schüler des Gymnasiums M. in M ... Am Unfalltag suchte der Kläger während der Pause gemeinsam mit einem Mitschüler die Toilette auf dem Schulgelände auf, um seine Notdurft zu verrichten. Im Waschraum befanden sich zu diesem Zeitpunkt zwei weitere Schüler. Als der Kläger nach dem Durchqueren des Waschraumes die Tür zum Toilettenbereich passierte, erhielt er von einem dieser weiteren Mitschüler einen Stoß in den Rücken. Der Kläger stürzte daraufhin und schlug mit seinem Oberkiefer gegen den Eckpfosten einer Toilettenkabine. Er erlitt hierbei eine Schädigung des rechten oberen Schneidezahns.

Die Schule zeigte dem Beklagten den Unfall an und gab an, der Kläger sei aufgrund eines versehentlichen Stoßes eines Mitschülers gestürzt. Der Beklagte lehnte gegenüber dem Vater des Klägers als dessen gesetzlichen Vertreters mit Bescheid vom 13. März 2012 die Anerkennung des Unfalls als Schul-/Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, dass der Aufenthalt in den Toilettenräumen zum Verrichten der Notdurft eine private, unversicherte Tätigkeit darstelle.

Der hiergegen erhobene Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 2012).

Hiergegen richtet sich die am 24. Mai 2012 vor dem Sozialgericht Osnabrück erhobene Klage, mit der der Kläger - vertreten durch seinen Vater als gesetzlichen Vertreter - sein Begehren weiter verfolgt.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers trägt vor, das es für den Schüler einer Schule keine andere Möglichkeit gäbe, als während der Schulzeit und im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule die Toilette zu besuchen. Gegen die Rechtsauffassung des Beklagten spräche, dass mit dem Betreten das Haftungsprivileg des § 106 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) aufgehoben würde. Dies wäre ein systemwidriges Verständnis der Haftungssituation.

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    den Bescheid des Beklagten vom 13. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2012 aufzuheben,

  2. 2.

    den Beklagten zu verurteilen, festzustellen, dass der Kläger am K. einen Schul-/Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung erlitten hat.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er weist darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) während des Aufenthalts auf Schultoiletten zwecks Verrichtung einer Notdurft grundsätzlich kein Versicherungsschutz bestünde. Lediglich der Weg zur Toilette und zurück sei gesetzlich unfallversichert. Der Versicherungsschutz auf dem Weg zur Toilette ende jedoch mit dem Betreten der Sanitäranlagen, d.h. mit dem Durchschreiten der zu ihnen führenden Tür. Da sich der Kläger innerhalb der Toilettenräume verletzt habe, sei er nicht gesetzlich unfallversichert gewesen. Zudem habe sich auch kein besonderes Gefahrenmoment verwirklicht, das typisch für die Schule sei, denn der Kläger sei nur aufgrund eines versehentlichen Stoßes eines Mitschülers gestürzt. Die örtlichen Gegebenheiten hätten keine besondere Gefahrquelle dargestellt. Die Toilettenräume seien ausreichend groß gewesen; es hätten sich insgesamt auch nur vier Schüler dort aufgehalten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1 und 3 SGG zulässig, da der Kläger neben der Aufhebung der Bescheide die Feststellung begehrt, seinen Sturz als Arbeitsunfall anzuerkennen. Das insoweit erforderliche Feststellungsinteresse des Klägers ergibt sich aus der Ablehnung von Entschädigungsleistungen durch die Beklagte mit der Begründung, dass kein Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung vorgelegen hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kann der Versicherte in dieser Situation die Grundlagen der in Frage kommenden Leistungsansprüche vorab im Wege einer isolierten Feststellungsklage klären lassen.

Die Feststellungsklage der Kläger ist auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 13. März 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Denn der Kläger hat Anspruch auf Feststellung, dass sein Sturz am K. ein Schul-/Arbeitsunfall war.

Arbeitsunfälle nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3, 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherten Tätigkeiten sind auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.

Nach § 2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII sind Schüler während des Besuchs von allgemein- oder berufsbildenden Schulen und während der Teilnahme an unmittelbar vor oder nach dem Unterricht von der Schule oder im Zusammenwirken mit ihr durchgeführten Betreuungsmaßnahme kraft Gesetzes gegen Arbeitsunfall (Schulunfall) versichert. Dem Versicherungsschutz unterliegen in erster Linie Betätigungen während des Unterrichts, in den dazwischen liegenden Pausen und solche im Rahmen so genannter Schulveranstaltungen. Allerdings ist der Schutzbereich der "Schülerunfallversicherung" enger als der Versicherungsschutz in der gewerblichen Unfallversicherung, weil er auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule beschränkt ist, wie sich sowohl aus dem Wortlaut der Vorschrift als auch ihrer Entstehungsgeschichte ergibt. Außerhalb dieses Verantwortungsbereichs besteht in der Regel kein Versicherungsschutz auch bei Verrichtungen, die wesentlich durch den Schulbesuch bedingt sind und ihm deshalb an sich nach dem Recht der gewerblichen Unfallversicherung zuzuordnen wären.

Im vorliegenden Fall war der Kläger war als Schüler einer allgemeinbildenden Schule im obigen Sinne gegen Arbeitsunfall (Schulunfall) versichert und stand damit während des Aufenthalts in der Schule am K. sowie während der Pause grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Kläger hat während dieser Zeit einen Unfall erlitten, denn er ist aufgrund eines Stoßes seines Mitschülers gestürzt und hat hierbei eine Schädigung des rechten oberen Schneidezahns erlitten.

Entgegen der Ansicht des Beklagten liegt ferner auch ein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Sturz nach Schubsen durch den Mitschüler als unfallbringende Tätigkeit und der versicherten Tätigkeit als Schüler vor, so dass die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Schul-/Arbeitsunfalls gegeben sind.

Ob ein bestimmtes Verhalten der grundsätzlich versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, bestimmt sich nach der Zweckrichtung (Handlungstendenz). Diese muss auf die versicherte Tätigkeit gerichtet sein. Es gibt zahlreiche Verrichtungen des täglichen Lebens, die gleichzeitig sowohl den eigenwirtschaftlichen Interessen des Versicherten als auch den betrieblichen Interessen des Arbeitgebers dienen können. Diese sind grundsätzlich dem persönlichen Lebensbereich des Versicherten und nicht der versicherten Tätigkeit zuzurechnen und stehen daher - solange dies das Gesetz nicht wegen besonderer Erfordernisse des sozialen Schutzes ausdrücklich anordnet - nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, auch wenn sie mittelbar der Erfüllung von Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis dienen.

Der Versicherungsschutz ist daher zu verneinen, wenn sich die betreffende Person zur Unfallzeit rein persönlichen, von der versicherten Tätigkeit nicht mehr beeinflussten Bedürfnissen und Belangen widmet wie Essen, Trinken, Schlafen, dem Verrichten der Notdurft oder einem privaten Spaziergang. Grenze ist dabei nach der Rechtsprechung des BSG stets das Durchschreiten der Tür. Essen und Trinken sind daher grundsätzlich auch während der Arbeit bzw. des Schulbesuchs private, eigenwirtschaftliche Handlungen, so dass kein Versicherungsschutz für Unfälle infolge des Essens oder Trinkens selbst, beispielsweise durch Verschlucken, Verbrennen, Abbrechen eines Zahnes oder Vergiftung, besteht. Ausnahmen sind nur anerkannt, wenn Umstände aus dem versicherten Risikobereich wesentlich zum Unfall beitragen (Urteil des Hessischen LSG vom 13. Oktober 2004, Az.: L 3 U 320/03).

Im vorliegenden Fall hat sich der Unfall in den Toilettenräumen der Schule ereignet; der Kläger hatte die Tür zu den Toiletten auch bereits durchschritten, so dass der Aufenthalt des Klägers in diesen Räumen grundsätzlich nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hat. Jedoch ist der Sturz nicht infolge der Verrichtung der Notdurft, z.B. durch Ausrutschen auf einem nassen Boden, eingetreten, sondern infolge eines Stoßes durch einen Mitschüler. Es hat sich somit kein Risiko verwirklicht, das der eigenwirtschaftlichen Tätigkeit - hier der Verrichtung der Notdurft - innegewohnt hat. Vielmehr hat sich - entgegen der Ansicht des Beklagten - das besondere Gefahrenmoment der Schüler-Unfallversicherung verwirklicht, das sich aus der unzureichenden Beaufsichtigung und dem typischen Gruppenverhalten von Schülern oder Jugendlichen ergibt.

Im Rahmen der Schüler-Unfallversicherung sind als eine weitere Besonderheit die Gefahren zu berücksichtigen, die sich aus unzureichender Beaufsichtigung oder dem typischen Gruppenverhalten von Schülern oder Jugendlichen ergeben (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. u.a. Urteil vom 25. Januar 1977 - Az.: 2 RU 50/76). Gründe hierfür sind das "Übergangsstadium vom Kind zum werdenden Mann", der noch ungebändigte jugendliche Spiel- und Nachahmungstrieb, der natürliche Spieltrieb junger Menschen und das (zwangsweise) Zusammensein vieler Schüler und Jugendlicher. Daher hat es das BSG als typisches Gruppenverhalten gewertet, dass Schüler das Schubsen des Mitschülers dem sachlichen Gespräch vorziehen und ihr Verhalten hierbei in eine Rangelei oder sogar Schlägerei hineingleiten kann, die dann unmittelbar zu auch vom Schädiger nicht von Anfang an beabsichtigten Handlungen und sich hieraus ergebenden Verletzungen führt. Gerade bei Schülern im Pubertätsalter sind Raufereien und Rangeleien Ausfluss typisch gruppendynamischer Verhaltensweisen (Urteil des BSG vom 5. Oktober 1995, Az.: 2 RU 44/94). Eine schematische Altersgrenze, ab der solche gruppendynamischen Prozesse von Schülern und Jugendlichen ausgeschlossen werden müssen, ist abzulehnen (Urteil des BSG vom 7. November 2000, Az.: B 2 U 40/99 R).

Im vorliegenden Fall haben Umstände aus dem versicherten Risikobereich wesentlich zum Unfall beigetragen - und nicht die von dem Kläger beabsichtigte eigenwirtschaftliche Tätigkeit der Verrichtung der Notdurft. Dieses im Rahmen der Schüler-Unfallversicherung versicherte Risiko hat sich nur zufällig in den Räumen der Toilette verwirklicht, so dass sich das besondere Gefahrenmoment der Schüler-Unfallversicherung verwirklicht hat und damit der sachliche Zusammenhang zu bejahen ist.

Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Einwand des Beklagten, es habe nur ein versehentlicher Stoß in den Rücken vorgelegen. Unabhängig davon, ob ein Stoß in den Rücken überhaupt versehentlich erfolgt, hält die Kammer es für lebensfremd, dass eine bloße versehentliche Berührung im Sinne einer unbeabsichtigten Bewegung einen Sturz nach vorne zur Folge hat. Zur Überzeugung der Kammer hat im vorliegenden Fall vielmehr ein Stoß im Rahmen einer typischen Rempelei unter Schülern im Pubertätsalter vorgelegen - auch wenn das Ausmaß der Folgen der Handlung vom Schädiger nicht von Anfang an beabsichtigt gewesen ist. Dass sich zur Zeit des Unfallereignisses in den Toilettenräumen vier Schüler aufgehalten haben, führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Denn die Anzahl der Schüler kann nicht entscheidend für die Frage sein, ob sich das besondere Gefahrenmoment der Schüler-Unfallversicherung verwirklicht hat, zumal eine schematische Grenze, die auch abhängig wäre von der Größe des betreffenden Raumes, nicht zu ziehen wäre. Im Übrigen hat sich der Stoß im vorliegenden Fall direkt nach dem Passieren der Tür zum Toilettenbereich ereignet, somit an einer Stelle, bei der der Kläger wenig Ausweichmöglichkeiten hatte und die gerade für einen Stoß eines Mitschülers im Rahmen einer Rempelei gut geeignet ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Rechtsmittelbelehrung: Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Str. 1, 29223 Celle, oder bei der Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem Sozialgericht Osnabrück, Hakenstraße 15, 49074 Osnabrück, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. Die Berufungsschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben. Auf Antrag kann vom Sozialgericht durch Beschluss die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen werden, wenn der Gegner schriftlich zustimmt. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Osnabrück, Hakenstraße 15, 49074 Osnabrück, schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen. Ist das Urteil im Ausland zuzustellen, so gilt anstelle der obengenannten Monatsfrist eine Frist von drei Monaten. Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war. Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.