Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.08.1993, Az.: 4 L 2716/92
Übergangsgeld; Arbeitstrainingsbereich; Behinderte; Freibetrag; Arbeitseinkommen; Werkstatt
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 11.08.1993
- Aktenzeichen
- 4 L 2716/92
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1993, 13634
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1993:0811.4L2716.92.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Hannover 17.03.1992 - 3 A 1022/91
- nachfolgend
- BVerwG - 19.12.1995 - AZ: BVerwG 5 C 27/93
Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer Hannover - vom 17. März 1992 wird zurückgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Beklagte zu zwei Dritteln und der Kläger zu einem Drittel. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der seelisch behinderte Kläger hielt sich auf Kosten des Beklagten in einem Übergangswohnheim und bis zum 18. September 1989 im Arbeitstrainingsbereich einer Werkstatt für Behinderte in Hannover auf. Die Bundesanstalt für Arbeit gewährte ihm für die Zeit vom 1. bis zum 18. September 1989 Übergangsgeld in Höhe von 723,42 DM. Für die Zeit vom 19. bis zum 30. September 1989 erzielte der Kläger in der Werkstatt für Behinderte Arbeitseinkommen in Höhe von 244,-- DM.
Die im Auftrage des Beklagten handelnde Landeshauptstadt Hannover verlangte vom Kläger mit Bescheid vom 26. November 1990 für September 1989 einen Kostenbeitrag (eine "Eigenleistung") von 643,-- DM. Sie berücksichtigte dabei vom bereinigten Einkommen von 895,-- DM (Übergangsgeld und Arbeitseinkommen nach Absetzung von Fahrtkosten und der Arbeitsmittelpauschale) einen Freibetrag in Höhe von 254,-- DM, und zwar 150,-- DM von dem Übergangsgeld und 104,-- DM von dem Arbeitseinkommen. Der Kläger legte Widerspruch ein und machte geltend, der Freibetrag müsse höher sein; insbesondere sei das Übergangsgeld wie Arbeitseinkommen zu behandeln.
Mit einem weiteren Bescheid vom 26. November 1990 gewährte die Landeshauptstadt Hannover dem Kläger für September 1989 einen Barbetrag (einschließlich Zusatzbarbetrag) in Höhe von rd. 170,-- DM. Der Kläger legte Widerspruch ein und begehrte einen um 3,60 DM höheren Barbetrag.
Mit Bescheiden vom 4. Dezember 1990 regelte die Landeshauptstadt Hannover Kostenbeitrag und Barbetrag für Oktober 1990. Auch dagegen legte der Kläger Widerspruch ein.
Der Beklagte wies die Widersprüche gegen die Bescheide vom 26. November 1990 und die Bescheide vom 4. Dezember 1990 durch Widerspruchsbescheid vom 3. Januar 1991 zurück.
Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 17. März 1992 der Klage stattgegeben, soweit der Beklagte für den Monat September 1989 einen höheren Kostenbeitrag als 629,-- DM gefordert hat, und im übrigen die Klage abgewiesen. Es hat, soweit es der Klage stattgegeben hat, zur Begründung u. a. ausgeführt: Dem Kläger stehe für September 1989 ein um (aufgerundet) 12,-- DM höherer als der von der Landeshauptstadt Hannover berücksichtigte Freibetrag zu, da das Übergangsgeld, das er während der Tätigkeit im Arbeitstrainingsbereich der Werkstatt für Behinderte erhalten habe, nicht wie sonstiges Einkommen (z.B. eine Rente), sondern nach Sinn und Zweck der Freibetragsregelung wie Arbeitseinkommen zu behandeln sei. Denn die günstigere Freibetragsregelung solle dem Behinderten Anreiz und Ansporn bieten, sich in den Arbeitstrainingsbereich zu begeben, um fähig zu werden, anschließend an Arbeitsprogrammen der Werkstatt teilnehmen zu können.
Gegen dieses Urteil haben der Beklagte und der Kläger Berufung - ingelegt. Der Kläger hat seine Berufung zurückgenommen.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist nicht begründet.
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, daß das Übergangsgeld, das der Kläger während der Tätigkeit im Arbeitstrainingsbereich der Werkstatt für Behinderte erhalten hat, bei der Ermittlung des Freibetrages wie Arbeitseinkommen zu behandeln ist. Der Senat hat in dem Urteil vom 26. August 1992 (4 L 1911/91), das rechtskräftig geworden ist, nachdem der Beklagte die Revision (BVerwG 5 C 4.93) zurückgenommen hat, ausgeführt:
Wie die Beteiligten nicht verkannt haben, muß der Kläger zu den Kosten der Hilfe beitragen, soweit ihm die Aufbringung der Mittel zuzumuten ist (§ 43 Abs. 1 Satz 1 BSHG). Der Umfang der Heranziehung bestimmt sich nach den §§ 84, 85 Nr. 3 Satz 2 BSHG. Der Senat hat in seiner Rechtsprechung (u.a. Urt. v. 14. Mai 1986 - FEVS 37, 27 und Beschl. v. 17. Aug. 1990 - 4 O 20/90 -) die §§ 84, 85 BSHG ausgelegt und seine Auffassung in dem den Beteiligten bekannten Urteil vom 13. November 1991 (4 L 1977/91) zusammenfassend dargestellt. Er hat bisher noch nicht entschieden, wie der Kostenbeitrag des § 43 Abs. 1 BSHG zu bemessen ist, wenn der Hilfeempfänger von dem Arbeitsamt Übergangsgeld erhält, während er im Arbeitstrainingsbereich einer Werkstatt für Behinderte tätig ist. Zu dieser Frage hat der Senat auch nicht in seinem eben genannten Urteil Stellung genommen; soweit er dort "sonstiges Einkommen" und Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit in engem Zusammenhang erwähnt hat, hat er die Auffassung der Klägerin in jenem Verfahren referiert. In seinem Beschluß vom 17. September 1991 (4 O 1816/91) hat der Senat ausgeführt: Zu Recht habe der Kläger (in jenem Verfahren) darauf hingewiesen, die vom Senat gefundene Auslegung des § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG, wonach auch derjenige, der Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit beziehe, erwerbstätig im Sinne von § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG sein könne, deute darauf hin, daß ein Hilfeempfänger, der Übergangsgeld beziehe und im Arbeitstrainingsbereich tätig sei, wie ein Hilfeempfänger behandelt werden müsse, der Arbeitseinkommen erziele. Die Anreizfunktion des Mehrbedarfszuschlages (§ 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG) könne es verlangen, die Bezieher von bestimmten Sozialleistungen den Hilfeempfängern gleichzustellen, die Einkommen aus (sonstiger) Arbeit erzielten. In diesem Sinne äußert sich auch der Landeswohlfahrtsverband Hessen in seinem Rundschreiben vom 1. August 1990 (Rundschreiben 20 Nr. 7/1990); es meint, zum Arbeitseinkommen gehöre "jede finanzielle Zuwendung, die aus einem Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnis gewährt wird, ohne daß es auf den arbeitsrechtlichen Charakter des Beschäftigungsverhältnisses ankomme"; hierzu zählten "insbesondere Entgelte auf arbeitsrechtlicher Grundlage wie Lohn, Ausbildungsvergütung und Entgelte im Rahmen eines Betreuungsverhältnisses" sowie "alle Entgelte, die Lohnersatzfunktion" hätten, "wie Kranken-, Übergangs-, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe sowie Zahlungen öffentlicher Leistungsträger im Rahmen von berufsfördernden Maßnahmen, soweit sie dem Unterhalt dienen."
Der Senat hält die Auffassung des Klägers für zutreffend. In dem Urteil vom 14. Mai 1986 (aaO) hat der Senat gesagt, angemessen im Sinne von § 85 Nr. 3 Satz 2 BSHG (und damit auch im Sinne von § 84 Abs. 1 BSHG) sei die Heranziehung bei Hilfeempfängern, die Arbeitseinkommen und/oder Einkommen aus sonstigen Quellen (z.B. Renten) erzielten, dann, wenn zwei Gesichtspunkte beachtet würden. Einmal müsse dem Hilfeempfänger ein Anreiz bleiben, zu arbeiten und hierdurch Einkommen zu haben; zum anderen solle den Hilfeempfängern in Heimen dieser Art (Übergangsheimen) ein Geldbetrag zum selbständigen Wirtschaften zur Verfügung stehen, damit das vornehmste Ziel der Hilfe erreicht werden könne, nämlich den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern (§ 39 Abs. 3 Satz 1 BSHG).
Eben diese "Anreizfunktion" hat den Senat bewogen, § 23 Abs. 4 Nr. 1 BSHG dahin auszulegen, daß auch derjenige erwerbstätig ist, der "Lohnersatzleistungen erhält" (Urt. v. 26. Juni 1991 - 4 L 231/89 -). Der Senat hat dort dargelegt, es entspreche den Strukturprinzipien des Bundessozialhilfegesetzes, den Begriff der Erwerbstätigkeit in einem weiten Sinn zu verstehen. Die vom Senat gefundene Auslegung berücksichtige nämlich den Grundsatz der Selbsthilfe, zu der der Hilfeempfänger angespornt werden solle, und eine Ausbildung münde regelmäßig in eine Berufstätigkeit (dieses sei jedenfalls mit der Ausbildung beabsichtigt), aus deren Erträgnissen der Hilfeempfänger später seinen Lebensunterhalt bestreiten könne. Diese Überlegungen gelten auch für den, der sich im Arbeitstrainingsbereich einer Werkstatt für Behinderte aufhält und Übergangsgeld bezieht. Diese Leistung sieht § 56 Abs. 3 Nr. 1 AFG vor (sie dient dem Unterhalt), und § 56 Abs. 1 AFG beschreibt, daß die Bundesanstalt als berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation die Leistungen gewährt, die erforderlich sind, um die Erwerbstätigkeit der körperlich, geistig oder seelisch Behinderten entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu bessern, herzustellen oder wiederherzustellen und die Behinderten möglichst auf Dauer beruflich einzugliedern. Demnach ist es Aufgabe der Werkstatt für Behinderte (§ 4 der Werkstättenverordnung), den Behinderten im Arbeitstrainingsbereich so zu fördern, daß er nach der Teilnahme an dieser Maßnahme in der Lage ist, ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung im Sinne des § 54 Abs. 3 SchwbG zu erbringen. Tätigkeit im Arbeitstrainingsbereich und Arbeitsbereich in einer Werkstatt für Behinderte stehen also in demselben Verhältnis zueinander wie Ausbildung ("Lehrlingsausbildung", vgl. BVerwGE 39, 314 = FEVS 19, 281) und Erwerbstätigkeit (im engeren Sinne) nach der Ausbildung.
Daran hält der Senat fest. Bei der Berechnung des vom Kläger für September 1989 zu leistenden Kostenbeitrags ist daher - wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat - ein Freibetrag von aufgerundet 266,-- DM (die Hälfte des bereinigten Arbeitseinkommens bis 200,-- DM, ein Drittel des Arbeitseinkommens zwischen 200,-- DM und 400,-- DM und ein Fünftel des 400,-- DM übersteigenden Arbeitseinkommens) zu berücksichtigen. Der Beklagte kann somit für September 1989 nur einen Kostenbeitrag von 629,-- DM (895,-- DM ./. 266,-- DM) verlangen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 154 Abs. 2, 155 Abs. 2, 188 Satz 2, 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10 ZPO.
Der Senat läßt nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Revision zu, weil es von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung ist, ob bei der Anwendung der §§ 84, 85 BSHG auch das Übergangsgeld als Arbeitseinkommen anzusehen ist.
Klay
Zeisler
Claus