Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 12.05.2004, Az.: 2 A 2053/00

Eingliederungshilfe; Einrichtung; Heimentgelt; Pflegesatzvereinbarung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
12.05.2004
Aktenzeichen
2 A 2053/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50622
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

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Die 1938 geborene Klägerin ist seelisch wesentlich behindert und auf eine stationäre Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung angewiesen. Sie wird seit dem 06.08.1958 im Langzeitbereich der Klinikum F. betreut. Der Beklagte gewährt ihr Eingliederungshilfe, wobei die Abrechnung und Zahlung unmittelbar gegenüber der Klinikum F. erfolgt. Diese stellte bei den vierteljährlichen Abrechnungen folgende Tagespflegesätze in Rechnung: 253,64 DM für 1995, 263,61 DM für 1996 bis 1999, 255,74 DM ab 01.01.2000. Demgegenüber gewährte der Beklagte lediglich Abschlagspflegesätze in Höhe von pflegesatztäglich 178,40 DM für die Zeit vom 01.01.1995 bis zum 29.02.1996, 190,90 DM für die Zeit vom 01.03.1996 bis zum 27.11.1997, 192,81 DM für die Zeit vom 28.11.1997 bis zum 31.12.1997 und 194,72 DM seit dem 01.01.1998.

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Am 03.09.1999 forderte die Klägerin den Beklagten durch ihren Prozessbevollmächtigten auf, die aufgelaufenen Rückstände auszugleichen und bezog sich auf ein Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.10.1994 – 5 C 28.91 – sowie auf Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 29.01.1999 – 6 A 8.95 – und des Verwaltungsgerichts Münster vom 19.04.1999 – 5 K 1549/95 -. Der Beklagte reagierte auf dieses Schreiben nicht.

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Die Klägerin hat am 14.03.2000 (Untätigkeits-)Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen vorträgt: Es liege ein sog. „anderer Fall“ im Sinne von § 93 Abs. 2 S. 1 2. Halbsatz BSHG vor; der Klägerin sei vom Beklagten eine andere Unterbringungsmöglichkeit nicht angeboten worden; mithin sei das vereinbarte Pflegeentgelt zu übernehmen.

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Die Klägerin beantragt,

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den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin Sozialhilfe durch Übernahme des vollen, von ihr mit der Klinikum F. vereinbarten Heimentgelts in Höhe von pflegesatztäglich

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EUR 129,68 (entspricht DM 253,64) für das Jahr 1995,

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EUR 134,78 (entspricht DM 263,61) vom 01.01.1996 bis zum 31.12.1999,

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EUR 130,76 (entspricht DM 255,74 für die Zeit ab 01.01.2000;

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DM 41,07 Grundpauschale, DM 168,22 Maßnahmepauschale, DM 46,45 Investitionskosten)

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abzüglich gezahlter Abschläge zu gewähren.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er ist der Auffassung, die Klägerin könne sich nicht auf § 3 Abs. 2 Satz 2 BSHG berufen, da die einzelfallbezogene Übernahme der Aufwendungen der - hier nicht gegebene - Ausnahmefall sei. Für die Zeit nach dem 01.01.1999 könne ein sog. „anderer Fall“ wegen der Änderung der gesetzlichen Bestimmungen nicht mehr vorliegen, so dass die bis dahin festgesetzten bzw. vereinbarten Zahlungsverpflichtungen in eben dieser Höhe weiter Geltung beanspruchen könnten. Schließlich habe der Einrichtungsträger es auch abgelehnt, eine vorläufige Pflegesatzvereinbarung mit dem Nds. Landesamt zu unterzeichnen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze und auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Die Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht entscheidet diese Streitsache im Einverständnis der Beteiligten gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.

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Die Klage ist als Untätigkeitsklage gem. § 75 VwGO zulässig und begründet. Die Klägerin hat für die streitbefangene Zeiträume einen Anspruch gegen den Beklagten auf Übernahme der ihr von der Klinikum F. in Rechnung gestellten Heimkosten.

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Das Gericht hat keine Zweifel daran, dass die Klägerin der Klinikum F. die von dieser Einrichtung dem Beklagten in dem streitbefangenen Zeitraum in Rechnung gestellten Beträge tatsächlich schuldet. Es ist gerichtsbekannt, dass diese Beträge den Sätzen entsprechen, die auch andere Heimbewohnern zu zahlen hatten. Anhaltspunkte dafür, dass mit der Klägerin eine von den üblichen Gepflogenheiten abweichende Vereinbarung besteht, hat das Gericht nicht. Als seelisch wesentlich Behinderte hat die Klägerin dem Grunde nach Anspruch auf Eingliederungshilfe gegen den örtlich zuständigen Beklagten, der in der Sache im eigenen Namen, jedoch im Auftrag des Nds. Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben (vgl. § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG) tätig wird.

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Der Übernahme der vollen Heimkosten steht nicht der Umstand entgegen, dass die Klinikum F. und die zuständige Pflegesatzbehörde im Grundsatz bereit sind, eine Pflegesatzvereinbarung im Sinne von § 93 Abs. 2 BSHG abzuschließen. Diese Vorschrift lautete vor dem 01.01.1999: Der Träger der Sozialhilfe ist zur Übernahme von Aufwendungen für die Hilfe in einer Einrichtung nur verpflichtet, wenn mit dem Träger der Einrichtung oder seinem Verband eine Vereinbarung über Inhalt, Umfang und Qualität der Leistungen sowie über die dafür zu entrichtenden Entgelte besteht; in anderen Fällen soll er die Aufwendungen übernehmen, wenn dies nach der Besonderheit des Einzelfalles geboten ist. Die Entgelte müssen leistungsgerecht sein und einer Einrichtung bei sparsamer und wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, eine bedarfsgerechte Hilfe zu leisten. Die Vereinbarungen und die Übernahme der Aufwendungen müssen den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit entsprechen. Eine Vereinbarung im Sinne von § 93 Abs. 2 S. 1 BSHG ist hier bisher nicht abgeschlossen worden; mithin handelt es sich um einen anderen Fall im Sinne der 2. Alternative von Abs. 2 S. 1 der Vorschrift. Daran ändert nichts, dass noch Verwaltungs- bzw. Gerichtsverfahren insoweit anhängig sind (ebenso OVG Lüneburg, Urteil vom 23.10.1996 – 4 L 959/95 -; Urteil der Kammer vom 14.11.2001 – 2 A 2209/99 -). Die Übernahme der vollen Aufwendungen ist auch nach der Besonderheit des Einzelfalles geboten, denn der Beklagte hat der Klägerin weder eine konkrete, zur Behebung ihrer Notlage ebenfalls geeignete anderweitige Hilfemöglichkeit nachgewiesen, noch wäre der Klägerin, die seit fast 45 Jahren in dieser Einrichtung lebt, die Wahrnehmung einer solchen Möglichkeit auch zuzumuten gewesen (vgl. zu diesen Anforderungen BVerwG, Urteil vom 20.10.1994, a.a.O.). Dass die Übernahme der Aufwendungen den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit nicht entspricht, hat der Beklagte weder behauptet noch dargetan (vgl. dazu auch OVG Lüneburg, Urteil vom 15.11.2000 – 7 L 3691/95 – Gewerbearchiv 2001, S. 252).

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Für den Zeitraum ab 01.01.1999 gilt im Ergebnis nichts anderes. Nunmehr lautet § 93 Abs. 2 BSHG: Wird die Leistung von einer Einrichtung erbracht, ist der Träger der Sozialhilfe zur Übernahme der Vergütung für die Leistung nur verpflichtet, wenn mit dem Träger der Einrichtung oder seinem Verband eine Vereinbarung über Inhalt, Umfang und Qualität der Leistungen (Leistungsvereinbarung), die Vergütung, die sich aus Pauschalen und Beträgen für einzelne Leistungsberechtigte zusammensetzt (Vergütungsvereinbarung) und die Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen (Prüfungsvereinbarung) besteht.

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Die Vereinbarungen müssen den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit entsprechen. In § 93 Abs. 3 des Gesetzes ist nunmehr geregelt: Ist eine der in Abs. 2 genannten Vereinbarungen nicht abgeschlossen, kann der Träger der Sozialhilfe Hilfe durch diese Einrichtung nur gewähren, wenn dies nach der Besonderheit des Einzelfalles geboten ist. Hierzu hat der Träger der Einrichtung ein Leistungsangebot vorzulegen, das die Voraussetzungen des § 93 a Abs. 1 des Gesetzes erfüllt, und sich schriftlich zu verpflichten, Leistungen entsprechend diesem Angebot zu erbringen. Vergütungen dürfen nur bis zu der Höhe übernommen werden, wie sie der Sozialhilfeträger am Ort der Unterbringung oder in seiner nächsten Umgebung für vergleichbare Leistungen nach den nach Abs. 2 abgeschlossenen Vereinbarungen mit anderen Einrichtungen trägt. Für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen gelten die Vereinbarungsinhalte des Sozialhilfeträgers mit vergleichbaren Einrichtungen entsprechend. Der Sozialhilfeträger hat die Einrichtung über Inhalt und Umfang dieser Prüfung zu unterrichten.

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Das in der Vorschrift dem Sozialhilfeträger eröffnete Ermessen ist hier auf Null reduziert. Da – wie bereits ausgeführt wurde – der Klägerin keine andere Hilfe angeboten wird und ihre Heimunterbringung zweifelsfrei notwendig ist, ist die Hilfe auch gerade durch ihre Betreuung in den F. Anstalten geboten. Ein den gesetzlichen Anforderungen genügendes Leistungsangebot hat die Einrichtung vorgelegt. Es kann deshalb dahinstehen, ob die Neufassung des Gesetzes auf Altfälle (mangels einer Übergangsregelung) überhaupt anwendbar ist (vgl. VG Stade, Urteil vom 06.11.2000 – 1 A 583/99 -) und ob die Vorschrift nicht weitgehend leer läuft, wenn es (nur noch) um die Übernahme ihrer „privatrechtlichen“ Aufwendungen geht (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 24.07.2001 – 8 K 924/00 -). Jedenfalls muss sich weder der Hilfesuchende noch das Heim auch nach der Neufassung des Gesetzes mit einem bloßen Heimkostenzuschuss zufrieden geben, da es sich dabei nicht um die vom Hilfesuchenden benötigte Sozialhilfeleistung handelt (vgl. VG Freiburg, a.a.O.).

22

Keine Rolle spielt der Umstand, dass der Heimträger mit dem Nds. Landesamt keine vorläufige Pflegesatzvereinbarung abgeschlossen hat. Denn vorliegend geht es ausschließlich um die sozialhilferechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen der Klägerin und dem Sozialhilfeträger.

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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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Die Berufung gegen dieses Urteil wird gem. §§ 124a Abs. 1 i.V.m. 124 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO zugelassen.