Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 14.07.1999, Az.: 2 U 121/99
Ansprüche aus einer Unfallversicherung; Begriff des Unfallereignisses; Umfang der Beweislast des Anspruchstellers ; Beweislast für die Freiwilligkeit des Unfallereignisses; Anforderungen an einen Indizienbeweis; Hinreichende Anknüpfungstatsachen für die Einholung eines Gutachtens über die Blutalkoholkonzentration; Nachweis eines Selbstmordsversuchs; Versicherungsrechtliche Begriff der Bewusstseinsstörung
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 14.07.1999
- Aktenzeichen
- 2 U 121/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 29402
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1999:0714.2U121.99.0A
Rechtsgrundlagen
- § 1 AUB 94
- § 180a VVG
- § 2 Abs.1 AUB 94
Fundstellen
- MDR 1999, 1507 (Volltext mit amtl. LS)
- NVersZ 2000, 86-87
- OLGReport Gerichtsort 1999, 303-304
- VersR 2000, 1231 (amtl. Leitsatz)
Amtlicher Leitsatz
Unfallversicherung: Freiwilligkeit des Versicherungsfalls, Maßstäbe für die Beweislast des Versicherers; Ausschluss "Bewusstseinsstörung", Blutalkohol 2,0 g o/oo, Versicherter in hilfloser Lage aufgefunden.
Gründe
Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Kläger habe ein Unfallereignis, das einen Versicherungsfall im Sinn von § 1 AUB 94 darstelle, nicht nachzuweisen vermocht, weil nicht von vornherein auszuschließen sei, dass die schweren Kopfverletzungen, mit denen er am 20.02.1998 in hilfloser Lage direkt neben dem Gleiskörper der Deutschen Bahn AG in O aufgefunden worden ist, durch einen Suizidversuch verursacht worden seien. Dem liegt eine Verkennung der Beweislast zu Grunde. Das Landgericht hat die Regelung des § 180 a VVGübersehen. Der Anspruchsteller muss nur beweisen, dass ein Unfallereignis stattgefunden hat, d. h. ein Ereignis, das plötzlich von außen auf den menschlichen Körper eingewirkt hat. Das ist hier unstreitig. Demgegenüber ist der Versicherer nach § 180 a VVG für die Freiwilligkeit voll beweispflichtig. Dieser Beweis ist insbesondere nicht durch Anscheinsbeweis zu erbringen; denn es gibt keinen typischen Geschehensablauf für menschlich gesteuerte Verhaltensweisen. Die Motive für einen Willensentschluss, etwa Selbstmord zu begehen, und dafür, diesen Entschluss dann auch auszuführen, sind individuell so unterschiedlich und so vielgestaltig, dass sie sich einer generalisierenden Betrachtungsweise entziehen (vgl. Prölss/Martin, VVG, 26. Aufl., § 180 a RdNr. 10 m.w.N.). Dadurch wird aber die Möglichkeit eines Indizienbeweises nicht ausgeschlossen. Dabei ist nur ein solches Maß an Gewissheit gefordert, dass "restlichen Zweifeln Schweigen gebietet" (Prölss/Martin a.a.O.).
Eine solche Gewissheit vermag der Senat sich vorliegend nicht zu verschaffen. Die Umstände, unter denen es zu den Verletzungen des Klägers gekommen ist, liegen völlig im Dunkeln. Auch die umfangreiche Ermittlungsarbeit der Polizei hat keine Klarheit zu erbringen vermocht. Das gilt insbesondere auch für das Gutachten des Sachverständigen vom Institut für Rechtsmedizin, wonach das "Verletzungsmuster" mehrere Deutungen zulässt.
Danach hat die Beklagte die Freiwilligkeit der durch ein unstreitig vorliegendes Unfallereignis erlitten Gesundheitsbeschädigung des Klägers nicht bewiesen. Sie sieht das im zweiten Rechtszug ausweislich ihrer Berufungserwiderung nicht anders und leitet ihre Leistungsfreiheit darum folgerichtig auch nur noch daraus her, dass der - von ihr zu beweisende - Ausschlusstatbestand des § 2 I (1) AUB 94 (Bewusstseinsstörung) vorliegen soll. Dem ist nicht zu folgen:
Der Blutalkoholgehalt des Klägers zur Zeit des Vorfalls steht nicht fest, und der Vortrag der Beklagten war und ist insoweit in beiden Instanzen unsubstantiiert. Im ersten Rechtszug hat sie insoweit eine bestimmte Trinkmenge behauptet und sodann durch Sachverständigengutachten ihre daraus abgeleiteten Behauptung unter Beweis gestellt, dass "der Alkoholwert des Klägers bei Eintritt der streitrelevanten Verletzungen mehr als 2 g o/oo betragen" habe. Im zweiten Rechtszug heißt es etwas anders, die vom Kläger konsumierten Alkoholmengen führten "zu der Erkenntnis, dass der Kläger zu jedem Zeitpunkt zwischen etwa 23.00 Uhr und seinem Auffinden um 07.57 Uhr am 20.02.1998 einen Blutalkoholgehalt von nicht weniger als 2,0 g o/oo gehabt" habe.
Damit sind keine hinreichenden Anknüpfungstatsachen für die Einholung eines Gutachtens vorgetragen. Der Senat hätte dem Sachverständigen gemäß § 404 a Abs. 3 ZPO die für seine Beurteilung maßgeblichen Tatsachen vorzugeben. Dazu gehört bei einer Blutalkoholbestimmung auch der Zeitpunkt, auf den der Sachverständige bei seiner Berechnung abstellen soll. Dieser steht indessen weder fest, noch ist dafür etwas dargetan.
Aber selbst wenn zu Gunsten der Beklagten unterstellt wird, dass der Blutalkoholgehalt des Klägers - zur Vorfallszeit "mehr als 2 g o/oo" oder "nicht weniger als 2,0 g o/oo" betragen hat, kann noch nicht davon ausgegangen werden, dass eine Bewusstseinsstörung den Unfall verursacht hat: Der versicherungsrechtliche Begriff der Bewusstseinsstörung setzt kein völliges Versagen der Sinnestätigkeit voraus. Es genügt eine Störung der Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit, die so stark ist, dass der Versicherte der Gefahrenlage, in der er sich befindet, nicht gewachsen ist (BGH VersR 1982, 463, 464; Prölss/Martin § 2 AUB 88 RdNr. 4; Grimm, Unfallversicherung, 2. Aufl., § 2 RdNr. 22). Welche Anforderungen an die Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit zu stellen sind, hängt aber von der Lebenssituation ab, in der sich der Versicherte befunden hat. Sie sind etwa bei einem Kraftfahrer im Straßenverkehr besonders hoch, geringer sind sie dagegen bei einem Fußgänger oder einem Beifahrer. Regelmäßig wird in den zuletzt genannten Fällen eine Bewusstseinsstörung erst bei einer Blutalkoholkonzentration von 2 g o/oo oder mehr angenommen (BGH r + s 1992, 287; Senat r + s 1996, 509; OLG Hamm r + s 1997, 42). Bei Unfällen, die sich außerhalb der Teilnahme am Straßenverkehr ereignen, gibt es keine festen Grenzwerte; es ist vielmehr nach einer fallbezogenen Betrachtungsweise zu entscheiden, ob die Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit des Versicherten so herabgemindert war, dass er der jeweiligen Gefahrenlage nicht mehr gewachsen war (BGH VersR 1982, 463, 464).
Vorliegend steht nicht einmal fest, ob sich der Unfall bei Teilnahme am Straßenverkehr oder außerhalb desselben ereignet hat und welche Situation der Kläger zu meistern hatte; selbst eine Verletzung durch Dritte ist nicht ausgeschlossen. Unter diesen Umständen fehlen jegliche Anhaltspunkte, an die eine fallbezogene Betrachtungsweise anknüpfen könnte. - Diese Ungewissheit geht zu Lasten der beweispflichtigen Beklagten.