Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 08.02.2012, Az.: 9 K 50/09

Kindergeld für einen in Deutschland lebenden polnischen Staatsangehörigen für sein bei der von ihm getrennt lebenden Kindesmutter in Polen lebendes Kind

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
08.02.2012
Aktenzeichen
9 K 50/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 13381
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2012:0208.9K50.09.0A

Fundstelle

  • EFG 2012, 1368-1369

Amtlicher Leitsatz

Hat die Kindesmutter in Polen keinen Anspruch auf Kindergeld (im Streitfall mangels Unterhaltstitel gegenüber dem Kläger), kommt weder eine Anrechnung fiktiven polnischen Kindergelds noch eine hälftige Kürzung des inländischen Kindergeldanspruchs in Betracht.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob die beklagte Familienkasse für das bei der (vom Kläger getrennt lebenden) Kindesmutter in Polen lebende Kind J ab September 2008 Kindergeld nur in Höhe des hälftigen deutschen Kindergeldes festsetzen durfte.

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Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Nach Aktenlage ist er seit dem 3. November 1998 in Deutschland angemeldet und unterliegt der deutschen Sozialversicherung (vgl. Beschluss des Marschallamtes der westpommerischen Woiwodschaft vom 16. März 2010). Er war zunächst in Deutschland sozialversicherungspflichtig als Arbeitnehmer beschäftigt. Im streitbefangenen Zeitraum ab September 2008 erhielt er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 19 SGB II (Arbeitslosengeld II). Die Tochter des Klägers, J, geboren am 23. Januar 2002, lebt bei der vom Kläger getrennt lebenden Kindesmutter (Frau D G-L) in Polen. Nach Aktenlage ist die Kindesmutter seit dem 1. Januar 2009 arbeitslos. Der Kläger und die Kindesmutter sind nicht verheiratet. Der Kläger zahlt freiwillig Kindesunterhalt. Wegen eines fehlenden Unterhaltstitels erhält die Kindesmutter, die von der zuständigen polnischen Behörde für Familienleistungen als unverheiratete, alleinerziehende Person angesehen wird, in Polen keine dem deutschen Kindergeld vergleichbare Familienleistungen.

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Mit dem streitbefangenen Bescheid vom 18. August 2008 änderte die Beklagte die zuvor bestehende Kindergeldfestsetzung gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und setzte ab September 2008 das monatliche Kindergeld auf 77 € herab. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass die nationalen Ansprüche zweier Staaten (Deutschland und Polen) aufeinandertreffen. Der hiergegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg. Nach Auffassung der Beklagten stehe dem Kläger bzw. der getrennt lebenden Kindesmutter neben dem deutschen Kindergeld für die gemeinsame Tochter J auch noch Kindergeld in einem weiteren Mitgliedsstaat der EU, Polen, zu. Bei zwei Familienleistungen, die sich nach nationalen Rechtsvorschriften gegenseitig ausschließen würden, sei nach Art. 7 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EWG) 574/72 zwar das deutsche Kindergeld zu zahlen, jedoch nur noch zur Hälfte.

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Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage. Zur Begründung trägt der Kläger im Wesentlichen Folgendes vor: Es sei unrichtig, dass für sein Kind J in Polen ein Anspruch auf Kindergeld bestehe. Mit Bescheid vom 20. Januar 2006 habe die zur Bewilligung von Familienleistungen zuständige polnische Behörde den Antrag der Kindesmutter auf eine mit dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistung abgelehnt. Danach bestehe kein Anspruch auf Kindergeld, wenn die Person, die alleine ein Kind betreue, keinen gerichtlich festgestellten Unterhaltsanspruch, also keinen Unterhaltstitel, gegen den anderen Elternteil habe. Da die Kindesmutter keinen Unterhaltstitel vorlegen habe können, weil der Kläger freiwillig Unterhalt gezahlt habe, stehe ihr kein Anspruch auf eine dem Kindergeld vergleichbare polnische Leistung zu. Da der Kläger für seine Tochter J nur nach Deutschem Recht einen Anspruch auf Kindergeld habe, seien die Voraussetzungen der Verordnung (EWG) 1408/71 (VO) sowie Art. 76 - 79 VO und des Art. 10 DVO über die Konkurrenz zwischen Kindergeldansprüchen verschiedener Mitgliedsstaaten nicht erfüllt. Die Entscheidung der polnischen zuständigen Behörde sei zu respektieren. Zur Glaubhaftmachung hat der Kläger verschiedene Ablehnungsbescheide vorgelegt (vom 20. Januar 2006 betr. Anspruchs auf Familienbeihilfe und den Zuschlag zur Familienbeihilfe aufgrund alleiniger Erziehung für das Kind ab dem 1. Januar 2006; Bescheid vom 12. August 2009 bzgl. des Zeitraums ab dem 1. August 2009; Bescheid vom 16. März 2010 betr. Kindergeld im Zeitraum 1. November 2009 bis 31. Oktober 2010). Darüber hinaus hat er ein Schreiben der polnischen Kindergeldbehörde vom 22. Januar 2010 vorgelegt. In diesem Schreiben wird bestätigt, dass es in den Jahren 2007 und 2008 Anträge auf Feststellung des Anspruchs auf Familienleistungen gegeben habe. Die Kindesmutter habe in dem Zeitraum 1. Juni 2006 bis 20. Februar 2009 keinen Anspruch auf Familienleistungen gehabt und die Gewährung der Leistungen für die Tochter J seien auch nicht beantragt worden. Im Ergebnis sei damit nachgewiesen, dass die Kindesmutter in dem streitbefangenen Zeitraum zwar einen Kindergeldantrag gestellt, dieser aber nicht angenommen worden sei, weil kein Anspruch bestanden habe.

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Die Kürzung inländischen Kindergeldes um fiktive ausländische, dem inländischen Kindergeld vergleichbare Familienleistungen gemäß § 65 Abs. 1 Satz1 Nr. 2 EStG sei ausgeschlossen, wenn nach Maßgabe ausländischer Rechtsgrundsätze die Zahlung entsprechender Leistungen nicht in Betracht gekommen wäre. Dies sei vorliegend der Fall, da der Kindesmutter kein Kindergeldanspruch zustehe.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid der Familienkasse H vom 18. August 2008 in der Form des Einspruchsbescheides vom 14. Januar 2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger Kindergeld für seine Tochter J für den Zeitraum September 2008 bis Januar 2009 in voller Höhe zu gewähren.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Entscheidend sei, dass die Kindesmutter in Polen keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt habe. Da die Kindesmutter gegebenenfalls Anspruch auf polnische Familienleistungen habe, könne die Beklagte nach deutschem Recht Kindergeld in voller Höhe nicht festsetzen.

Entscheidungsgründe

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1. Die Klage ist begründet.

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Der Kläger hat im streitbefangenen Zeitraum September 2008 bis Januar 2009 Anspruch auf volles inländisches Kindergeld. Eine Anrechnung fiktiven polnischen Kindergeldes kommt ebenso wenig in Betracht wie die hälftige Kürzung des inländischen Kindergeldanspruchs.

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a. Die persönlichen Voraussetzungen für die Festsetzung von Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG liegen vor. Der Kläger hatte während des Streitzeitraums einen inländischen Wohnsitz i.S. des § 8 der Abgabenordnung (AO). Zweifel hieran hat die Beklagte zu Recht nicht vorgebracht.

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Ebenso ist die minderjährige Tochter J als Kind i.S. des § 32 Abs. 1 EStG zu berücksichtigen (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG). Es reicht aus, wenn - wie im Streitfall - das Kind seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Polen ist seit dem 1. Mai 2004 Mitgliedstaat der Europäischen Union.

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b. Eine Anrechnung - fiktiver - Familienleistungen in Polen für die Tochter des Klägers gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ist ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift wird im Inland kein Kindergeld gezahlt, sofern für das Kind im Ausland Kindergeld oder vergleichbare Leistungen bewilligt werden. Gleiches gilt, wenn jene ausländischen Leistungen bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären.

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Die Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sind im Streitfall nicht gegeben.

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Nach Art. 1 Nr. 2 Ziff. 1) und Art. 2 Ziff. 1) des Polnischen Gesetzes über Familienleistungen vom 28. November 2003 (Gesetzblatt Nr. 228/2003 Pos. 2255 sowie in der Fassung 06.139.992) wird Kindergeld als Familienleistung an polnische Staatsangehörige gezahlt, und zwar u.a. an die Eltern bzw. ein Elternteil des Kindes Art. 4 Nr. 1). Gemäß Art. 7 Nr. 5 ist der Kindergeldanspruch aber ausgeschlossen, wenn die Alleinerziehende für das Kind keine Unterhaltsleistung von dem anderen Elternteil zugesprochen wurde, es sei denn, die gegen den jeweils anderen Elternteil eingebrachte Klage auf Feststellung des Unterhalts wurde abgewiesen oder das Gericht verpflichtete einen Elternteil, alle Kosten für den Kindesunterhalt zu tragen, wobei es den anderen Elternteil nicht verpflichtete, die Unterhaltszahlungen für das Kinder zu zahlen.

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Auf Grundlage dieser Bestimmungen hat die zuständige polnische Kindergeldbehörde Kindergeldanträge für den Zeitraum ab 2006 und 1. August 2009 sowie für den Zeitraum 1. November 2009 bis 31. Oktober 2010 abgelehnt, bzw. für den Zwischenzeitraum mangels Anspruchs die gestellten Anträge nicht entgegengenommen.

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c. Der somit nach deutschem Recht gegebene Anspruch auf Kindergeld ist nicht aufgrund der Regelungen in Art. 76 Abs. 1 und 2 Verordnung (EWG) 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 bzw. Art. 10 Abs. 1a Verordnung (EWG) 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) 1408/71 bzw. nach Art. 12 Abs. 2 Verordnung (EWG) 1408/71 i. V. m. Art. 7 Abs. 1 Verordnung (EWG) 574/72 zu kürzen.

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aa. Der Kläger unterliegt zwar als Empfänger von Arbeitslosengeld II dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung (EWG) 1408/71. Eine Person besitzt die Arbeitnehmereigenschaft i.S. der VO Nr. 1408/71, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko im Rahmen eines der in Art. 1 Buchst. a dieser Verordnung genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, und zwar unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses. Es ist nicht die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit maßgeblich, sondern der Versichertenstatus. Die VO Nr. 1408/71 soll also grundsätzlich für alle Personen gelten, die im Rahmen der für Arbeitnehmer und Selbständige bereitgestellten Systeme sozialer Sicherheit oder aufgrund der Ausübung einer Arbeitnehmer- oder Selbständigentätigkeit versichert sind (vgl. BFH-Urteil vom 4. August 2011 - III R 55/08, BFH/NV 2012, 85).

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Dies ist vorliegend der Fall. Der Kläger besitzt die Versicherteneigenschaft (irgend)eines Mitgliedstaats, nämlich Deutschland.

22

bb. Die sachlichen Voraussetzungen für eine Kürzung des inländischen Kindergeldanspruchs sind im Streitfall nicht erfüllt.

23

Auf den Kläger ist als Empfänger von ALG II allein deutsches Recht anwendbar (Art. 13 Abs. 2 a) Verordnung (EGW) 1408/71). Des Weiteren müsste aber ein Anspruch auf Kindergeld auch in Polen bestanden haben. Nur soweit ein solcher Anspruch bestand, wäre die dann gegebene Anspruchskumulierung nach den Antikumulierungsvorschriften der VO Nr. 1408/71 bzw. der VO Nr. 574/72 zu klären (so ausdrücklich BFH-Urteil vom 4. August 2011 - III R 55/08, BFH/NV 2012, 85). Diese Voraussetzung ist im Streitfall jedoch nicht erfüllt.

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Nach Art 76 Abs. 1 VO (EGW) 1408/71 ruht ein Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gemäß Art. 73 Verordnung (EWG) 1408/71 geschuldeten Familienleistungen bis zu dem in den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats vorgesehenen Betrag, wenn für ein und denselben Zeitraum für ein und denselben Familienangehörigen in den Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, Familienleistungen aufgrund der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit vorgesehen sind. Wird in diesem Mitgliedstaat kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so kann der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem der Anspruch ganz oder teilweise ruht, Art. 76 Abs. 1 Verordnung (EWG) 1408/71 anwenden, als ob Leistungen in dem anderen Mitgliedstaat gewährt würden (vgl. Art. 76 Abs. 2 Verordnung (EWG) 1408/71). Die Voraussetzungen dieser Vorschriften sind im Streitfall nicht erfüllt, weil weder dem Kläger noch der Kindesmutter in Polen ein Anspruch auf Familienleistungen für Kinder zusteht. Dies steht zur Überzeugung des Senats aufgrund der vorgelegten ablehnenden Bescheide bzw. insbesondere - bezogen auf den streitbefangenen Zeitraum - aufgrund des Schreibens der polnischen Kindergeldbehörde vom 22. Januar 2010 fest. Zudem deckt sich die Bestätigung der polnischen Kindergeldbehörde mit dem Ergebnis der eigenen Prüfung des Senats bezüglich der Kindergeldberechtigung der Kindesmutter nach polnischem Recht.

25

Die insofern zu berücksichtigende Konkurrenzsituation zwischen Ansprüchen auf Familienleistungen - Kindergeld - aus zwei Staaten stellt sich demnach vorliegend nicht.

26

d. Die Festsetzung von Kindergeld in Höhe der Hälfte des gesetzlich vorgesehenen Betrags lässt sich ferner nicht - wie die Familienkasse allerdings meint - auf Art. 12 Abs. 2 Verordnung (EWG) 1408/71 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Verordnung (EWG) 574/72 stützen. Art. 7 Abs. 1 Verordnung (EGW) 574/72 sieht für den Fall, dass nach den Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten geschuldete Leistungen gegenseitig gekürzt, zum Ruhen gebracht oder entzogen werden können, vor, dass Beträge, die bei strenger Anwendung der in den Rechtsvorschriften der betreffenden Mitgliedstaaten vorgesehenen Kürzungs-, Ruhens- oder Entziehungsbestimmungen nicht ausgezahlt werden können, durch die Zahl der zu kürzenden, zum Ruhen zu bringenden oder zu entziehenden Leistungen geteilt werden. Hierauf stützt die Familienkasse ihre Annahme, lediglich die Hälfte des inländischen Kindergeldes, nämlich im Streitzeitraum monatlich 77 €, gegenüber dem Kläger festzusetzen und auszuzahlen. Allerdings liegen auch diese Voraussetzungen im Streitfall nicht vor: Mangels Anspruchs des Klägers oder der Kindermutter auf polnisches Kindergeld greifen keine Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten ein, nach denen die geschuldeten Leistungen gegenseitig gekürzt, zum Ruhen gebracht oder entzogen werden können. Vielmehr besteht - wie oben dargelegt - ein Kindergeldanspruch nur nach deutschem Recht (so im Ergebnis auch FG Münster, Urteil vom 30. November 2009 - 8 K 2866/08 Kg, EFG 2010, 731, [FG Münster 30.11.2009 - 8 K 2866/08 Kg] für einen mit dem Streitfall vergleichbaren Sachverhalt).

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Nach alledem hatte die Klage Erfolg.

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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).

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3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 1 und 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.