Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 08.02.2012, Az.: 9 K 276/09

Verständnis der in der Anlage SO zur Einkommenssteuererklärung formulierten Frage nach Unterhaltszahlungen

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
08.02.2012
Aktenzeichen
9 K 276/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 17348
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2012:0208.9K276.09.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - AZ: X B 48/12

Fundstelle

  • StBW 2012, 731-732

Amtlicher Leitsatz

Ein Steuerpflichtiger handelt nicht grob schuldhaft i.S.des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO), wenn er die in der Anlage SO zur ESt.-Erklärung entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch formulierte Frage nach Unterhaltszahlungen nach seinem natürlichen Sprachverständnis so versteht, damit auch von ihm bezogenen Kindesunterhalt erklären zu müssen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob eine Änderung von Einkommensteuerbescheiden nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO) möglich ist.

2

Die Klägerin ist seit dem 22.10.1998 geschieden und wird in den Streitjahren einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. Sie erzielte Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung und als kaufmännische Sachbearbeiterin Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. In den Streitjahren arbeitete sie bei ... ohne weitere Ausbildung zeitweise in der Abteilung für Produktkostenoptimierung mit Thema Betriebsmittelanforderungen und zeitweise in der Wettbewerbsanalyse. Mit steuerlichen Angelegenheiten war sie nicht befasst.

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Über die vorstehenden Einkünfte hinaus erklärte sie für 2002 auf nichtformularmäßiger Anlage als "Andere wiederkehrende Bezüge/Unterhaltsleistungen" Kindesunterhalts-zahlungen des geschiedenen Ehemannes von 6.094 EUR, für 2003 in gleicher Weise solche von 6.672 EUR, für 2004 solche in Zeile 17 der Anlage SO von 6.672 EUR, für 2005 solche auf nichtformularmäßiger Anlage von 6.976 EUR, für 2006 solche in Zeile 5 der Anlage SO von 6.976 EUR und für 2007 solche in Zeile 5 der Anlage SO von 7.544 EUR. Während die für 2002 und 2003 erklärten Unterhaltszahlungen vom FA bei der Einkommensteuer (ESt.-) Festsetzung nicht berücksichtigt wurden, wurden die für die Streitjahre erklärten Unterhaltszahlungen als sonstige Einkünfte in den ESt.-Bescheiden für 2004 vom 24.03.2005, für 2005 vom 13.04.2006, für 2006 vom 29.03.2007 und für 2007 vom 31.03.2008 und den Änderungsbescheiden vom 30.06.2008 und 12.02.2009 der Besteuerung unterworfen.

4

Mit Schreiben vom 10.03.2009 "stellte die Klägerin einen Antrag auf Änderung aller zurückliegenden Einkommensteuer-Berechnungen bezüglich Unterhalt, da es sich nicht um Unterhalt, sondern Kindesunterhalt handele, der nicht zum Einkommen hinzugerechnet werden dürfe. Dies gelte für die Einkommensteuer der Jahre 1998 bis 2007". Vorangestellt war dem als Betreff-Text: "Änderung der Berechnungen Einkommensteuer bezüglich Kindesunterhalt für die Jahre 2007 und die Jahre davor seit Scheidung 1998".

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Darauf teilte ihr der Beklagte (das Finanzamt -FA-) mit Schreiben vom 24.06.2009 mit, dass in den ESt.-Bescheiden der Jahre 1998 bis 2003 von ihr kein Unterhalt versteuert worden sei. Für die Jahre 2004 bis 2007 seien von ihr Unterhaltsleistungen als Einnahmen erklärt und versteuert worden. die Einkommensteuerbescheide dieser Jahre seien bestandskräftig. Änderungsmöglichkeiten nach den §§ 172 ff. Abgabenordnung (AO) bestünden nicht. Man sei gehalten, ihre Änderungsanträge für die Kalenderjahre 2004 bis 2007 abzulehnen. Hiergegen legte die Klägerin betreffend die Jahre 2004 bis 2007 durch Schreiben vom 29.06.2009 Einspruch ein.

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Den Einspruch wies das FA durch Bescheid vom 09.07.2009 als unbegründet zurück. Die Klägerin treffe ein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der Art der Unterhaltsleistungen des geschiedenen Mannes. Ihr hätte aufgrund des Textes in der Zeile 5 der Anlage SO und der Erläuterungen in den Anleitungen mit Hinweis auf die Anlage U klar sein müssen, dass in der Zeile 5 nur für sie bestimmte und mit ihrer in der Anlage U gegebenen Zustimmung vom geschiedenen Ehemann als Sonderausgaben abgezogene Unterhaltsleistungen einzutragen waren und "der Sonderausgabenabzug und die korrespondierende Versteuerung nicht für Unterhaltsleistungen an Kinder Gültigkeit haben." Ihr hätten beim Ausfüllen der Erklärungen zumindest Zweifel kommen müssen, die eine nachfolgende Erörterung beim FA oder Steuerberater hätten angezeigt sein lassen und ihr zuzumuten gewesen wären.

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Hiergegen richtet sich die Klage.

8

Ihr, der Klägerin sei nicht bekannt gewesen, dass sie den Kindesunterhalt nicht als ihr Einkommen angeben musste. Es liege auch ein Verschulden des FA vor, da es über Jahre hinweg den Sachverhalt nicht geprüft habe. Sie, die Klägerin, habe aus Unwissenheit und Ehrlichkeit den Kindesunterhalt in der Anlage SO eingetragen. In der jeweiligen Zeile der Anlage SO stehe kein Hinweis auf eine Anlage U und werde nur nach "Unterhaltsleistungen, soweit sie vom Geber als Sonderausgaben abgezogen werden können", gefragt. Aus der Anlage SO gehe nicht hervor, um welchen Unterhalt es sich handele und dass Kindesunterhalt dort nicht eingetragen werden dürfe. Sie habe nach der Scheidung keinerlei Kontakt mehr zu ihrem geschiedenen Ehemann gehabt. Dieser setze nach ihren Erfahrungen alles ab, was er an Ausgaben habe. Sie habe durch ihre Unwissenheit und ihren Glauben an gerechte Einkommensteuergesetze ehrlich eingetragen, welches Geld auf ihrem Konto ankomme. Grobes Verschulden liege nicht vor. Freiwillig hätte sie nie etwas versteuert, was sie nicht versteuern muss. Dass Kindesunterhalt nicht versteuert wird, habe sie nicht feststellen können, Daher hätte sie dazu auch keine Frage gehabt und gedacht, alles richtig gemacht zu haben. In der Anlage SO stehe zu dem Text, "soweit sie der Geber als Sonderausgaben absetzt" keinerlei Hinweis, um welchen Unterhalt es sich handele. Wie das beim Geber steuerlich sei, entziehe sich ihrer Kenntnis. Da das FA den besseren Überblick über Geber und Empfänger habe, wäre dem FA in den Jahren 2004 bis 2007 ein Vergleich mit der Einkommensteuererklärung ihres geschiedenen Ehemannes ... und die Prüfung des Vorliegens der Anlage U möglich und von ihm zu fordern gewesen. Es sei auch nicht zu verstehen, warum das FA anlässlich der aus anderen Gründen betriebenen Einspruchsverfahren 2005 und 2007 nicht generell die Vorgänge geprüft habe. Das FA habe den in den Jahren 2002 und 2003 erklärten Kindesunterhalt nicht besteuert, Also habe das FA doch festgestellt, dass hier der Kindesunterhalt nicht zum steuerpflichtigen Einkommen zugeschlagen werden durfte und habe es dementsprechend auch in den Streitjahren verfahren müssen. Sie, die Klägerin, sei selbst erst bei einem Gespräch mit ihrer Bekannten Frau ... in 2009 auf den Fehler gestoßen.

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Die Klägerin beantragt,

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unter Aufhebung des Einspruchsbescheids vom 09.07.09 und der Bescheide vom 24.06.2009 über die Ablehnung der Änderungsanträge zur Einkommensteuer 2004 bis 2007 das FA zu verpflichten, die Einkommensteuerbescheide 2004 bis 2007 zu ändern und die Steuern auf die sich bei Nichtansatz der streitigen Unterhaltszahlungen ergebenden Beträge herabzusetzen.

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Das FA beantragt,

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die Klage abzuweisen.

13

Aus den bereits im Einspruchsbescheid dargelegten Gründen habe die Klägerin seinerzeit bezogenen Kindesunterhalt jeweils grob schuldhaft in die nur für Ehegattenunterhalt im Rahmen von Realsplitting vorgesehene Zeile eingetragen. Ihr sei im Rahmen ihrer steuerlichen Möglichkeiten nach Aktenlage ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der streitigen Tatsache zuzurechnen. Das FA habe weder bei den Veranlagungen noch im Rahmen der beiden Einspruchsverfahren Anlass gehabt, den streitigen Sachverhalt zu prüfen. Aus Gründen der Abschnittsbesteuerung sei es auch nicht notwendig gewesen, sich die steuerliche Behandlung in den Vorjahren, hier insbesondere 2002 und 2003, anzusehen. Warum in den Jahren 2002 und 2003 die erklärten Kindesunterhaltsleistungen vom FA -zutreffend- nicht besteuert wurden, sei nicht bekannt.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist begründet. Die angegriffenen ESt.-Bescheide 2004 bis 2007 sind wie beantragt nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu ändern, da die Klägerin kein grobes Verschulden daran trifft, dass die jeweils zu einer niedrigeren Steuer führende neue Tatsache, dass es sich bei den von ihr in den Streitjahren erklärten Unterhaltsleistungen um nicht einkommensteuerpflichtigen Kindesunterhalt handelte, erst nachträglich bekannt wurde.

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Nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.

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Grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden einer Tatsache setzt Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit voraus. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und nicht entschuldbarer Weise verletzt. Subjektiv entschuldbare Rechtsirrtümer, die zu einem nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen i.S. des § 173 Abs.1 Satz 1 Nr. 2 AO geführt haben, schließen danach eine grobe Fahrlässigkeit aus (Ständige Bundesfinanzhofs-BFH-Rechtsprechung.; vgl. Beschluss des BFH vom 28.07.2011 IX B 47/11 -m.w.N.-, BFH/NV 2012, 1; Urteil des BFH v 20.11.2008 III R 107/06, BFH/NV 2009, 545, in BFH/NV 2009, 545, und Urteil des BFH vom 23.01.2001 XI R 42/00, BStBl. II 2001, 379).

17

Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall hat die Klägerin nicht grob schuldhaft gehandelt, als sie erst bei einem Gespräch mit ihrer Bekannten ... in 2009 als neue Tatsache bemerkte und dieses dann dem FA mitteilte, dass sie in den Streitjahren jeweils nicht einkommensteuerpflichtigen Kindesunterhalt wie (im Rahmen des Realsplitting) einkommensteuerpflichtigen Ehegattenunterhalt erklärt hatte. Unter der Überschrift "Andere wiederkehrende Bezüge/Unterhaltsleistungen" wird in jeweils in der Zeile 17 der Anlage SO zu den ESt.-Erklärungen 2004 und 2005 beziehungsweise Zeile 5 in 2006 und 2007 wie folgt gefragt: "Unterhaltsleistungen, soweit sie vom Geber als Sonderausgaben abgezogen werden können". Wer das nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG mögliche und mittels der Anlage U praktizierte "Realsplitting" kennt, weiß, dass nur der in diesem Rahmen gezahlte Ehegattenunterhalt in Zeile 17 beziehungsweise 5 einzutragen ist. Wer hingegen das Realsplitting mit der Anlage U nicht praktiziert und damit auch die Anlage U nicht verwendet, braucht sich damit auch nicht weiter zu befassen und dementsprechend auch nicht mit den dazu gegebenen Erläuterungen in den amtlichen Anleitungen zur ESt.-Erklärung und deren Anlagen. Er darf und kann sich auf das natürliche Verständnis des amtlichen Frage-Textes in den Zeilen 17 beziehungsweise 5 beschränken, zumal dort jegliche Hinweise auf Realsplitting oder die Anlage U fehlen. Danach wird in den Zeilen 17 beziehungsweise 5 und der dazu jeweils gehörenden Überschrift nicht nach Ehegattenunterhalt, sondern allgemein nach Unterhaltsleistungen gefragt, worunter nach allgemeinem Sprachverständnis auch Unterhaltsleistungen in Form des hier von der Klägerin erklärten Kindesunterhalts fallen. Wenn aber wie hier die Erklärungsvordrucke dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechen und selbst keine Hinweise darauf enthalten, dass sie anders als im allgemeinen Sprachgebrauch zu verstehen sein könnten, kann der Klägerin nicht vorgeworfen werden, dass sie entsprechend diesem Sprachverständnis auch den Kindesunterhalt eintrug (vgl. BFH-Urteil XI R 42/00, a.a.O.). Dieses Verhalten war auch nicht deshalb grob schuldhaft, weil sich die Frage nach Unterhaltsleistungen in den Zeilen 17 beziehungsweise 5 auf solche Unterhaltsleistungen beschränkte, die vom Geber als Sonderausgaben abgezogen werden konnten. Zum einen wurde hier das Realsplitting gar nicht praktiziert und wusste die Klägerin auch nicht, wann in diesem Rahmen Unterhaltsleistungen vom Geber als Sonderausgaben abgezogen werden konnten, und zum anderen nahm die Klägerin an und ist nach allgemeinem Sprachgebrauch auch dieses Verständnis des Formulartextes möglich, dass die Abziehbarkeit als Sonderausgaben beim Geber vom FA geprüft und entschieden wurde. Danach konnte und durfte die Klägerin meinen, den Kindesunterhalt in Zeile angeben zu müssen und handelte sie dabei entsprechend der nach ihren persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbaren Sorgfalt. So ist sie beruflich nicht mit steuerlichen Fragen befasst und besitzt sie auch ansonsten und wie auch die Einspruchsverfahren in 2005 und 2007 zeigen keine über das allgemeinübliche Maß hinausgehenden steuerlichen Kenntnisse. Ihr Erklärungsverhalten in den Streitjahren bezüglich des Kindesunterhalts ist auch nicht deshalb als grob schuldhaft zu werten, weil sie die unterschiedliche steuerliche Berücksichtigung des Kindesunterhalts in den Streitjahren (einkommensteuerpflichtige "Sonstige Einkünfte") und den Jahren davor (nicht einkommensteuerpflichtige Einkünfte in 2002 und 2003) nicht zum Anlass nahm, dem weiter nachzugehen. Vielmehr handelte sie von ihrem Standpunkt her nur konsequent, als sie insoweit die Vorgehensweise des FA jeweils schlicht akzeptierte. Schließlich ging sie davon aus, dass die Steuerpflichtigkeit des Kindesunterhalts und die damit zusammenhängenden Fragen allein vom FA geprüft und entschieden werden konnten und dementsprechend dessen Entscheidungen von ihr hinzunehmen waren.

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Trifft danach die Klägerin kein grobes Verschulden daran, dass sie die Tatsache, steuerlich fehlerhaft Kindesunterhalt in den Zeilen 17 beziehungsweise 5 erklärt zu haben, erst bei einem Gespräch mit ihrer Bekannten Frau ... in 2009 erkannt und dann dem FA mitgeteilt hat, so führt diese Tatsache wegen des nicht einkommensteuerpflichtigen Kindesunterhalts auch i.S. des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu einer niedrigeren Steuer und sind dementsprechend die streitigen Steuerbescheide zu ändern.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 1, 3, 155 FGO i.V. mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.