Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 20.07.2023, Az.: 4 A 150/21
Absonderung; Entschädigungsanspruch; nicht erhebliche Zeit; Verdienstausfall; Anspruch auf Erstattung von Entschädigungszahlungen und Sozialversicherungsbeiträgen nach dem Infektionsschutzgesetz
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 20.07.2023
- Aktenzeichen
- 4 A 150/21
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2023, 28839
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2023:0720.4A150.21.00
Rechtsgrundlagen
- BGB § 616 Satz 1
- IfSG § 56
- IfSG § 57
Fundstelle
- RdW 2023, 947-948
Amtlicher Leitsatz
Ein Verdienstausfall liegt nicht vor, wenn dem Arbeitnehmer trotz seiner Verhinderung an der Ausübung seiner Tätigkeit gegen seinen Arbeitgeber ein Lohnfortzahlungsanspruch zusteht. Bei einer Beschäftigungsdauer von mehr als zwei Jahren ist eine 15 Tage andauernde Arbeitsverhinderung infolge einer Absonderung noch als nicht erhebliche Zeit im Sinne des § 616 Satz 1 BGB anzusehen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes die Erstattung einer ihrer Arbeitnehmerin gewährten Verdienstausfallentschädigung.
Die bei der Klägerin als Ärztin beschäftigte Dr. E. reiste am 10.03.2020 urlaubsbedingt nach F. in Österreich (Bundesland Tirol). Am 11.03.2020 erließ der Landkreis A-Stadt eine "Allgemeinverfügung...für Reiserückkehrer aus Risikogebieten und besonders von der Ausbereitung des Coronavirus SARS-CoV-2 und COVID-19 betroffenen Gebieten". Dort war für Reiserückkehrer aus den vorgenannten Gebieten u.a. ein Betretungsverbot für Krankenhäuser (Ziffer 1 b) und für die Träger von Krankenhäusern die Verpflichtung geregelt, die betreffenden Personen für 14 Tage nicht zu beschäftigen (Ziffer 3). Am 13.03. 2020 wies das Robert-Koch-Institut das Bundesland Tirol in Österreich als Risikogebiet aus. Dr. E. beendete am 14.03.2020 ihre Reise und kehrte an ihren Wohnsitz in G. zurück. Bis einschließlich 29.03.2020 verließ sie ihre Wohnung nicht und ging auch ihrer Tätigkeit als Ärztin bei der Klägerin nicht nach.
Die Klägerin zahlte ihrer Mitarbeiterin für den Zeitraum 15. bis 29.03.2020 einen "Verdienstausfall" in Höhe von 2.381,55 Euro netto, zzgl. 283,50 Euro für den Arbeitgeberanteil zur Rentenversicherung, insgesamt 2.665,05 Euro. Ihren unter dem 25.06.2020 gestellten Antrag auf Erstattung dieser Kosten nach § 56 Abs. 5 Satz 3 i.V.m. § 56 Abs. 1 Sätze 1 und 2 (Arbeitsentgelt) und 57 Abs. 1 Satz 4 (Rentenversicherungsbeiträge) Infektionsschutzgesetz (im Folgenden: IfSG) lehnte der Landkreis A-Stadt mit Bescheid vom 24.06.2021 mit der Begründung ab, dass die Voraussetzungen für eine Entschädigung nach § 56 Abs. 1 IfSG nicht vorlägen. Die Arbeitnehmerin der Klägerin sei als Reiserückkehrerin bereits keine Ansteckungsverdächtige gewesen. Bei der Allgemeinverfügung des Landkreises A-Stadt handele es sich zudem lediglich um eine Präventivmaßnahme im Sinne von § 28 Abs. 1 IfSG, die das Erfordernis eines individuellen Tätigkeitsverbots oder einer Absonderung für einen Entschädigungsanspruch nicht ersetze. Für Dr. E. sei auch keine Absonderung angeordnet worden.
Die Klägerin hat am 03.08.2021 Klage erhoben.
Sie ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch ihrer Arbeitnehmerin nach § 56 Abs. 1 IfSG und damit auch die Voraussetzungen für ihren eigenen Erstattungsanspruch nach § 56 Abs. 5 S. 3 IfSG IfSG vorlägen. Durch die Allgemeinverfügung des Landkreises A-Stadt sei ihre Arbeitnehmerin einem Tätigkeitsverbot unterworfen worden. Das Betretungsverbot für Krankenhäuser wirke sich bei einer Ärztin als Tätigkeitsverbot aus. Darüber hinaus sei in Ziffer 3 der Allgemeinverfügung ein ausdrückliches Tätigkeitsverbot ausgesprochen worden. Es sei unerheblich, dass die Allgemeinverfügung nicht ausdrücklich auf § 31 IfSG gestützt worden sei, sondern auf § 28 IfSG. Dies ändere nichts daran, dass mit ihr ein Tätigkeitsverbot geschaffen worden sei. Darüber hinaus habe das Gesundheitsamt der Stadt G. gegenüber Dr. E. sowohl am 13. als auch am 16.03.2020 telefonisch eine Absonderung angeordnet.
Die Klägerin beantragt,
der Ablehnungsbescheid des Landkreises A-Stadt vom 24.06.2021 wird aufgehoben und die beklagte Partei verpflichtet, an die Klägerin die an Frau Dr. med. H. I. E. gezahlten Entschädigungsleistungen gem. § 56 IfSG für die Zeit vom 15.03.2020 bis 29.03.2020 in Höhe von EUR 2.665,05 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten,
hilfsweise
der Ablehnungsbescheid des Landkreises A-Stadt vom 24.06.2021 wird aufgehoben und die beklagte Partei verpflichtet, der Klägerin Entschädigungsleistungen gem. § 56 IfSG für die Zeit vom 15.03.2020 bis 29.03.2020 für Frau Dr. med. H. I. E. in Höhe von EUR 2.665,05 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht er sich im Wesentlichen auf den Bescheid des Landkreises A-Stadt vom 24.06.2021. Er meint, die Einreise eines Arbeitnehmers aus einem Risikogebiet sei rechtlich nicht anders zu bewerten, als eine Reise eines Arbeitnehmers in ein Risikogebiet mit anschließender Rückkehr. Wer aus einem Risikogebiet nach Deutschland einreise, wisse, dass er einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt sei, dessen zwingende Folge eine Quarantäne/Absonderung sei. Wer dies bewusst in Kauf nehme, habe keinen Anspruch auf Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz. Er bestreitet, dass gegenüber Dr. E. eine Absonderung angeordnet worden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und den vom Gericht beigezogenen Verwaltungsvorgang des Landkreises A-Stadt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann, hat keinen Erfolg.
Sie ist zulässig, insbesondere ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Für Streitigkeiten über Ansprüche nach § 56 IfSG gegen das nach § 66 Abs. 1 Satz 1 "Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen - Infektionsschutzgesetz - (IfSG) zur Zahlung verpflichtete Land ist aufgrund der aufdrängenden Sonderzuweisung in § 68 Abs. 1 IfSG in der Fassung vom 29.02.2021 (BGBl. I S. 370, in Kraft getreten am 31.03.2021) der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie ist der richtige Beklagte. Nach dem Gemeinsamen Runderlass der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien vom 03.06.2021 - 201-01461/03 -, bekanntgemacht im Nds. MBl. Nr. 22/2021, S. 1020, wird das Land in Verfahren bei Streitigkeiten auf Entschädigung nach dem IfSG vom Landesamt vertreten.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Erstattung (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO); der Ablehnungsbescheid des Landkreises A-Stadt vom 24.06.2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Als Rechtsgrundlage für den Erstattungsanspruch kommen § 56 Abs. 5 Satz 3 i.V.m. Absatz 1 Sätze 1 und 2 IfSG (Arbeitsentgelt) und § 57 Abs. 1 Satz 4 IfSG (Rentenversicherungsbeiträge) in Betracht. Dabei ist das IfSG in der zum Zeitpunkt des Fernbleibens der Arbeitnehmerin von ihrem Arbeitsplatz geltenden Fassung vom 10.02.2020 bzw. hinsichtlich der Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen vom 20.07.2020 anzuwenden (vgl. BeckOK InfSchR/Eckart/Kruse IfSG § 56 Rn. 20a; VG Hannover, Urteil vom 02.05.2023 - 15 A 6463/20 -, n.v; VG Osnabrück, Urteil vom 03.05.2023 - 3 A 2/21 -, n.v.).
Die Klägerin kann einen Anspruch auf Erstattung des an ihre Mitarbeiterin gezahlten Verdienstausfalls in Höhe von 2.665,05 Euro nicht aus § 56 Abs. 5 Satz 3 IfSG a.F. ableiten.
§ 56 Abs. 5 Satz 3 IfSG regelt, dass die ausgezahlten Beträge dem Arbeitgeber auf Antrag von der zuständigen Behörde erstattet werden. Hintergrund dieser Regelung ist, dass bei Arbeitnehmern der Arbeitgeber für die Dauer des Arbeitsverhältnisses, längstens für sechs Wochen, die Entschädigung für die zuständige Behörde auszuzahlen hat (§ 56 Abs. 5 Satz 1 IfSG). Voraussetzung für den Anspruch des Arbeitgebers gegenüber der zuständigen Behörde ist folglich, dass der Arbeitnehmer Anspruch auf eine Entschädigung hat, die vom Arbeitgeber auszuzahlen ist. Ein Anspruch auf Entschädigung kann aus § 56 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG folgen. Danach erhält eine Entschädigung in Geld, wer als Ausscheider, Ansteckungsverdächtiger, Krankheitsverdächtiger oder als sonstiger Träger von Krankheitserregern im Sinne von § 31 Satz 2 IfSG Verboten in der Ausübung seiner bisherigen Erwerbstätigkeit unterliegt oder unterworfen wird und dadurch einen Verdienstausfall erleidet (Satz 1). Das Gleiche gilt für Personen, die als Ausscheider oder Ansteckungsverdächtige abgesondert wurden oder werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen können (Satz 2). Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ist folglich Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer durch das Tätigkeitsverbot oder die Absonderung einen Verdienstausfall erleidet.
Diese Tatbestandsvoraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt, da die Arbeitnehmerin, für die die Klägerin die Erstattung begehrt, keinen Verdienstausfall hatte. Der Arbeitnehmer erleidet keinen Verdienstausfall, wenn der Arbeitgeber ohnehin, z.B. aufgrund zivilrechtlicher Vorschriften, zur Zahlung des Arbeitsentgelts verpflichtet ist, obwohl der Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, seine arbeitsvertraglichen Pflichten zu erfüllen. Ein solcher Anspruch ergibt sich vorliegend aus § 616 Satz 1 BGB, dessen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind.
Der Entgeltfortzahlungsanspruch aus § 616 Satz 1 BGB ist nicht subsidiär gegenüber dem Anspruch aus § 56 IfSG. Hierzu hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 02.07.2021 - 13 LA 258/21 - Folgendes ausgeführt:
"Nach § 616 Satz 1 BGB geht der zur Dienstleistung Verpflichtete des Anspruchs auf die Vergütung nicht dadurch verlustig, dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert wird. Eine Subsidiarität des § 616 BGB ergibt sich nicht aus § 56 IfSG. Vielmehr ist § 56 IfSG subsidiär, so dass weder ein Entschädigungsanspruch nach § 56 IfSG noch ein Erstattungsanspruch des Arbeitgebers besteht, wenn der Arbeitnehmer einen Vergütungsfortzahlungsanspruch aus § 616 BGB gegen den Arbeitgeber hat (vgl. MüKo, BGB, 8. Auf. 2020, § 616 Rn. 25). Neben dem eindeutigen Wortlaut spricht auch der Sinn und Zweck der Vorschrift für diese Auslegung. Denn § 56 IfSG soll vor materieller Not schützen, wo allgemeine Fortzahlungspflichten nicht greifen. Eine Entlastung des Arbeitgebers bezweckt die Norm hingegen nicht (vgl. Eckart/Winkelmüller (Hrsg.), BeckOK Infektionsschutzrecht, 5. Aufl. 2021, IfSG, § 56 Rn. 37 m.w.N.). Zuletzt wurde diese Auslegung durch den Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes bestätigt. Danach sei bei § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG wie bisher ein Verdienstausfall Voraussetzung für einen Anspruch auf Entschädigung, der etwa dann nicht eintritt, soweit eine Entgeltersatzleistung gewährt wird (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit vom 3.3.2021, BT-Drs.19/27291, S.64 f.)." juris Rn. 9
(genauso: VG Karlsruhe, Urteil vom 20.06.22 - 14 K 480/21 -, Rn. 96; jeweils mit weiteren Hinweisen; VG Osnabrück, Urteil vom 12.07.2022 - 3 A 46/21 -, Rn. 30 juris unter Verweis auf OVG Lüneburg, a.a.O.; VG Hannover, Urteil vom 02.05.2023 - 12 A 6463/20 - n.v.).
Dies zugrunde gelegt, kann hier unterstellt werden, dass die von der Klägerin vorgetragene und vom Beklagten bestrittene Absonderung von Dr. E. erfolgt ist. Denn auch in diesem Fall würde ein Entschädigungsanspruch mangels Verdienstausfalls von Dr. E. ausscheiden. Denn Dr. E. stand gegenüber der Klägerin als ihrer Arbeitgeberin ein Anspruch auf Fortzahlung ihres Lohns nach § 616 Satz 1 BGB zu.
Nach § 616 Satz 1 BGB wird der zur Dienstleistung Verpflichtete des Anspruchs auf die Vergütung nicht dadurch verlustig, dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert ist. Diese Voraussetzungen liegen für das Fernbleiben von Dr. E. von ihrem Dienst in dem Zeitraum 15. bis 29.03.2020 vor.
Zunächst ist dem für Dr. E. vorgelegten Arbeitsvertrag nicht zu entnehmen, dass § 616 Satz 1 BGB individualvertraglich abbedungen wurde. Es wurde auch nicht vorgetragen oder ist ersichtlich, dass die Vorschrift tarifvertraglich abbedungen wurde.
Bei der Absonderung handelt es sich auch um einen in der Person der Arbeitnehmerin liegenden Grund i.S.v. § 616 Satz 1 BGB. Die amtlich angeordnete Absonderung ist ein subjektives Leistungshindernis, da sich bei der Anordnung der Absonderung ein personenbezogener Gefahrenverdacht verwirklicht. Auch wenn es sich bei der Corona-Pandemie um ein weltweites Ereignis handelt, durch die das Leistungshindernis zur selben Zeit für mehrere Arbeitnehmer bestehen kann, liegt in einer Absonderung wegen eines Krankheitsverdachts ein subjektives Leistungshindernis, da die besonderen persönlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers derart betroffen sind, dass Rückwirkungen auf seinen körperlichen oder seelischen Zustand bestehen, womit stets ein personenbedingter Grund anzunehmen ist (s. OVG Lüneburg, a.a.O., Rn. 10 mit weiteren Hinweisen). Die Arbeitnehmerin hat die Verhinderung ihrer Arbeitsleistung auch nicht zu verschulden. Zum Zeitpunkt ihres Reiseantritts galt Tirol noch nicht als Risikogebiet. Sie war auch nicht verpflichtet, nachdem Tirol als Risikogebiet ausgewiesen worden war, dort zu bleiben. Allein ihre Rückkehr nach Deutschland am 14.03.2020 führt deshalb nicht - anders als der Beklagte offenbar meint - zu einem Verschulden i.S.v. § 616 Satz 1 BGB.
Auch bestand die Leistungsverhinderung für einen nicht erheblichen Zeitraum. Die Arbeitnehmerin befand sich vom 15. bis zum 29.03.2020 in häuslicher Quarantäne. Bei der Absonderung von insgesamt 15 Arbeitstagen handelt es sich um einen nicht erheblichen Zeitraum.
Wie der unbestimmte Rechtsbegriff der "verhältnismäßig nicht erheblichen Zeit" auszulegen ist, ist umstritten. Aus dem Wortlaut des § 616 Satz 1 BGB "verhältnismäßig" folgt zunächst, dass eine Festlegung auf eine feste Tageszahl wegen der Verschiedenartigkeit der in Betracht kommenden Sachverhalte nicht möglich ist (VG Minden, Urteil vom 15.11.22 - 16 K 1556/21 -, juris Rn. 64-68; VG Koblenz, Urteil vom 10.05.2021 - 3 K 107/21.KO -, juris Rn. 28). Im Schrifttum wird zur Bestimmung der nicht erheblichen Zeit überwiegend vertreten, dass die Dauer des Arbeits- bzw. Dienstverhältnisses zur Dauer der Arbeitsverhinderung ins Verhältnis zu setzen sei. Daher werden bei langjährigen Arbeits- bzw. Dienstverhältnissen selbst größere Zeiträume noch als unerheblich angesehen. Andererseits wird eine ereignisbezogene Festlegung der Erheblichkeit der Verhinderungszeit anhand der Art des Leistungshindernisses für vorzugswürdig erachtet. Bei dieser ereignisbezogenen Betrachtung wird die Erheblichkeit der Verhinderungszeit allein nach dem zur Arbeitsverhinderung führenden Grund sowie danach beurteilt, ob der Arbeitgeber erfahrungsgemäß mit einer derartigen Nichtleistung über einen bestimmten Zeitraum rechnen konnte. Danach sei § 616 Satz 1 BGB auf Anlässe zu begrenzen, die lediglich wenige Tage andauerten, wobei die nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz für erkrankte Arbeitnehmer geltende Sechs-Wochen-Frist grundsätzlich nicht als Maßstab herangezogen werden könne (VG Koblenz, a.a.O. Rn. 28 m.w.Hinweisen; s. auch VG Münster, Urteil vom 12.01.2023 - 5 K 164/22 -, juris Rn. 117; VG Frankfurt a. M., Urteil vom 28.09.2022 - 5 K 3397/20.F, juris Rn. 27).
Eine absolute Höchstgrenze sah demgegenüber § 616 BGB in der Fassung vom 28.08.1975 für bestimmte Fälle vor. Nach der Regelung im damaligen Absatz 2 Satz 2, die nunmehr ihren Niederschlag im Entgeltfortzahlungsgesetz gefunden hat, galt bei Angestellten für den Krankheitsfall sowie für die Fälle der Sterilisation und des Abbruchs der Schwangerschaft durch einen Arzt eine Zeit von sechs Wochen als verhältnismäßig nicht erheblich, wenn nicht durch Tarifvertrag eine andere Dauer bestimmt war. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof im Jahr 1978 im Falle eines sechs Wochen andauernden Tätigkeitsverbots nach dem seinerzeit geltenden Bundesseuchengesetz entschieden, dass als nicht erhebliche Zeitspanne zwar nur wenige Tage in Betracht kämen, das der Entscheidung zugrunde liegende sechswöchige Tätigkeitsverbot in Anlehnung an die für Erkrankungen geltende Sechs-Wochen-Frist aber jedenfalls bei einem länger andauernden unbefristeten und ungekündigten Arbeitsverhältnis grundsätzlich als Grenze einer verhältnismäßig nicht erheblichen Zeit anzusehen sei. Dies hat der Bundesgerichtshof damit begründet, dass die Arbeitsverhinderung eines von einem seuchenrechtlichen Tätigkeitsverbot betroffenen Ausscheiders ihrem Wesen nach einer Verhinderung durch Krankheit nahekomme. Neben einer maximalen Verhinderungsdauer von sechs Wochen berücksichtigt der Bundesgerichtshof für die Beurteilung, ob die Verhinderung nicht erheblich ist, zudem die Eigenart der Verhinderung sowie die Eigenart und Dauer des Arbeits- bzw. Dienstverhältnisses (s. hierzu VG Koblenz, a.a.O. Rn. 29; BGH, Urteil vom 30.11.1978 - III ZR 43/77 -, juris Rn. 37). Auch das Bundesarbeitsgericht hält eine Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers für nur wenige Tage für gegeben und zieht die absolute Höchstgrenze einer als nicht erheblich geltenden Verhinderung bei sechs Wochen (BAG, Urteil vom 20. Juli 1977 - 5 AZR 325/76 -, juris Rn. 12).
Des Weiteren wird vertreten, dass im Sinne einer belastungsbezogenen Betrachtungsweise bei der Bewertung des Verhinderungszeitraums auf die gesamten Umstände des Einzelfalls abzustellen sei. Hierzu zählten insbesondere das Verhältnis zwischen der Dauer der Verhinderung und der Länge der bisherigen Beschäftigung, zusätzliche Abreden, die Eigenart des Arbeitsverhältnisses und dessen voraussichtliches Fortbestehen (VG Minden, a.a.O., Rn. 72-77; s. auch VG Koblenz, a.a.O., Rn. 30).
Unter Berücksichtigung aller vorgenannten Erwägungen gelangt die Kammer zu dem Ergebnis, dass bei der Beurteilung, ob es sich bei einer fünfzehntägigen Arbeitsverhinderung infolge der Absonderung um eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit handelt, angesichts des gesetzlichen Wortlauts "verhältnismäßig" in erster Linie das Verhältnis zwischen Dauer des Arbeits- bzw. Dienstverhältnisses und Dauer der Arbeitsverhinderung maßgeblich ist. Nach dem vorgelegten Arbeitsvertrag war Dr. E. seit Juni 2017 bei der Klägerin als Ärztin für Innere Medizin zum Zwecke der Weiterbildung im Rahmen der Facharztausbildung beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis war bis zum erfolgreichen Abschluss der Facharztprüfung, längstens jedoch bis zum 31.05.2022 befristet. Demnach war Dr. E. zum Zeitpunkt der Absonderung am 13.03.2020 bereits annähernd drei Jahre bei der Klägerin beschäftigt, wobei das ursprünglich befristete Arbeitsverhältnis auch heute noch weiter besteht. Die Kammer erachtet bei einer Beschäftigungsdauer von wie hier mehr als zwei Jahren eine 15 Tage andauernde Arbeitsverhinderung infolge einer Absonderung noch als nicht erhebliche Zeit im Sinne des § 616 Satz 1 BGB (vgl. VG Koblenz, a.a.O., das bei einer Beschäftigungsdauer von mindestens einem Jahr grundsätzlich eine höchstens 14 Tage andauernde Arbeitsverhinderung infolge einer Absonderung noch als eine nicht erhebliche Zeit im Sinne des § 616 Satz 1 BGB bewertet hat). Nichts anderes ergibt sich hier aus der Eigenart der Verhinderung und des Arbeitsverhältnisses. Aus dem Arbeitsverhältnis zwischen der Klägerin und ihrer Mitarbeiterin sind keine Besonderheiten ersichtlich. Aber auch die Eigenart der Arbeitsverhinderung, die hier in der Absonderung aufgrund festgestellten Ansteckungsverdachts besteht, rechtfertigt keine andere rechtliche Beurteilung.
Hierzu hat das Verwaltungsgericht Koblenz in einem vergleichbaren Fall in seinem bereits zitierten Urteil vom 10.05.2021 Folgendes ausgeführt:
"Bereits der Bundesgerichtshof stellte, wie dargelegt, in Bezug auf Ausscheider - dies sind Personen, die Krankheitserreger ausscheiden und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein können, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein - fest, dass eine Arbeitsverhinderung solcher Personen einer Verhinderung von erkrankten Arbeitnehmern nahekommt. Nichts anderes gilt für Ansteckungsverdächtige, die infektionsschutzrechtlich mit Ausscheidern weitestgehend gleichgestellt werden. Der Gesetzgeber des Infektionsschutzgesetzes, welcher die Entschädigungsregelungen des davor geltenden Bundesseuchengesetzes im Wesentlichen übernommen hat (vgl. BT-Drucksache 14/2530, Seite 88), bezweckt mit der Entschädigung der von Tätigkeitsverboten oder Absonderungen betroffenen Ausscheidern, Ansteckungsverdächtigen, Krankheitsverdächtigen oder sonstigen Trägern von Krankheitserregern, diese Personen in finanzieller Hinsicht mit Kranken gleichzustellen (vgl. BT-Drucksache III/1888, Seite 27 zum Bundesseuchengesetz). Muss der Arbeitgeber bzw. Dienstberechtigte somit damit rechnen, im Falle der Krankheit seiner Arbeitnehmer bzw. Dienstverpflichteten mehrere Wochen Lohnfortzahlung gewähren zu müssen, ist für ihn das Risiko, auch im Falle eines Ansteckungsverdachts seiner Arbeitnehmer bzw. Dienstverpflichteten die Vergütung bei einem mindestens ein Jahr andauernden Beschäftigungsverhältnis für zwei Wochen weiterzahlen zu müssen, grundsätzlich kalkulierbar. Denn es kann vom bloßen Zufall abhängen, ob eine mit Krankheitserregern infizierte Person Symptome entwickelt und dadurch arbeitsunfähig erkrankt oder ob die Infektion symptomfrei verläuft und die Ausübung der Tätigkeit tatsächlich möglich bleibt. Eine Absonderungszeit von zwei Wochen erscheint auch nicht atypisch lang. Diese richtet sich regelmäßig nach der jeweiligen Inkubationszeit, die bei einigen Krankheitserregern nicht selten zwei Wochen bzw. beispielsweise bei einem grippalen Infekt zwei bis vierzehn Tage betragen kann. Zudem hat der Arbeitgeber bzw. Dienstberechtigte die Möglichkeit, § 616 Satz 1 BGB arbeitsvertraglich abzubedingen, um das das Risiko einer Lohnfortzahlung im Falle von Absonderungen ausschließen zu können." Rn. 32
Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich die Kammer an. Sie können auf den vorliegenden Fall übertragen werden. Dabei ist hier zusätzlich die Besonderheit des Pandemiegeschehens zum Zeitpunkt der Absonderung zu berücksichtigen. Zum damaligen Zeitpunkt der Anfangsphase der Pandemie wurde aufgrund der damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Inkubationszeit und der nur rudimentär vorhandenen Test- und Impfmöglichkeiten bei einem Ansteckungsverdacht regelmäßig eine 14-tägige Absonderung angeordnet (VG Minden, Urteil vom 15.11.22- 16 K 1556/21 -, juris Rn. 94). Unerheblich ist, dass im vorliegenden Fall eine Absonderung für 15 Tage in Rede steht. Denn auch eine Absonderung von 15 Tagen erscheint nicht atypisch lang.
Gegen das vorliegende Ergebnis spricht auch nicht, dass bei einer Anwendung von § 616 Satz 1 BGB auf 15-tägige Absonderungen für § 56 IfSG kein eigener Anwendungsbereich mehr verbliebe, weil in diesen Fällen stets ein Lohnfortzahlungsanspruch gemäß § 616 Satz 1 BGB bestehen würde.
Auch hierzu hat das Verwaltungsgericht Koblenz in seiner bereits mehrfach zitierten Entscheidung überzeugend ausgeführt:
"...Dies überzeugt jedoch nicht. Denn es verbleibt ein eigenständiger Anwendungsbereich für von vornherein auf unter ein Jahr befristete Arbeits- bzw. Dienstverhältnisse bzw. für unbefristete Beschäftigungsverhältnisse, die erst kürzer als ein Jahr andauern, sowie für Fälle, in denen der Lohnfortzahlungsanspruch gemäß § 616 Satz 1 arbeits- bzw. tarifvertraglich abbedungen worden ist. Darüber hinaus kommt § 56 Absätze 1 und 5 IfSG dann zum Tragen, wenn ein Lohnfortzahlungsanspruch nach § 616 Satz 1 BGB nicht besteht, etwa weil die Absonderungszeit erheblich länger als zwei Wochen beträgt und das Beschäftigungsverhältnis im Verhältnis dazu nicht so lange andauert, dass die Verhinderungszeit noch als verhältnismäßig unerheblich angesehen werden kann. Teilweise wird die Anwendung von § 616 Satz 1 BGB während einer Pandemie zulasten des Arbeitgebers bzw. Dienstberechtigten zudem als unbillig empfunden (so etwa Eufinger, a. a. O.). Dieser Auffassung vermag sich die Kammer ebenfalls nicht anzuschließen. Hintergrund für die Gewährung der infektionsschutzrechtlichen Billigkeitsentschädigung zugunsten von Arbeitnehmern und Dienstberechtigten ist die Tatsache, dass Ausscheider bzw. Abgesonderte ohne Verschulden eine Gefährdung der Allgemeinheit darstellen und dass zur Abwendung dieser Gefahr ein schwerwiegender Eingriff in ihre persönliche Freiheitssphäre erforderlich ist (Sitzungsprotokoll des Deutschen Bundesrats 1960, 215. Sitzung zur Vorgängerregelung des § 56 IfSG im Bundesseuchengesetz). In dieser Lage will der Staat den Betroffenen eine gewisse Sicherung vor materieller Not bieten (BT-Drucksache III/2662 zum Bundesseuchengesetz). Es war mit dieser Regelung aber nicht bezweckt, den Arbeitgebern bzw. Dienstberechtigten einen Schadensausgleich zu gewähren. Vielmehr werden diese hinreichend über die Tatbestandsvoraussetzung der "verhältnismäßig nicht erhebliche[n] Zeit" in § 616 Satz 1 BGB sowie der Möglichkeit zum arbeits- bzw. tarifvertraglichen Ausschluss von § 616 Satz 1 BGB geschützt." (Rn. 33).
Diese Erwägungen können hier ebenfalls herangezogen werden. Denn auch im vorliegenden Fall verbliebe ein Anwendungsbereich für § 56 IfSG für auf unter zwei Jahre befristete Arbeits- bzw. Dienstverhältnisse bzw. für unbefristete Beschäftigungsverhältnisse, die erst kürzer als zwei Jahre andauern.
Mangels Vorliegens eines Entschädigungsanspruchs von Dr. E. nach § 56 Abs. 1 IfSG a. F. hat die Klägerin weder einen Anspruch auf Erstattung des ihrer Arbeitnehmerin gezahlten Arbeitsentgelts noch auf Erstattung der für ihre Arbeitnehmerin abgeführten Sozialversicherungsbeiträge nach § 57 Abs. 1 Satz 4 IfSG a. F.. Denn ein Anspruch auf Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge setzt voraus, dass für die Arbeitnehmerin ein Entschädigungsanspruch nach § 56 Abs. 1 IfSG besteht, was hier nicht der Fall ist.
Gleichermaßen steht der Klägerin der geltend gemachte Zinsanspruch nicht zu.
Der Hilfsantrag bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Die Kammer vermag nicht zu erkennen, inwieweit mit dem Hilfsantrag etwas anderes als mit dem Hauptantrag beantragt wird. Der Hilfsantrag unterscheidet sich von dem Hauptantrag lediglich in der Wortwahl für das gleiche Klageziel. Mit dem Hauptantrag beantragt die Klägerin, die Verpflichtung des Beklagten zur "Erstattung" von an ihre Arbeitnehmerin gezahlten "Entschädigungsleistungen gem. § 56 IfSG" in Höhe von 2.665,05 Euro nebst Prozesszinsen. Mit dem Hilfsantrag beantragt sie die Verpflichtung des Beklagten, ihr "Entschädigungsleistungen gem. § 56 IfSG" für ihre Arbeitnehmerin in Höhe von 2.665,05 Euro nebst Prozesszinsen zu erstatten. Demnach geht es jeweils um die Erstattung ein und desselben Betrages in Höhe von 2.665,05 Euro nebst Prozesszinsen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.
Schneider