Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 10.09.2008, Az.: 5 A 150/05

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
10.09.2008
Aktenzeichen
5 A 150/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2008, 45600
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2008:0910.5A150.05.0A

In der Verwaltungsrechtssache

...

Streitgegenstand: Aufhebung eines Planfeststellungsbeschlusses,

hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 5. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 10. September 2008 durch den Präsidenten des Verwaltungsgerichts von Alten, die Richterin am Verwaltungsgericht von Seebach, die Richterin Madueño-Badet sowie die ehrenamtlichen Richter Rosin und Schiewe für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Der Planfeststellungsbeschluss des Beklagten vom 21. April 2005 wird aufgehoben.

  2. Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte.

  3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen den Planfeststellungsbeschluss für den Bau einer Ortskernentlastungsstraße durch das Gebiet der Beigeladenen.

2

Durch das Gebiet der Beigeladenen führt die Landestraße L 216 als Ortsdurchfahrt. Die L 216 verbindet die Bundesautobahn A 7 bei B. mit der Bundesautobahn A 250 im Ortsteil C. der Stadt Lüneburg. Der Kläger wohnt in einem Wohngebiet der Beigeladenen südlich von der L 216, das über die Straße D. erschlossen ist.

3

Bereits mit Beschluss vom 7. September 1992 hatte der Beklagte den Plan für den Bau einer Ortskernentlastungsstraße auf dem Gemeindegebiet der Beigeladenen festgestellt. Mit Gerichtsbescheid vom 26. April 1994 (2 A 213/92 ) hob das erkennende Gericht den Planfeststellungsbeschluss des Beklagten vom 7. September 1992 mit der Begründung auf, der Planfeststellungsbeschluss sei von einer unzuständigen Behörde erlassen worden. Bei der geplanten Ortskernentlastungsstraße handele es sich um eine Landesstraße, für die als Planfeststellungsbehörde nicht der Beklagte, sondern die Bezirksregierung zuständig gewesen sei. Der Planfeststellungsbeschluss sei darüber hinaus mangels einer zureichenden Verkehrsanalyse rechtswidrig. Auch die Entlastungsprognose sei fehlerhaft.

4

Am 19. April 2004 beantragte die Beigeladene erneut bei dem Beklagten die Durchführung des Planfeststellungsverfahrens für den Bau einer Ortskernentlastungsstraße in ihrem Gebiet. Den eingereichten Unterlagen zufolge soll die Ortskernentlastungsstraße am westlichen Ortseingang in Höhe der Einmündung L 216/E. beginnen und dann in südöstlicher Richtung in einem Abstand von ca. 155 Metern zur vorhandenen Bebauung des Gewerbegebietes "D." verlaufen. Im weiteren Verlauf soll sie den F. Weg, den G. und den H. Weg kreuzen, um am östlichen Ortsausgang wieder an die L 216 anzuschließen. Die Knotenpunkte E. /L 216, D., H. Weg und die Einmündung in die L 216 am östlichen Ortsausgang sind als vier Kreisverkehrsplätze geplant. In Höhe des G. es ist ein Fahrbahnteiler als Querungshilfe für Fußgänger und Radfahrer vorgesehen. Nach der Begründung des Planfeststellungsbeschlusses ist Ziel der gemeindlichen Planung die Herausnahme des Durchgangsverkehrs aus dem Ortskern und der gesamten Ortsdurchfahrt. Nach dem Verkehrsentwicklungsplan mit Stand Juli 2003 bewirke der Bau der Ortskernentlastungsstraße eine Entlastung der Ortsdurchfahrt um bis zu 10 600 Kfz/24 h. Neben einer Verbesserung des Wohnumfeldes soll eine Attraktivitätssteigerung des Ortszentrums erreicht werden. Zugleich sollen vorhandene Unfallgefahren und Behinderungen für den öffentlichen Personennahverkehr abgebaut werden. Die L 216 in der Ortsdurchfahrt soll ohne Einschränkungen durchgängig befahrbar bleiben. Der Beklagte veranlasste die Auslegung des Plans in Lüneburg und in der Samtgemeinde Gellersen. Dort lag der Plan vom 7. Juni bis 6. Juli 2004 bzw. vom 25. Juni bis 26. Juli 2004 aus.

5

Gegen die vorgesehene Planung wandte der Kläger mit Schreiben vom 25. Juni 2004 ein, er wohne ca. 170 m entfernt von dem geplanten Zubringer D.. Nach den Planungsunterlagen werde diese Straße eine wesentlich höhere Verkehrsbelastung aufnehmen. Dies führe zu einer Minderung seiner Lebensqualität. Die Planung sei rechtswidrig. Der Sache nach handele es sich um eine Umgehungsstraße. Für diese sei nicht der Beklagte, sondern das Land Niedersachsen zuständig. Dieses hätte bessere Alternativen geprüft.

6

Am 3. und 15. November 2004 fanden Termine zur Erörterung der Einwendungen statt.

7

Mit Beschluss vom 21. April 2005 stellte der Beklagte den Plan für den Bau einer Ortskernentlastungsstraße durch das Gemeindegebiet der Beigeladenen antragsgemäß fest. Die Einwendungen des Klägers wies er als unbegründet zurück.

8

Der Kläger hat am 13. Mai 2005 Klage erhoben. Er vertieft sein Vorbringen aus dem Einwendungsverfahren. Ergänzend führt er aus, die Prognose über die zukünftige Verkehrsentwicklung sei fehlerhaft. Es lasse sich nicht nachvollziehen, wie die Verkehrsmengen errechnet worden seien. Die Prognose beruhe auf unzutreffendem Tatsachenmaterial.

9

Der Kläger beantragt,

  1. den Planfeststellungsbeschluss des Landkreises Lüneburg vom 21. April 2005 aufzuheben.

10

Der Beklagte beantragt,

  1. die Klage abzuweisen.

11

Er trägt zur Begründung vor, die Klage sei unzulässig. Der Kläger sei nicht klagebefugt. Eine mögliche Beeinträchtigung seiner subjektiven Rechte sei von vornherein auszuschließen. Die zu erwartende Lärmbelästigung sei unbeachtlich. Infolge des Vorhabens sei für ihn mit einer Verringerung des Verkehrslärms zu rechnen. Ungeachtet dessen sei die Klage auch unbegründet. Der angefochtene Planfeststellungsbeschluss sei rechtmäßig. Bei der geplanten Ortskernentlastungsstraße handele es sich um eine Gemeindestraße. Ziel der Planung sei die Herausnahme des Verkehrs aus dem Ortskern sowie der gesamten Ortsdurchfahrt. Neben einer Verbesserung des Wohnumfeldes solle eine Attraktivitätssteigerung des Ortszentrums erreicht werden. Diese Ziele seien nicht vorgeschoben. Es würden legitime, im öffentlichen Interesse liegende planerische Interessen verfolgt. Auch die objektiv zu ermittelnde Verkehrsbedeutung lasse keine andere Klassifizierung der Straße zu. Bei der Planung einer Umgehungsstraße wäre eine vorfahrtberechtigte Führung der L 216 an die neue Trasse zu erwarten gewesen. Hier erfolge eine Anbindung durch Kreisverkehrsplätze. Die L 216 verlaufe weiterhin durch den Ortsbereich und bleibe uneingeschränkt befahrbar. Außerdem seien mehrere Anbindungen an den Siedlungsbereich vorgesehen. Ungeachtet dessen wäre er selbst dann zuständig, wenn es sich um eine Landesstraße handeln solle.

12

Die Planung sei hinreichend gerechtfertigt. Dies ergebe sich bereits aus der Entlastungsfunktion der Ortskernentlastungsstraße. Die L 216 sei nachweislich bereits jetzt durch Verkehr überlastet. Entgegen der Auffassung des Klägers sei die Prognoseentscheidung nicht zu beanstanden. Abwägungsmängel seien nicht erkennbar. Die Belange des Klägers seien ausreichend eingestellt worden.

13

Die Beigeladene beantragt,

  1. die Klage abzuweisen.

14

Sie hat sich den Ausführungen des Beklagten angeschlossen und ergänzend vorgetragen, bei der planfestgestellten Straße handele es sich um eine Gemeindestraße. Sie werde voraussichtlich 64,8 % Gemeindestraßenverkehre, 20,9 % Kreisstraßenverkehre und 14,3 % Landes- oder Bundesstraßenverkehre aufnehmen und damit überwiegend dem Gemeindestraßenverkehr dienen. Auch werde sie mit einem Querschnitt von nur 9,50 m nicht den Anforderungen einer Landesstraße genügen.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

16

Die Klage ist zulässig und begründet.

17

Der Kläger ist klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO). Es besteht die Möglichkeit einer Verletzung des Klägers in eigenen Rechten. Die von dem planfestgestellten Vorhaben zu erwartenden Emissionen werden ihn mehr als nur geringfügig betreffen. Wann eine mehr als nur geringfügige Betroffenheit anzunehmen ist, lässt sich nicht einheitlich, sondern nur unter Einbeziehung der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilen. Dabei sind in die Betrachtung nicht nur die sich mit und ohne das Vorhaben ergebenden Unterschiede in den Lärmmesswerten einzubeziehen. Vielmehr sind auch die allgemeinen Wohn- und Lebensverhältnisse in dem betroffenen Gebiet zu berücksichtigen ( BVerwG, Beschluss vom 19.2.1992 - 4 NB 11/91 - juris; Beschluss vom 20.12.1988 - 7 NB 2.88 - BVerwGE 81, 128, 138; Beschluss vom 9.11.1979 - 4 N 1.78  u.a. - BVerwGE 59, 87, 103 ).

18

Nach diesen Maßgaben ist der Kläger mehr als nur geringfügig betroffen. Er wohnt gegenwärtig in einem sehr ruhigen und verkehrsarmen Gebiet. Nach dem Ergebnis des dem Planfeststellungsbeschluss zugrunde liegenden Verkehrsgutachtens führt eine Anbindung der Straße D. an die geplante Ortskernentlastungsstraße dazu, dass diese Straße einen nicht unbeträchtlichen Teil des Verkehrs aufnehmen wird. Der Beklagte selbst rechnet mit einem Verkehrszuwachs um ca. 23 % auf 1 600 Kfz/24 h. Die Auswirkungen auf die Wohnsituation des Klägers können weder im Hinblick auf die ca. 170 m entfernt verlaufende Straße D. noch hinsichtlich der ca. 450 m südlich verlaufenden Trasse der Ortskernentlastungsstraße als nur geringfügig angesehen werden. Dass nach Ausführungen des Beklagten die Lärmbeeinträchtigung am Wohnhaus des Klägers die Immissionsgrenzwerte der Verkerhrslärmschutzverordnung nicht erreicht, führt zu keiner anderen Beurteilung.

19

Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Planfeststellungsbeschluss des Beklagten vom 21. April 2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

20

Rechtsgrundlage für den Planfeststellungsbeschluss ist § 38 NStrG. Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift dürfen Landes- und Kreisstraßen nur gebaut oder verändert werden, wenn der Plan vorher festgestellt ist. Nach § 38 Abs. 1 Satz 2 NStrG bedarf der Bau oder die Änderung von Gemeindestraßen der vorherigen Planfeststellung, wenn - wie hier - hierfür eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen ist. Bei der Planfeststellung sind die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange abzuwägen (§ 38 Abs. 2 Satz 1 NStrG). Gemäß § 38 Abs. 5 Satz 1 NStrG nehmen u.a. die Landkreise die Aufgaben der Planfeststellungsbehörde für Kreisstraßen und für Gemeindestraßen, für die eine Planfeststellung durchgeführt wird, als Aufgabe des eigenen Wirkungskreises und für Bundes- und Landesstraßen als Aufgabe des übertragenen Wirkungskreises wahr.

21

Der angefochtene Planfeststellungsbeschluss ist formell rechtswidrig. Die Planfeststellung wurde von der Beigeladenen als nicht zuständigem Vorhabenträger beantragt und daraufhin von dem Beklagten entsprechend beschlossen. Die Beigeladene ist gemäß §§ 48 Satz 1, 9 Abs. 1 NStrG nur für den Bau von Gemeindestraßen zuständig. Zu den Gemeindestraßen gehören gemäß § 47 NStrG die Ortsstraßen, also diejenigen Straßen in Baugebieten und, soweit solche nicht ausgewiesen sind, in Ortsteilen, die im Zusammenhang bebaut sind, mit Ausnahme von Bundes-, Landes- und Kreisstraßen (Nr. 1), die Gemeindeverbindungsstraßen, also die Straßen im Außenbereich, die vorwiegend dem nachbarlichen Verkehr der Gemeinden oder Ortsteile untereinander oder den Verkehr mit anderen öffentlichen Verkehrswegen vermitteln (Nr. 2), und alle anderen Straßen im Außenbereich, die eine Gemeinde für den öffentlichen Verkehr gewidmet hat (Nr. 3). Gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 5 NGO erfüllen die Samtgemeinden (hier die Samtgemeinde Gellersen) die Aufgabe des Baus und der Unterhaltung der Gemeindeverbindungsstraßen für ihre Mitgliedsgemeinden (hier also für die Beigeladene). Bei der planfestgestellten Ortskernentlastungsstraße handelt es sich um keine Gemeindestraße in diesem Sinne.

22

Die Klassifizierung einer Straße richtet sich gemäß § 3 Abs. 1 NStrG nach ihrer Verkehrsbedeutung. Nach Nr. 1 der Vorschrift sind Landesstraßen Straßen, die innerhalb des Landesgebiets untereinander oder zusammen mit den Bundesfernstraßen ein Verkehrsnetz bilden und überwiegend einem über das Gebiet benachbarter Landkreise und kreisfreien Städten hinausgehenden Verkehr, insbesondere dem Durchgangsverkehr, dienen oder zu dienen bestimmt sind. Kreisstraßen sind solche, die überwiegend dem Verkehr zwischen benachbarten Landkreisen und kreisfreien Städten, dem überörtlichen Verkehr innerhalb eines Landkreises oder dem unentbehrlichen Anschluss von Gemeinden oder räumlich getrennten Ortsteilen an überörtliche Verkehrswege dienen oder zu dienen bestimmt sind (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 NStrG). Gemeindestraßen sind gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 NStrG Straßen, die überwiegend dem Verkehr innerhalb einer Gemeinde oder zwischen benachbarten Gemeinden dienen oder zu dienen bestimmt sind. Das Gesetz knüpft mit dem Begriff "dienen" an die von einer Straße tatsächlich vermittelten räumlichen Verkehrsbeziehungen an. Insoweit ist maßgeblich, welchen Charakter der Verkehr aufweist, der eine Straße überwiegend nutzt bzw. - im Fall einer neu zu bauenden Straße - nutzen wird, und welche Funktion die Straße im Verkehrsnetz nach objektiven Kriterien hat bzw. haben wird. Wie die Anfügung der Worte "zu dienen bestimmt sind" weiter erkennen lässt, ist außerdem die Zweckbestimmung der Straße zu berücksichtigen. Maßgeblich ist insoweit die aus den Gesichtspunkten des Verkehrsbedürfnisses und der Verkehrslenkung angestrebte Verkehrsbedeutung ( Nds. OVG, Urteil vom 14.2.1994 - 12 L 7201/91 - NdsVBl. 1994, 18; Urteil vom 12.9.1994 - 12 L 7394/91 - NdsVBl. 1995, 163; Beschluss vom 11.1.2006 - 7 ME 288/04 - NVwZ-RR 2006, 378 ff.; Wendrich, NStrG, 4. Aufl., 2000, § 3 Rdn. 2).

23

Nach diesen Maßgaben handelt es sich bei der planfestgestellten Straße nicht um eine Gemeindestraße, sondern um eine Landesstraße. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

24

Nach den Ermittlungen des Beklagten dient die gegenwärtige Landesstraße L 216 zu ca. 38 % dem Durchgangsverkehr, zu ca. 51 % dem Ziel- und Quellverkehr und zu ca. 11 % dem Binnenverkehr. Sie verbindet die Bundesautobahn A 7 bei B. mit der Bundesautobahn A 250 im Ortsteil C. der Stadt Lüneburg. Nach ihrer Funktion im Verkehrsnetz handelt es sich bei der L 216 um eine wichtige Ost-West-Verbindung im übergeordneten Straßennetz. Ihre Bedeutung für den über das Gebiet der Beigeladenen und des Beklagten hinausgehenden und auch den Durchgangsverkehr umfassenden Verkehr rechtfertigt ihre Einstufung als Landesstraße. Dass - ausgehend von den angegebenen Zahlen - der Durchgangsverkehr als Verkehrsart nicht der prozentual überwiegende ist, ändert hieran nichts.

25

Nach Ziffer III Nr. 1 der Begründung des Planfeststellungsbeschlusses (S. 4) ist Ziel der Planung für den Bau der Ortskernentlastungsstraße durch das Gebiet der Beigeladenen die Herausnahme des Durchgangsverkehrs aus dem Ortskern und der gesamten Ortsdurchfahrt. Bestätigt wird dies durch die Erläuterungen unter Ziffer III Nr. 3 der Begründung des Planfeststellungsbeschlusses (S. 5/6). Danach widerspreche die Nullvariante "eindeutig" dem Ziel der Gemeinde J., den Ortskern vom Durchgangsverkehr zu entlasten. Nach der unter den Gesichtspunkten des Verkehrsbedürfnisses und der Verkehrslenkung angestrebten Verkehrsbedeutung soll die geplante Straße mithin den überörtlichen und örtlichen Durchgangsverkehr von der L 216 aufnehmen. Der Vortrag des Beklagten und der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung, bei der Abfassung des angefochtenen Planfeststellungsbeschlusses sei man von einem anderen Verständnis des Begriffs des Durchgangsverkehrs ausgegangen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Die Kammer hat keinen Zweifel daran, dass hiervon primär auch der gegenwärtig die L 216 nutzende überörtliche und örtliche Durchgangsverkehr erfasst werden sollte. Bereits diese Zielsetzung widerspricht der Einstufung der Straße als Gemeindestraße (vgl. dazu Nds. OVG, Beschluss vom 11.1.2006 - 7 ME 288/04 - a.a.O.).

26

Auch die Lage der geplanten Straße spricht gegen ihre Einstufung als Gemeindestraße. Sie soll die gegenwärtig bebaute Ortslage in südlicher Richtung im Außenbereich großräumig umrunden. Die ganz überwiegende Wohnbebauung im Gebiet der Beigeladenen befindet sich nördlich der Ortsdurchfahrt. Eine unmittelbare Erschließungsfunktion soll der geplanten Straße nicht zukommen. Dies gilt auch im Hinblick auf die Baugebiete am G.. Der G. erhält nach dem Planfeststellungsbeschluss keinen Anschluss an die Ortskernentlastungsstraße. Es ist lediglich ein Fahrbahnteiler als Querungshilfe für Fußgänger und Radfahrer vorgesehen. Die Bewohner dieser Baugebiete sind damit auch künftig auf die bestehende Ortsdurchfahrt angewiesen und können nicht unmittelbar die geplante Ortskernentlastungsstraße nutzen. Dass die Ortskernentlastungsstraße daneben auch eine gewisse Erschließungsfunktion für das Gewerbegebiet südlich der L 216 haben wird, ist nur von untergeordneter Bedeutung.

27

Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist davon auszugehen, dass die dem Planfeststellungsbeschluss zugrunde liegende Funktion der geplanten Ortskernentlastungsstraße im Verkehrsnetz die einer Landesstraße sein wird. Die geplante Straße soll eine neue Verbindung zwischen den jeweils außerhalb des Ortskerns gelegenen Punkten an der L 216 unter Umfahrung der vorhandenen Ortsdurchfahrt der L 216 herstellen. Dadurch, dass sie - wie dargelegt - vorrangig auf die Aufnahme des die Landesstraße nutzenden überörtlichen und örtlichen Durchgangsverkehrs abzielt, übernimmt sie anstelle des innerörtlichen Teilstücks der L 216 deren Verbindungs- und Netzfunktion. Sie übernimmt damit auch deren überörtlichen Charakter. Weder die Verbindungs- und Netzfunktion noch der überörtliche Charakter der geplanten Straße wird dadurch in Frage gestellt, dass auch Gemeinde- und Kreisstraßenverkehre die Straße nutzen werden. Insoweit gilt nichts anderes als bei der Einstufung der gegenwärtigen L 216 selbst. Dass nach den Vorstellungen des Beklagten und der Beigeladenen die Ortsdurchfahrt eine Landesstraße bleiben soll, führt zu keiner anderen Beurteilung. Für die Einstufung einer Straße ist nicht der Wille des Vorhaben- oder des Planungsträgers maßgeblich, sondern ob eine Straße der jeweiligen Einstufung gemäß § 3 NStrG entspricht. Entspricht die Einstufung einer Straße nicht mehr ihrer Verkehrsbedeutung, so ist sie gemäß § 7 Abs. 1 NStrG in die entsprechende Straßengruppe (§ 3 NStrG) umzustufen. Die Einstufung der Straße im Straßennetz steht nicht im Ermessen der Behörde ( Nds. OVG, Urteil vom 14.2.1994 - 12 L 7201/91 - NdsVBl. 1994, 18; Urteil vom 12.9.1994 - 12 L 7394/91 - NdsVBl. 1995, 163; BVerwG, Urteil vom 11.11.1983 - 4 C 41.80 - DÖV 1984, 429).

28

Dass die planfestgestellte Straße in der Nähe von vorhandenen bzw. geplanten Baugebieten verläuft und neben den zwei Knotenpunkten westlich und östlich der Ortslage zwei weitere als Kreisverkehre gestaltete Anbindungen an untergeordnete Straßen aufweisen soll, führt ebenfalls zu keiner anderen Beurteilung. Diese Umstände haben keine maßgeblichen Auswirkungen auf die Funktion der geplanten Straße im Verkehrsnetz und ihre Verkehrsbedeutung. Ungeachtet ihrer Lage und der vorgesehenen Kreuzungspunkte mit Kreisverkehren soll die Ortskernentlastungsstraße den Durchgangsverkehr von der Ortsdurchfahrt der Beigeladenen aufnehmen. Es ist daher auch nicht ersichtlich, dass sich die nunmehr geplante Ortskernentlastungsstraße von der im Jahr 1992 geplanten Straße in wesentlicher Hinsicht unterscheidet. Das erkennende Gericht hatte dazu bereits mit Gerichtsbescheid vom 26. April 1994 (2 A 213/92 ) entschieden, dass es sich bei der geplanten Ortskernentlastungsstraße um eine Landesstraße handelte. Auch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (Beschluss vom 16.12.1993 - 7 M 2914/93 -) hatte im Verfahren um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes diese Auffassung vertreten. Maßgebliche Umstände, die zu einer anderen Einstufung der nunmehr geplanten Straße führen, sind weder im streitbefangenen Planfeststellungsbeschluss dargelegt, noch vom Beklagten vorgetragen oder sonst erkennbar (s. im Ergebnis bereits VG Lüneburg, Beschluss vom 18.4.2006 - 5 B 11/06 -).

29

Danach ist von der fehlenden Zuständigkeit der Beigeladenen als Vorhabenträger auszugehen. Träger der Straßenbaulast für Landesstraßen ist nach § 43 Abs. 1 Satz 1 NStrG das Land Niedersachsen. Die Straßenbaulast des Landes ist nicht etwa wirksam auf die Beigeladene übertragen worden. Nach § 45 Abs. 1 NStrG findet § 43 NStrG keine Anwendung, soweit die Straßenbaulast nach anderen gesetzlichen Vorschriften Dritten obliegt oder von diesen in öffentlich-rechtlich wirksamer Weise übernommen wird. Eine Straßenbaulast der Beigeladenen ergibt sich vorliegend weder aus anderen gesetzlichen Vorschriften, noch liegt ein öffentlich-rechtlicher Vertrag zwischen dem Land und der Beigeladenen über die Übernahme der Straßenbaulast vor. Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 NStrG, wonach der zuständige Minister die Straßenbaulast auf andere Selbstverwaltungskörperschaften auf deren Antrag übertragen kann, liegen nicht vor.

30

Ist die geplante Straße mithin eine Landesstraße im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 NStrG, ist der angefochtene Planfeststellungsbeschluss auch deswegen rechtswidrig, weil der Beklagte seine Aufgabe als Planfeststellungsbehörde gemäß § 38 Abs. 5 NStrG nicht als Aufgabe im übertragenen, sondern im eigenen Wirkungskreis wahrgenommen hat.

31

Die dargestellten Verfahrensmängel führen zur formellen Rechtswidrigkeit des Planfeststellungsbeschlusses und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Auf eine Verletzung von Verfahrensvorschriften kann sich ein - wie hier - mittelbar Betroffener dann stützen, wenn nach den Umständen des Falles die konkrete Möglichkeit besteht, dass die Planung ohne den Verfahrensfehler anders ausgefallen wäre ( BVerwG, Urteil vom 9.6.2004 - 9 A 11.03 - BVerwGE 121, 72, 76; Urteil vom 19.5.1998 - 4 A 9.97 - BVerwGE 107, 1, 4; s. auch Ziekow, Praxis des Fachplanungsrechts, 2004, Rn. 866 m.w.N. aus der Rspr.). Das ist der Fall. Die richtige Klassifizierung einer Straße gehört zu den zwingenden rechtlichen Rahmenbedingungen der Planung und des Baus einer Straße ( Nds. OVG, Beschluss vom 11.1.2006 - 7 ME 288/04 - a.a.O.). Die gesetzlichen Vorgaben für den Bau einer Landesstraße weichen von denen für den Bau einer Gemeindestraße in entscheidenden Punkten ab. Wie dargelegt ist Träger der Straßenbaulast für eine Landesstraße das Land Niedersachsen. In diesen Fällen trägt das Land die finanzielle Verantwortung für das Vorhaben. Die Planung und Linienführung obliegt dem zuständigen Minister gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 NStrG. Unterschiede bestehen hinsichtlich der Errichtung von Zufahrten der Straßenanlieger (§ 20 Abs. 2 NStrG) sowie der Errichtung baulicher Anlagen (§ 24 Abs. 1 NStrG). Unter diesen Umständen besteht die konkrete Wahrscheinlichkeit, dass bei Vermeidung des Zuständigkeitsfehlers das Vorhaben entweder gar nicht oder nicht in der im Planfeststellungsbeschluss vom 21. April 2005 vorgesehenen Weise ausgeführt würde.

32

Mit diesem Einwand ist der Kläger nicht gemäß § 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 73 Abs. 4 Satz 3 VwVfG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind mit Ablauf der Einwendungsfrist im Planfeststellungsverfahren alle dort nicht erhobenen Einwendungen ausgeschlossen, die nicht auf besonderen privatrechtlichen Titeln beruhen. Es kann hier dahinstehen, ob es sich bei der Rüge der fehlerhaften Klassifizierung und der daraus folgenden sachlichen Unzuständigkeit nach Sinn und Zweck des § 73 Abs. 4 Satz 3 VwVfG um eine Einwendung im Sinne der genannten Vorschrift handelt. Der Kläger hat die Klassifizierung der geplanten Straße in seinem Einwendungsschreiben vom 25. Juni 2004 ausdrücklich gerügt.

33

Der Zuständigkeitsfehler ist auch nicht aus anderen Gründen unbeachtlich. Insbesondere liegt kein Fall des § 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 46 VwVfG vor. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 44 VwVfG nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung u.a. von Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Es liegt kein Fall der örtlichen, sondern der sachlichen Unzuständigkeit von Beigeladenem und Beklagtem vor.

34

Wie dargelegt kann auch nicht angenommen werden, dass die Verletzung der Zuständigkeitsvorschriften die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat oder ein Aufhebungsanspruch des Klägers deswegen entfallen könnte, weil die Behörde alsbald eine inhaltsgleiche Verfügung erneut erlassen müsste ( Nds. OVG, Beschluss vom 11.1.2006 - 7 ME 288/04 - a.a.O.).

35

Die Kammer sieht Veranlassung darauf hinzuweisen, ohne dass die Entscheidung darauf gestützt werden soll, dass der angefochtene Planfeststellungsbeschluss, soweit er im Übrigen infolge der Klage des Klägers als mittelbar Betroffenem einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich ist, nicht zu beanstanden sein dürfte. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine volle gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit und damit auch der Planrechtfertigung. Er hat ein subjektiv-öffentliches Recht darauf, dass seine Belange angemessen abgewogen werden. Die fachplanerischen Abwägungsvorschriften entfalten insoweit zu seinen Gunsten drittschützende Wirkung. Das Gewicht individueller Immissionsschutzbelange steht in einer unauflöslichen Wechselbeziehung zu dem Gewicht der für das Planvorhaben angeführten Gründe. Je gewichtiger die individuellen Belange sind, die nach den konkreten örtlichen Verhältnissen zu erwarten sind, desto dringlicher muss der Verkehrsbedarf sein, der als Rechtfertigung für die Beeinträchtigung dient ( BVerwG, Urteil vom 16.3.2006 - 4 A 1075/04 - BVerwGE 125, 116, 205 ).

36

Nach diesen Maßgaben ist die straßenrechtliche Planung wohl hinreichend gerechtfertigt. Bereits die in der Planbegründung unter III.1. angeführte gegenwärtige Verkehrssituation dürfte die Rechtfertigung für den Bau einer Straße begründen. Auch die behördliche Prognose der weiter zu erwartenden Verkehrsentwicklung dürfte gerichtlich nicht zu beanstanden sein und deswegen den Plan rechtfertigen. Das Gericht prüft insoweit nur, ob die Prognose nach einer geeigneten Methode durchgeführt wurde, ob der der Prognose zugrunde gelegte Sachverhalt zutreffend ermittelt wurde und ob das Ergebnis einleuchtend begründet ist ( BVerwG, Urteil vom 11.7.2001 - 11 C 14.00 - BVerwGE 114, 364, 378 ). Das ist hier der Fall. Die behördliche Prognose beruht auf Untersuchungen des Dipl.-Ing. I., der bei seinen Berechnungen u.a. die bisherige Entwicklung der Verkehrsmengen auf der Landesstraße L 216, wie sie sich aus den DTV-Zählungen des Straßenbauamts Lüneburg seit 1970 ergibt, und die voraussichtlichen Entwicklungen infolge etwa gesteigerter Mobilitätswünsche sowie Bautätigkeit und Neuansiedlung westlich von J. berücksichtigt hat. Anhaltspunkte dafür, dass diese Berechnungen auf der Grundlage ungeeigneter Methoden oder eines falschen Sachverhalts durchgeführt wurden, sind weder hinreichend substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Ausgehend von den zugrunde gelegten Annahmen ist die gutachterliche und die sich darauf stützende behördliche Prognose nachvollziehbar. Ob und inwieweit sie sich bewahrheiten wird, ist nicht Gegenstand gerichtlicher Kontrolle.

37

Der Beklagte hat die individuellen Belange des Klägers gesehen und sie mit dem gebührenden Gewicht in die Abwägung eingestellt. Insbesondere die zu erwartenden Lärmbelästigungen begründen für den Kläger keine unverhältnismäßige Belastung.

38

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Absätze 1 und 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.

39

Gründe, die Berufung zuzulassen (§ 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO) sind nicht ersichtlich.

Streitwertbeschluss:

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 15 000,- EUR festgesetzt.

von Alten
von Seebach
Madueño-Badet
Rosin
Schiewe