Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 25.04.2008, Az.: 2 B 65/08
Anwendbarkeit des § 99 Abs. 1 Bauordnung Niedersachsen (NBauO) auf nach Inkrafttreten der NBauO am 01.01.1974 genehmigte Bauvorhaben; Rechtmäßigkeit eines Anpassungsverlangens einer Bauaufsichtsbehörde zur Errichtung von Notleitern als zweiter Rettungsweg unter Widerruf einer ursprünglich erteilten Baugenehmigung
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 25.04.2008
- Aktenzeichen
- 2 B 65/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 16071
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2008:0425.2B65.08.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- § 80 Abs. 5 VwGO
- § 89 BauO,NI
- § 99 Abs. 1 BauO,NI
- § 99 Abs. 2 BauO,NI
- § 99 Abs. 4 BauO,NI
Amtlicher Leitsatz
§ 99 Abs. 1 NBauO findet auf Bauvorhaben, die nach Inkrafttreten der NBauO am 01.01.1974 genehmigt wurden keine Anwendung
Gründe
I .
Der Antragsteller wehrt sich gegen ein auf § 99 NBauO gestütztes Anpassungsverlangen der Antragsgegnerin.
Er ist Eigentümer des Grundstücks E. x in D., welches mit einem Wohn- und Geschäftshaus bebaut ist. Das Hauptgebäude steht an der E., das Nebengebäude im rechten Winkel dazu an der Grenze zu dem Nachbargrundstück. Die Wohnungen Nr. 8, 11 und 12 im dritten Obergeschoss sowie die Wohnung Nr. 14 im Dachgeschoss haben lediglich Fenster zu einem Innenhof, der ausschließlich über einen drei Meter breiten Durchgang von der E. her zu erreichen ist. Das Gebäude verfügt über ein einziges Treppenhaus und einen Fahrstuhl, was der Baugenehmigung vom 18.01.1982 in der Fassung des ersten Nachtrags vom 01.07.1983 entspricht.
Bei einer im Februar 2007 durchgeführten hauptamtlichen Brandschau wurde u.a. festgestellt, dass für das dritte und vierte Obergeschoss im Hauptgebäude und für das dritte Obergeschoss im Nebengebäude der zweite unabhängige Rettungsweg fehlt. Nach mehreren Gesprächen mit dem Antragsteller und einer förmlichen Anhörung ordnete die Antragsgegnerin mit Verfügung vom 29.01.2008 an, das Haus E. x in D. mit zwei Notleitern DIN 14094 "Notleitern" an der Außenfassade zur Herstellung des zweiten Rettungsweges für die Wohnungen Nr. 8, 11 und 12 im dritten Obergeschoss sowie die Wohnung Nr. 14 im Dachgeschoss zu versehen; die genaue Positionierung der Notleitern sei den als Anlage beigefügten Plänen zu entnehmen; die Anordnung sei bis zum 29.02.2008 durchzuführen. Die Antragsgegnerin ordnete die sofortige Vollziehung der Verfügung an und drohte für den Fall der Nichtbefolgung bis zum 29.02.2008 ein Zwangsgeld in Höhe von 2.000,00 EUR an. Die Verfügung wurde im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Baugenehmigung von 1982/1983 sei rechtmäßig gewesen, weil die NBauO in der damaligen Fassung die Errichtung eines zweiten Rettungsweges nicht verlangt habe, wenn - was hier der Fall sei - der Treppenraum an einer Außenwand liege; infolge einer Änderung der NBauO sei jedoch seit 1986 die Errichtung eines zweiten Rettungsweges notwendig; die entsprechende Bestimmung stelle eine Konkretisierung des § 1 Abs. 1 NBauO dar, weshalb ein Anpassungsverlangen nach § 99 NBauO geltend gemacht werden könne; hier sei eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben der Bewohner der in der Verfügung genannten Wohnungen gegeben, weil für sie akute Lebensgefahr bestehe, wenn der - einzige - Treppenraum brenne oder verqualmt sei; die Drehleiter der Feuerwehr könne nicht auf den Innenhof des Gebäudes verbracht werden; ein Anleitern mit einer Steckleiter sei nur bis zum zweiten Obergeschoss möglich; die seinerzeit erteilte Baugenehmigung werde gem. § 99 Abs. 4 NBauO insoweit widerrufen, deshalb erhalte der Antragsteller auch keine anteilige Entschädigung; da sich die Gefahr für Leib oder Leben bereits bis zur Bestandskraft des Verwaltungsaktes verwirklichen könne, werde seine sofortige Vollziehung angeordnet.
Der Antragsteller erhob am 06.02.2008 Widerspruch und beantragte zugleich die Aussetzung der Vollziehung der Verfügung gem. § 80 Abs. 4 VwGO. Bei einer gemeinsamen Hausbesichtigung am 14.02.2008 kamen die Beteiligten überein, dass der Anbringungsort der Notleiter an der Rückseite des straßenseitigen Gebäudeteils ungeeignet sei und dass stattdessen ein anderer Anbringungsort gewählt werde. Die Antragsgegnerin teilte dem Antragsteller über seinen Prozessbevollmächtigten unter dem 04.03.2008 das Ergebnis dieses Gesprächs schriftlich mit, wies zugleich aber darauf hin, dass alle übrigen Regelungen des Bescheides vom 29.01.2008 davon unberührt blieben.
Ebenfalls am 14.02.2008 hat der Antragsteller um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Er macht im Wesentlichen geltend: Die ihm gesetzte Frist sei unzureichend; die Antragsgegnerin gehe nicht flächendeckend oder zumindest systematisch vor; als mildere Maßnahme komme möglicherweise die Errichtung einer Brandmeldeanlage in Frage; die Antragsgegnerin habe die Qualität des ersten Rettungsweges unzureichend geprüft; es fehle die in § 99 Abs. 4 vorgesehene teilweise Rücknahme der Baugenehmigung; überhaupt sei diese Vorschrift gar nicht anwendbar, weil sie nur für bauliche Anlagen gelte, die vor dem 01.01.1974 errichtet oder begonnen worden seien.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 29.01.2008 in der Fassung vom 14.02.2008 wiederherzustellen bzw. anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie trägt vor: Während § 99 Abs. 1 NBauO nur den Rechtsübergang zum Inkrafttreten der NBauO regele, gebe Abs. 2 der Bestimmung der Bauaufsichtsbehörde die Möglichkeit, bauliche Anlagen auch für die Zeit danach anzupassen; wäre dem nicht so, müsste die Anwendbarkeit von § 99 NBauO für nach 1974 errichtete bauliche Anlagen jedenfalls im Wege der Analogie entwickelt werden; wegen der von dem Fachdienst Vorbeugender Brandschutz festgestellten akuten Lebensgefahr im Falle eines Brandes im Treppenraum komme es auf die Qualität des ersten Rettungsweges nicht an; ein Teilwiderruf der dem Antragsteller erteilten Baugenehmigung in den Gründen des Bescheides genüge; die ihm gesetzte Frist sei nicht zu kurz bemessen; die Änderungsverfügung vom 14.02.2008 habe mündlich ergehen dürfen; in vergleichbaren Situationen würden auch an andere Hauseigentümer Anpassungsverlangen ergehen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze und auf die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen. Die Unterlagen waren Gegenstand der Beratung.
II .
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist statthaft, weil dem Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 29.01.2008 gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO bzw. §§ 80 Abs. 2 S. 2 VwGO, 64 Abs. 4 S. 1 NSOG weder hinsichtlich der bauaufsichtlichen Anordnung selbst noch im Hinblick auf die Zwangsgeldandrohung aufschiebende Wirkung zukommt. Der auch im Übrigen zulässige Antrag ist begründet.
In dem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Verwaltungsgericht das Interesse des Antragstellers daran, von dem Vollzug der streitbefangenen Verfügung vorläufig verschont zu bleiben, gegen das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung der Maßnahme gegeneinander abzuwägen. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung einer Verfügung fehlt in aller Regel, wenn das Gericht die Verfügung nach der in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für rechtswidrig hält. So ist es auch hier.
§ 99 NBauO ist keine taugliche Rechtsgrundlage für das Verlange der Antragsgegnerin, Notleitern als zweite Rettungswege an dem Gebäude E. x in D. anzubringen. In der Verfügung wird § 99 Abs. 2 und 4 NBauO als Rechtsgrundlage benannt; bereits das erscheint fehlerhaft. Nach § 99 Abs. 1 NBauO brauchen bauliche Anlagen, die vor dem 1. Januar 1974 rechtmäßig errichtet oder begonnen wurden oder am 1. Januar 1974 aufgrund einer Baugenehmigung oder Bauanzeige errichtet werden dürfen, an Vorschriften dieses Gesetzes, die vom bisherigen Recht abweichen, nur in den Fällen der Absätze 2 bis 4 angepasst zu werden. Nach Abs. 2 kann die Bauaufsichtsbehörde eine Anpassung verlangen, wenn dies zur Erfüllung der Anforderungen des § 1 Abs. 1 (also zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit) erforderlich ist. Soweit bauliche Anlagen an die Vorschriften dieses Gesetzes anzupassen sind, können gemäß Abs. 4 S. 1 der Bestimmung nach bisherigem Recht erteilte Baugenehmigung ohne Entschädigung widerrufen werden. Die Antragsgegnerin will die angefochtene Maßnahme offenbar nur auf § 99 Abs. 2 (und 4) NBauO stützen, ohne Abs. 1 der Bestimmung ergänzend heranzuziehen. Das Gericht versteht die Vorschrift hingegen so, dass die Ermächtigungsgrundlage für ein Verlangen der Bauaufsichtsbehörde, eine bauliche Anlage an moderne bauordnungsrechtliche Vorschriften (eben solche der NBauO) anzupassen, ausschließlich in Abs. 1 von § 99 zu finden ist, und dass die Absätze 2 bis 4 lediglich weitere Voraussetzungen und Modalitäten eines derartigen Anpassungsverlangens regeln. Das ergibt sich aus der Verweisung in Abs. 1 auf die "Fälle der Absätze 2 bis 4" und daraus, dass die baulichen Anlagen, die von der Regelung betroffen sein sollen, in den Absätzen 2 bis 4 selbst nicht - nochmals - näher beschrieben werden. Mithin hat der Gesetzgeber nach der Auffassung des Gerichts in § 99 NBauO lediglich Bestimmungen getroffen für bauliche Anlagen, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes rechtmäßig errichtet oder begonnen waren bzw. errichtet werden durften. Er hat das Anpassungsverlangen (mit der für den Bauherren bedeutsamen Rechtsfolge, dass erteilte Baugenehmigungen ohne Entschädigung widerrufen werden können) nicht auf Fälle erstreckt, in denen bauliche Anlagen unter der Geltung der NBauO genehmigt worden sind und die gesetzlichen Anforderungen später (wie hier durch das 5. Gesetz zur Änderung der Nds. Bauordnung vom 04.11.1986 (Nds. GVBl S. 103) verschärft worden sind. Durch dieses Gesetz wurde in § 20 der folgende neue Absatz 2 eingefügt:
"Jede Nutzungseinheit mit mindestens einem Aufenthaltsraum muss in jedem Geschoss mindestens zwei voneinander unabhängige Rettungswege habe. Dies gilt nicht, wenn die Rettung über einen durch besondere Vorkehrungen gegen Feuer und Rauch geschützten Treppenraum (Sicherheitstreppenraum) möglich ist."
Eine analoge Anwendung von § 99 NBauO auf die soeben bezeichneten baulichen Anlagen hält das Gerichts angesichts des eindeutigen Wortlautes der Vorschrift nicht für möglich. Sie erscheint auch nicht erforderlich, weil die Bauaufsichtsbehörde ohne weiteres die Möglichkeit hat, nach § 89 NBauO vorzugehen, wenn sie - wie hier - der Auffassung ist, dass eine bauliche Anlage dem - derzeitigen - öffentlichen Baurecht nicht entspricht. Sie kann dann nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen anordnen, die zur Herstellung oder Sicherung rechtmäßiger Zustände erforderlich sind. Allerdings schließt es eine bestandskräftige und nicht (etwa durch Aufgabe der Nutzung) erloschene Baugenehmigung wegen ihrer Schutzwirkung aus, in Anwendung von § 89 NBauO wegen materieller Illegalität einer baulichen Anlage gegen den Bauherrn bzw. Eigentümer vorzugehen; das gilt allerdings nur, soweit das materielle Baurecht Prüfungsmaßstab im Baugenehmigungsverfahren war (vgl. Große-Suchsdorf u.a., NBauO, 8. Aufl., § 89, Rn. 19). Die Baugenehmigung enthält nämlich die verbindliche Feststellung, dass das genehmigte Vorhaben mit dem geltenden öffentlichen Recht vereinbar ist (Große-Suchsdorf u.a., a.a.O., § 75, Rn. 5 m.w.N.).
Bei der Erteilung der Baugenehmigung an die Rechtsvorgängerin des Antragstellers in den Jahren 1982/83 wurden die brandschutzrechtlichen Bestimmungen ausweislich der Bauakten umfassend und gründlich geprüft; durch die Baugenehmigung wurde die Nutzung des Baus so freigegeben, wie er zu Genehmigung gestellt wurde, also ohne die Verpflichtung des Bauherren, Notleitern an den Fassaden des Hauses anzubringen. Mithin könnte sich der Antragsteller gegen eine auf § 89 NBauO gestützte Verfügung gleichen Inhalts erfolgreich auf den Bestand der Baugenehmigung berufen. Da der Verzicht auf die Herstellung eines zweiten Rettungsweges seinerzeit rechtmäßig war (die Kammer folgt insoweit der Auffassung der Antragsgegnerin, die sie in ihrem Schriftsatz vom 09.04.2008 vertritt), müsste mithin die Baugenehmigung vor Erlass einer Verfügung nach § 89 NBauO teilweise widerrufen werden. Die Antragsgegnerin könnte einen Teilwiderruf unter Umständen auf § 49 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG stützen, wenn sie der Auffassung ist, dass es hier darum geht, schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten; sie hat dann allerdings in Anwendung von Absatz 6 der Bestimmung dem Antragsteller auf Antrag den Vermögensnachteil zu entschädigen, den dieser dadurch erleidet, dass er auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat, soweit sein Vertrauen schutzwürdig ist.
Eine Umdeutung der fehlerhaft auf § 99 NBauO gestützten Anordnung der Antragsgegnerin in eine bauaufsichtliche Verfügung nach § 89 NBauO kommt nicht in Betracht. Sie scheitert gemäß § 47 Abs. 2 VwVfG schon daran, dass dies dem erklärten Willen der Antragsgegnerin widerspräche. Denn sie hat Entschädigungsansprüche des Antragstellers, die, wie dargelegt, die Folge eines Eingriffs nach § 89 NBauO wären, von vornherein verneint.
Ferner ist die Zwangsgeldandrohung - für sich genommen - nach summarischer Prüfung ebenfalls voraussichtlich rechtswidrig. Dem Antragsteller werden zwei voneinander unabhängige Handlungen aufgegeben, nämlich Notleitern an zwei unterschiedlichen Stellen an der Fassade seines Hauses anzubringen. Da Zwangsgeld in bestimmter Höhe anzudrohen ist, die im Rahmen der Festsetzung nicht mehr verändert werden kann (§ 70 Abs. 5 NSOG), muss für jede der dem Antragsteller auferlegten Maßnahmen gesondert die Festsetzung eines Zwangsgeldes angedroht werden. Die angefochtene Verfügung ist in diesem Punkt mithin unbestimmt, da nicht geregelt wird, was zu geschehen hat, wenn der Antragsteller beispielsweise eine Nottreppe innerhalb der ihm gesetzten Frist anbringt und die andere nicht. Im übrigen hätte die ihm gesetzte Frist (§ 70 Abs. 1 S. 2 NSOG) im Hinblick auf die Notleiter an der Rückseite des Hauptgebäudes angemessen verlängert werden müssen, nachdem am 14.02.2008 mündlich (und erst nach Ablauf der Frist, nämlich am 04.03.2008 schriftlich) ein veränderter Anbringungsort festgelegt wurde.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Maßgebend sind die voraussichtlichen Kosten für die Anbringung der Notleitern, die im Hinblick auf die Vorläufigkeit des Verfahrens zu halbieren sind.