Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 14.03.1997, Az.: IX 382/95
Umfang des Vorläufigkeitsvermerks; Nachträgliche Änderung bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids; Kreditfinanzierte Aufwendung für Fluchthilfe als außergewöhnliche Belastung; Geltung des Abflussprinzips; Zwangsläufigkeit der Zahlungen wegen sittlicher Pflicht
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 14.03.1997
- Aktenzeichen
- IX 382/95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1997, 16207
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1997:0314.IX382.95.0A
Rechtsgrundlagen
- § 165 Abs. 1 AO
- § 165 Abs. 2 AO
- § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO
- § 33 Abs. 1 EStG
- § 11 Abs. 2 EStG
Fundstelle
- NWB 1997, 1533
Verfahrensgegenstand
Fluchthilfegeld keine außergewöhnliche Belastung
Einkommensteuer 1991
In dem Rechtsstreit
hat der IX. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
im Einverständnis der Beteiligten
ohne mündliche Verhandlung
in der Sitzung vom 14. März 1997,
an der mitgewirkt haben:
Vorsitzender Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
ehrenamtlicher Richter Ldw.-Meister
ehrenamtlicher Richter Juwelier
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Beklagte (das Finanzamt - FA -) verpflichtet ist, den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid 1991 nachträglich zugunsten der Kläger zu ändern und dabei die Zahlung von 5.000 DM für eine Fluchthilfe als außergewöhnliche Belastung abzuziehen.
Die Kläger sind Eheleute und haben bis Oktober 1989 in der ehemaligen DDR gelebt. Sie wurden im Streitjahr 1991 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Der Kläger bezieht als Arzt Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
Im Jahr 1984 unternahmen die Kläger - nach ihrem Vortrag - einen erfolglosen Fluchtversuch aus der ehemaligen DDR. Um den Klägern bei dieser Flucht zu helfen, habe der mit ihnen weder verwandt noch verschwägerte Arzt Dr. K. (K.) aus Syrien an eine
Fluchthilfeorganisation einen Betrag von 35.000 DM gezahlt. Auf die schriftliche Erklärung des K. vom 20. August 1995 wird Bezug genommen.
In seiner Einkommensteuererklärung 1990 machte der Kläger einen Betrag über 5.000 DM als außergewöhnliche Belastung geltend, den er an K. als Rückzahlung (1. Rate) des 1984 an die Fluchthelfer gezahlten Betrags geleistet hatte. Da die Zahlung aber erst 1991 vorgenommen worden war, zog das das FA den Betrag nicht ab. Den Einspruch wies das FA durch Bescheid vom 20. Oktober 1993 zurück.
In der Steuererklärung für das Streitjahr machte der Kläger den Betrag nicht geltend. Der Einkommensteuerbescheid 1991 vom 21. Januar 1993 wurde bestandskräftig, wobei der Bescheid im Punkt "Höhe der zumutbaren Belastung bei den außergewöhnlichen Belastungen" vorläufig nach § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) erging. Mit Schreiben vom 15. November 1993, - nach der Entscheidung des Einspruchsverfahrens 1990 -, beantragte der Kläger, den Fluchthilfebetrag über 5.000 DM 1991 als außergewöhnliche Belastung abzuziehen.
Das FA folgte diesem Antrag nicht und vertrat die Auffassung, die Fluchthilfezahlung hätte - wenn überhaupt - bereits im Jahr der Zahlung des gesamten Betrags über 35.000 DM, also 1984, abgezogen werden müssen. Die Zahlung im Jahr 1991 stelle sich lediglich als Tilgung des damaligen Darlehens durch K. dar. Im Rechtsbehelfsverfahren erklärte der Prozeßbevollmächtigte der Kläger, diese hätten den Geldbetrag so lange nicht zurückzuzahlen gehabt, wie sie in der DDR gelebt hatten. Erst mit Verlassen der DDR habe eine Verbindlichkeit der Kläger entstehen sollen.
Der Einspruch blieb erfolglos. Dagegen richtet sich die Klage.
Der Kläger trägt vor, er sei mit K. kein Darlehensverhältnis eingegangen. Seit der gescheiterten Flucht habe er keinen Kontakt mehr mit K. gehabt. Erst nach der Ausreise 1989 sei die Verbindung wieder aufgenommen worden. Aus moralischen Gründen habe er sich verpflichtet gefühlt, den damaligen Betrag ratenweise an K. zu erstatten.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
den Einspruchsbescheid vom 25. September 1995 sowie den Ablehungsbescheid vom 15. Dezember 1993 aufzuheben und das FA zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 1991 vom 21. Januar 1993 zu ändern und weitere außergewöhnliche Belastungen von 5.000 DM abzuziehen.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es bleibt bei seiner im Rechtsbehelfsverfahren vertretenen Auffassung, die Zahlung der 5.000 DM an K. sei im Streitjahr 1991 nicht mehr zu berücksichtigen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
Das FA hat es zutreffend abgelehnt, den bestandskräftigen Steuerbescheid 1991 zu ändern. Die Kläger werden dadurch nicht in ihren Rechten verletzt.
Der Senat kann es dahingestellt sein lassen, ob der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 AO den gesamten Bereich der außergewöhnlichen Belastungen erfaßt und damit eine Änderungsmöglichkeit des Bescheids nach § 165 Abs. 2 AO eröffnet ist, oder ob sich die Vorläufigkeit nur auf die Höhe der zumutbaren Eigenbelastung erstreckt. Dies hätte zur Folge, daß eine Änderung des Steuerbescheids nur unter den Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO erfolgen dürfte.
1.
Zur Änderung nach 9 173 Abs. 1 Nr. 2 AO
Eine Änderung nach dieser Vorschrift scheitert aber daran, daß dem FA mit dem Änderungsantrag vom 15. November 1993 keine Tatsachen nachträglich bekannt geworden sind. Aus dem Änderungsantrag geht hervor, daß der Kläger bereits bei der Veranlagung 1990 den Betrag von 5.000 DM als außergewöhnliche Belastung geltend gemacht hatte, so daß das FA bei der Bearbeitung der Steuererklärung 1991 von den Vorgängen um die Zahlung dieses Betrags an K. Kenntnis hatte.
2.
Zum Abflußprinzip im Rahmen der außergewöhnlichen Belastungen
Eine Änderung nach § 165 Abs. 2 AO scheidet, unabhängig vom Umfang des Vorläufigkeitsvermerks und vom Vorliegen der übrigen Voraussetzungen einer außergewöhnlichen Belastung aus, da für die Berücksichtigung der Aufwendungen i.S.d. § 33 Einkommensteuergesetz (EStG) grundsätzlich das Abflußprinzip des § 11 Abs. 2 EStG gilt.
Nach § 33 Abs. 1 EStG kann die Einkommensteuer ermäßigt werden, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie gleichen Familienstandes erwachsen. Aufwendungen erwachsen dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann, soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen. Die Vorschrift des § 33 EStG enthält keine ausdrückliche Regelung über den Zeitpunkt des Abzugs zwangsläufig erwachsener Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung.
Mit dem in § 33 Abs. 1 EStG verwendeten Begriff der "Aufwendungen" stellt das Gesetz - wie bei den Begriffen "Werbungskosten", "Betriebsausgaben" und "Sonderausgaben" auch - auf das Merkmal der tatsächlichen Verausgabung ab. Für einen insoweit einheitlich geltenden Aufwendungsbegriff spricht insbesondere auch der Wortlaut des § 33 Abs. 2 Satz 2 EStG, wonach bei den zwangsläufig erwachsenen außergewöhnlichen Aufwendungen solche Aufwendungen, die zu den Betriebsausgaben, Werbungskosten oder Sonderausgaben gehören, außer Betracht bleiben. Es sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, daß der Gesetzgeber den Begriff "Aufwendungen" in demselben Satz mit unterschiedlichem Inhalt verwendet hat. Außerdem folgt aus, dem Zusammenhang der Vorschriften des § 33 Abs. 1 EStG und des § 11 Abs. 2 Satz 1 EStG, daß außergewöhnliche Belastungen für das Kalenderjahr abzusetzen sind, in dem die Aufwendungen tatsächlich geleistet worden sind (BFH-Urteil vom 30. Juli 1982 VI R 67/79; BStBl II 1982, 744, BFHE 136, 396).
Ist aber für den Zeitpunkt des Abzugs von Aufwendungen i.S.d. § 33 EStG das Abflußprinzip des § 11 Abs. 2 Satz 1 EStG maßgebend, ist auch für die steuerliche Berücksichtigung von z.B. kreditfinanzierten Aufwendungen auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem die Aufwendungen tatsächlich geleistet worden sind. Daß es auf die Art der Finanzierung nicht ankommen kann, folgt zudem ebenfalls aus dem für Betriebsausgaben, Werbungskosten, Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen einheitlich geltenden Aufwendungsbegriff. Sind kreditfinanzierte Aufwendungen im Einzelfall vom Abzug ausgeschlossen, so ist dies im EStG - wie z.B. in § 10 Abs. 2 Nr. 1 EStG - ausdrücklich geregelt. Aus dem Wortlaut des § 33 EStG ist jedoch kein Anhaltspunkt für eine unterschiedliche steuerliche Behandlung der Ausgaben danach, ob sie aus eigenen oder aus vom Steuerpflichtigen darlehensweise aufgenommenen Mitteln stammen, erkennbar. Diese Auslegung entspricht auch dem Sinn und Zweck des § 33 EStG, die Minderung der wirtschaftlichen und damit der steuerlichen Leistungsfähigkeit durch - zwangsläufige außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Steuerpflichtigen, als deren Gradmesser das Einkommensteuerrecht das zu versteuernde Einkommen ansieht, wird indes unabhängig davon, welche eigenen liquiden Mittel der Steuerpflichtige im Veranlagungszeitraum zur Verfügung hat, durch die im jeweiligen Veranlagungszeitraum abgeflossenen außergewöhnlichen und zwangsläufig erwachsenen Aufwendungen gemindert.
Geht man davon aus, daß die Kläger das Fluchtgeld nach einer Übersiedlung in die Bundesrepublik an K. zurückzuzahlen hatten, so bedeutet das für den Streitfall, daß für den Abzug der Aufwendung über 35.000 DM auf das Jahr 1984 und nicht auf das Jahr der Tilgungsleistung 1991 abzustellen ist, da 1984 das Fluchthilfegeld gezahlt worden war. Der Einwand der Kläger, die in Übereinstimmung mit K. vorgetragen haben, der Fluchtgeldzahlung durch K. liege kein Darlehensverhältnis zugrunde, ist nach Ansicht des Senats nicht glaubwürdig. Da weder die Kläger noch K. sonstige Beweggründe für die Zahlung vorgetragen haben und im Rechtsbehelfsverfahren auf eine aufschiebend bedingte Rückzahlungsverpflichtung hingewiesen worden ist, geht der Senat nach der Lebenserfahrung davon aus, daß die Kläger mit der Zahlung von 5.000 DM im Streitjahr den Rückzahlungsanspruch des K. erfüllt haben.
3.
Zahlung von 5.000 DM im Jahr 1991
Aber auch für den Fall, daß man den Vortrag der Kläger, es liege kein Darlehensverhältnis vor, als zutreffend erachtet, kommt ein Abzug der 5.000 DM im Streitjahr nicht in Betracht, da es an der nach § 33 Abs. 1 EStG erforderlichen Zwangsläufigkeit der Zahlung fehlt. Aufwendungen entstehen dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die vorstehend aufgezählten Gründe von außen, d.h. vom Willen des Steuerpflichtigen unabhängig auf seine Entschließung in einer Weise einwirken, daß er ihnen nicht auszuweichen vermag (BFH-Urteil vom 18. Juli 1986 III R 178/80, BFHE 147, 171, BStBl II 1986, 745).
Die Zwangsläufigkeit ergibt sich nicht aus einer rechtlichen Verpflichtung, weil die Kläger insoweit eine Darlehensverpflichtung bestreiten. Die Aufwendungen sind den Klägern auch nicht aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig entstanden, da sie nicht durch ein unausweichliches Ereignis tatsächlicher Art wie Katastrophen, Krankheit oder andere, Gesundheits- und Lebensbedrohungen ausgelöst wurden. Die Kläger haben nicht vorgetragen, daß K. sie zur Zahlung des Betrags in irgendeiner Weise bestimmt hat. Die Aufwendungen sind den Klägern auch nicht - wie sie meinen - aus sittlich-moralischen Gründen zwangsläufig i.S. von § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG erwachsen. Eine die Zwangsläufigkeit von Aufwendungen nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG begründende sittliche Pflicht ist nur dann zu bejahen, wenn diese so unabwendbar auftritt, daß sie ähnlich einer Rechtspflicht von außen her als eine Forderung oder zumindest Erwartung der Gesellschaft derart auf den Steuerpflichtigen einwirkt, daß ihre Erfüllung als eine selbstverständliche Handlung erwartet und die Mißachtung dieser Erwartung als moralisch anstößig angesehen wird (vgl. z.B. die Urteile vom 27. Februar 1987 III R 209/81, BFHE 149, 240, BStBl II 1987, 432; vom 13. März 1987 III R 301/84, BFHE 149, 245, BStBl II 1987, 495; vom 24. Juli 1987 III R 208/82, BFHE 150, 351, BStBl II 1987, 715). Diesen hohen Anforderungen entspricht die Verhaltensweise der Kläger nicht. Nach ihrem eigenen Vortrag zum Darlehensverhältnis muß davon ausgegangen werden, daß K. nicht nur aus Rechtsgründen, sondern auch aus sittlichen Gründen heraus keine Rückzahlung des Betrags gefordert hat. Da die Fluchthilfe 1984 gescheitert war und die Kläger bis zu ihrer Flucht im Jahr 1989 weiterhin den Repressalien des damaligen Regimes ausgesetzt waren, besteht nach Auffassung des Senats auch keine gesellschaftliche Erwartung an die Kläger dergestalt, daß sie sieben Jahre nach dem gescheiterten Fluchtversuch verpflichtet gewesen sein sollen, das Fluchthilfegeld an K. zurückzuzahlen. Die Zahlung erfolgte deshalb freiwillig und kann nicht als außergewöhnliche Belastung abgezogen werden.
4.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung.