Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 30.05.2006, Az.: 4 A 168/05

Anthroposophie; Bildungsgang; Ersatzschule; Förderschule; Heilpädagogik; Schülerbeförderung; Steiner; Waldorfpädagogik; Waldorfschule

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
30.05.2006
Aktenzeichen
4 A 168/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 53192
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG Niedersachsen - 24.05.2007 - AZ: 2 LC 9/07

Tatbestand:

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Die Klägerin begehrt die Verpflichtung des Beklagten, sie schultäglich zur Ita-Wegmann-Schule in Benefeld und zurück zu befördern.

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Die am 13. August 1993 geborene Klägerin leidet nach den Feststellungen in dem Arztbericht des Dr. med. H. vom 20. Mai 1998 unter psychomotorisch-kognitiver und sprachlich-expressiver Retardierung (Abstraktion), unklarer Ätiologie, sekundären Verhaltensproblemen bei ausgeprägter Dyspraxie (Ideational) und zerebralem Anfallsleiden. Sie ist geistig behindert und insgesamt entwicklungsretardiert bei komplexer Problemlage. Die Bezirksregierung F. stellte mit Bescheid vom 26. Juni 2000 den sonderpädagogischen Förderbedarf der Klägerin fest und ordnete den Besuch der Schule I. - Schule für geistig Behinderte - in F. an, erklärte mit Schreiben vom 12. Juli 2004 jedoch ihr Einverständnis, dass sie mit Beginn des Schuljahres 2004/2005 die Ita-Wegmann-Schule in Benefeld-Bomlitz besuche.

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Die Ita-Wegmann-Schule ist eine genehmigte Ersatzschule, der die Bezirksregierung F. mit Bescheid vom 28. September 2003 die Eigenschaft einer anerkannten Ersatzschule für Lernhilfe, Erziehungshilfe und geistig Behinderte unter der Auflage verliehen hat, dass die Schule sich an die vorgegebenen Rahmenrichtlinien und Leistungsanforderungen der jeweiligen Sonderschulform zu halten habe. Die Schule wird als heilpädagogische Ganztagsschule auf der Grundlage der Menschenkunde Rudolf Steiners geführt. Sie ist im Februar 2006 in den Bund der Freien Waldorfschulen aufgenommen worden.

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Die Eltern der Klägerin beantragten am 7. Juli 2004 beim Beklagten die Durchführung der Schülerbeförderung zur Ita-Wegmann-Schule in Benefeld. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11. August 2004 teilweise ab, sagte jedoch die Erstattung der Aufwendungen für die Schülerbeförderung in Höhe der Kosten der teuersten Zeitkarte des öffentlichen Personennahverkehrs zu, die er seinem Kreisgebiet zu erstatten habe. Zur Begründung seiner Ablehnungsentscheidung führte der Beklagte aus, seine Satzung über die Schülerbeförderung sehe in § 1 Abs. 3 eine Beschränkung der Aufwendungen bei dem Besuch einer Schule außerhalb seines Kreisgebiets vor. Das gelte zwar nicht für Sonderschulen (nunmehr: Förderschulen). Die Ausnahmeregelung für die Beförderung zu Förderschulen sei jedoch eng auszulegen. Ihr Sinn und Zweck sei es, dass die Schülerin oder der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Schule besuchen könne, die konkret auf die Förderung des bei ihm bestehenden Bedarfs ausgerichtet sei, was bei Fehlen einer entsprechenden Schulform mit einem auf die Behinderungsart ausgerichteten Bildungsgang möglicherweise nur an einer Förderschule außerhalb des Kreisgebiets erreicht werden könne. Diese Voraussetzungen seien im Falle der Klägerin jedoch nicht erfüllt, da die Bezirksregierung F. sie mit Bescheid vom 26. Juni 2000 der Schule I. zugewiesen habe. Diese Schule sei nach Feststellung der Bezirksregierung F. somit geeignet, den sonderpädagogischen Förderbedarf der Klägerin abzudecken. Damit bestehe aber kein Erfordernis für den Besuch einer Schule außerhalb des Kreisgebiets wie der Ita-Wegmann-Schule in Benefeld.

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Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 21. März 2005 zurück und hob gleichzeitig seine Zusage hinsichtlich der fiktiven Kostenerstattung der teuersten Zeitkarte für den Besuch einer Schule im Kreisgebiet wieder auf. Zur Begründung führte er aus, nach § 114 Abs. 1 und 2 NSchG habe die Klägerin aufgrund ihrer Behinderung grundsätzlich einen Anspruch auf Schülerbeförderung. Die Beförderungspflicht bestehe nach § 114 Abs. 3 NSchG jedoch nur für den Weg zur nächsten Schule der gewählten Schulform, innerhalb der gewählten Schulform zur nächsten Schule, die den verfolgten Bildungsgang anbiete. Dies gelte auch für Schulen in freier Trägerschaft (Ersatzschulen). Nicht jede Besonderheit etwa im Lernstoff und/oder in der Lehr- oder Erziehungsmethode begründe einen eigenständigen Bildungsgang mit der Folge einer Beförderungs- oder Erstattungspflicht. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 6. November 1993 (NVwZ 1984, 812) den Besuch einer freien Waldorfschule im Verhältnis zu öffentlichen Schulen als eigenständigen Bildungsgang zwar anerkannt. Dies lasse sich auf die Ita-Wegmann-Schule aber nicht übertragen. Maßgeblich für die Anerkennung der Waldorfschulen als eigenständiger Bildungsgang sei, dass Waldorfschüler keine Abschlüsse der öffentlichen Schulen erlangten; hierfür müssten sie den Weg des § 27 NSchG der sogenannten Nichtschüler- oder Externen-Prüfung vor einer staatlichen Prüfungskommission gehen. Die Ita-Wegmann-Schule müsse demgegenüber die für öffentliche Schulen geltenden Regelungen für die Aufnahme und Versetzung sowie für Prüfungen einhalten; der Leistungsstand der Schüler müsse den Anforderungen der öffentlichen Schulen nicht erst am Ende des gesamten Ausbildungsganges, sondern am Ende jedes Schuljahres entsprechen. Die Schüler müssten die Möglichkeit haben, jederzeit wieder in die entsprechende Jahrgangsstufe der öffentlichen Regelschule zu wechseln. Ebenso müssten die Abschlüsse entsprechend der Abschlussverordnung der einzelnen Schulformen formuliert werden und die Schulzeit der jeweiligen Förderschule angepasst sein. Das ergebe sich aus den Auflagen der Bezirksregierung F. in ihrem Anerkennungsbescheid vom 26. September 2003. Allein der Umstand, dass es sich bei Ita-Wegmann-Schule um eine heilpädagogische Schule auf der Grundlage der Rudolf-Steiner-Pädagogik handele, begründe keinen eigenständigen Bildungsgang. Aufgrund des Bescheides der Bezirksregierung Lüneburg vom 26. Juni 2000 sei die Klägerin verpflichtet, die Regelschule, d.h. die Schule I. in F. zu besuchen, die somit geeignet sei, ihren sonderpädagogischen Förderbedarf zu decken. Nächste Schule für die Klägerin sei damit diese Schule ungeachtet der Tatsache, dass die Bezirksregierung F. mit Schreiben vom 12. Juni 2004 sich damit einverstanden erklärt habe, dass die Schulpflicht auch durch den Besuch der Ita-Wegmann-Schule in Benefeld erfüllt werde. Entgegen der Annahme in seinem Ausgangsbescheid vom 11. August 2004 stehe der Klägerin auch ein Anspruch auf Erstattung der fiktiven Kosten nach § 114 Abs. 4 Satz 1 NSchG nicht zu, denn für die Schule I. habe er eine kostenlose Mietwagenbeförderung eingerichtet. Führe der Träger der Schülerbeförderung die Beförderung zur nächstgelegenen Schule jedoch mit eigenen oder angemieteten Transportmitteln für die Schüler kostenlos selbst durch, bestehe nach der Rechtsprechung des Niedersächsische Oberverwaltungsgerichts kein Anspruch auf Kostenerstattung. Seine Entscheidung zur Übernahme der Kosten der teuersten Zeitkarte des öffentlichen Personennahverkehrs die in seinem Kreisgebiet zu erstatten sei, sei damit zu Unrecht erfolgt und werde gemäß § 48 VwVfG zurückgenommen. Auf Vertrauensschutz könne die Klägerin sich nicht berufen. Während des laufenden Rechtsbehelfsverfahrens sei der Bestand des Verwaltungsaktes ungewiss, wobei die Klägerin die Ursache für diese Unbeständigkeit ausgesetzt habe. Außerdem sei die Leistung in der Höhe noch nicht konkret festgesetzt gewesen.

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Hiergegen hat die Klägerin am 3. Mai 2005 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, ihr stehe der geltend gemachte Anspruch auf Schülerbeförderung zu. Das Unterrichtsangebot der Ita-Wegmann-Schule für geistig Behinderte stelle einen eigenständigen Bildungsgang dar, so dass der Beklagte gemäß § 114 NSchG zur Beförderung verpflichtet sei. Dies entspreche der Rechtsprechung der Kammer und auch der des Verwaltungsgerichts Hannover. Der gegenteiligen Auffassung des Beklagten sei nicht zu folgen. Die Ita-Wegmann-Schule unterscheide sich sowohl organisatorisch als auch im Lehrstoff und in der Unterrichtsmethode ganz erheblich von der Schule I.. Die Schüler mit dem Förderbedarf Lernen, emotionale und soziale sowie geistige Entwicklung würden in jahrgangshomogenen Klassen gemeinsam unterrichtet. Der Tag beginne für alle Schüler mit dem gemeinsamen Morgenkreis und dem rhythmischen Teil, in dem Körperorientierung, Raumorientierung, Sprech- und Sprachfähigkeiten, musische Fähigkeiten und Bewegungsübungen gefördert würden. Gemeinsames Frühstück und Mittagessen ergänzten das Lehrangebot. Der rhythmische und verlässliche Aufbau des Unterrichtstages einschließlich Nachmittagsunterricht bzw. Nachmittagsangebot mit sozialintegrativem und lebenspraktischem Unterricht gebe den Schülern Halt und Orientierung. Unterstützt werde der Unterricht durch Heileurhythmie, Musik und Kunsttherapie sowie sprachtherapeutische Angebote. Neben diesen „harmonisierenden“ Therapieformen würden die spezifischen Defizite der Schüler in ihrer leiblichen, seelischen und sozialen Entwicklung gezielt durch den entwicklungsfördernden Lehrplan nach Rudolf Steiner angegangen. Die die Schule prägenden - und sie von dem staatlichen Angebot der Schule I. wesentlich unterscheidenden - Merkmale seien die konstante Anwesenheit des selben Klassenlehrers auch im Fachunterricht, was zu einem absolut verlässlichen Unterricht über acht Jahre hinweg führe, und die gemeinsame Beschulung von Schülern unterschiedlichen Förderbedarfs. Die Schule I. nehme hingegen nur Kinder auf, die einen Förderbedarf im Bereich geistiger Entwicklung hätten. Weiteres Merkmal der Ita-Wegmann- Schule sei die altersgemäße Beschulung und das daraus resultierende besondere Aufgreifen von menschenkundlichen Entwicklungsimpulsen durch Unterrichtsinhalte (Märchen 1. Klasse, Fabeln 2. Klasse, Schöpfungsgeschichte 3. Klasse, germanische Mythologie 4. Klasse usw.). Der therapeutische Ansatz des Unterrichtens einschließlich des täglichen Rhythmisierens der Kinder, der epochale Unterricht, das Aufgreifen und Bezugnehmen auf Unterrichtsthemen in den Fachunterrichten sowie die Heileurhythmie zielten auf einen ganzheitlichen therapeutischen Ansatz. Sowohl epochalen Unterricht als auch Heileurhythmie und das Unterrichtsfach Formenzeichen gebe es an der Schule I. nicht. Bei der Ita-Wegmann-Schule handele es sich um eine heilpädagogische Schule, die auf der Grundlage der Rudolf-Steiner-Pädagogik beruhe, also den Waldorfschulen vergleichbar sei. Das besondere pädagogische Konzept der Schule sei mit der Zulassung als Ersatzschule von der Bezirksregierung F. anerkannt worden. Soweit der Beklagte in Abrede stelle, dass sie - die Klägerin - in vollem Umfang an den Angeboten der Schule partizipieren könne, treffe dies inhaltlich nicht zu. Im Übrigen komme es für die Frage des besonderen Bildungsganges nicht auf den einzelnen Schüler an, sondern auf das Angebot der Schule selbst.

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Die Klägerin beantragt,

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den Beklagten zu verpflichten, sie im Schuljahr 2004/2005 ab dem 15. Dezember 2005 von ihrer Wohnung zur Ita-Wegmann-Schule in Benefeld und zurück zu befördern und ihr für den Zeitraum vom 19. August bis zum 14. Dezember 2004 bereits entstandene Kosten für ihre Beförderung zur Ita-Wegmann-Schule in Höhe von 1.824,27 EUR zu erstatten sowie den Bescheid des Beklagten vom 11. August 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2005 aufzuheben, soweit er dieser Verpflichtung entgegen steht.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung hat er ausgeführt, seines Erachtens handele es sich bei dem Unterrichtsangebot der Ita-Wegmann-Schule nicht um einen besonderen Bildungsgang. Der Vergleich mit Waldorfschulen, die als besonderer Bildungsgang anerkannt seien, sei nicht zulässig. Bei der Ita-Wegmann-Schule handele es sich um eine staatlich anerkannte Ersatzschule nach § 148 NSchG, an der gesetzlich anerkannte Schulabschlüsse erreicht werden könnten. Dies unterscheide sie von den Waldorfschulen, die keine Abschlüsse wie die öffentlichen Schulen vermitteln könnten und bei denen die Schüler den in § 27 NSchG eröffneten Weg über die sogenannte Nichtschüler- oder Externen-Prüfung vor einer staatlichen Prüfungskommission gehen müssten. Während es deshalb und aufgrund der Unterrichtsmethodik für die Schüler von Waldorfschulen schwer möglich sei in die Bildungsgänge anderer Schulen zu wechseln, sei die Ita-Wegmann-Schule als eine anerkannte Ersatzschule nach dem Bescheid der Bezirksregierung F. vom 26. September 2003 verpflichtet, sich an die vorgegebenen Rahmenrichtlinien und Leistungsanforderungen der jeweiligen Förderschulform zu halten. Zeugnisse und Beurteilungen müssten den staatlichen Abschlüssen entsprechen. Eine besondere pädagogische Ausrichtung vermöge demgegenüber - entgegen der Auffassung der Klägerin - einen eigenständigen Bildungsgang nicht zu begründen. Er verweise insoweit auf die Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 2. Januar 2003 (Az: 7 OZ 4019/00). Im Übrigen unterscheide sich das Profil der Ita-Wegmann-Schule auch nicht so deutlich von der Unterrichtsmethodik und den Unterrichtsinhalten der Schule I.. Diese sei zwar nur Schule für geistig Behinderte, aber auch an der Schule I. stellten sich die Lerngruppen aufgrund der unterschiedlichen Ausprägung der Behinderungen als äußerst heterogen dar. Die Klägerin könne hier ebenfalls von leistungsstärkeren Schülern profitieren. Ebenso erfolge der Unterricht in altershomogenen Gruppen. Lediglich eine andere Methodik des Unterrichts - wie die Pädagogik nach Rudolf Steiner - sowie zusätzliche Angebote wie beispielsweise Eurhythmie könnten keinen eigenen Bildungsgang begründen, zumal auch die Schule I. eine Förderung im Bereich Motorik und Wahrnehmung vornehme. Die Lernbedürfnisse der Klägerin lägen aufgrund ihrer Behinderung nicht in den fachorientierten Lernbereichen, wie Deutsch, Mathematik, Geschichte, Erdkunde, Physik, Chemie, Formenzeichen, Geometrie, Himmelskunde und Kunst sowie Kunstgeschichte, wie sie an der Schule I. nicht in dem Umfang wie an der Ita-Wegmann-Schule angeboten würden, sondern in den entwicklungs- und handlungsorientierten Lernbereichen einer sie unterstützenden und begleitenden sonderpädagogischen Förderung.

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Wegen der Einzelheiten und des weiteren Vorbringens wird auf die Gerichtsakte und das Verfahren 4 A 169/05 sowie die zu diesem Verfahren übersandten Verwaltungsvorgänge und auf das abgeschlossene Eilrechtsschutzverfahren 4 B 198/05 sowie auf das Parallelverfahren 4 A 166/05 verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat Erfolg.

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Die Klägerin hat Anspruch auf ihre Beförderung zur Ita-Wegmann-Schule in Benefeld durch den Beklagten im Schuljahr 2004/2005 und Erstattung der notwendigen Aufwendungen für den durch ihre Eltern im Zeitraum vom 19. August bis zum 14. Dezember 2004 durchgeführten Transport.

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Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin ist § 1 der Satzung des Beklagten vom 21. April 1997 über die Schülerbeförderung in seinem Kreisgebiet. Danach besteht für behinderte Schüler ein Anspruch auf Beförderung zur nächsten Schule unabhängig von einer Mindestentfernung. Für den Begriff der „nächsten Schule“ verweist die Satzung des Beklagten auf § 114 Abs. 3 NSchG. Danach besteht die Beförderungs- oder Erstattungspflicht nur für den Weg zur nächsten Schule der gewählten Schulform, jedoch innerhalb der gewählten Schulform zur nächsten Schule, die den vom Schüler verfolgten Bildungsgang anbietet (§ 114 Abs. 3 Satz 1 NSchG). Liegt die nächste Schule außerhalb des Gebietes des Trägers der Schülerbeförderung, so kann dieser seine Erstattungspflicht auf die notwendigen Aufwendungen für den Schulweg in Höhe der Kosten der teuersten Zeitkarte des öffentlichen Personennahverkehrs, die er bei der Schülerbeförderung in seinem Gebiet zu erstatten hätte, beschränken (§ 114 Abs. 3 Satz 5 1. Halbsatz NSchG). Dies gilt nicht im Falle des Besuchs von Förderschulen (§ 114 Abs. 3 Satz 5 2. Halbsatz NSchG). Diese Bestimmungen gelten für anerkannte Ersatzschulen nach § 141 Abs. 3 NSchG entsprechend.

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Nach diesen Grundsätzen hat die Klägerin Anspruch auf Schülerbeförderung bzw. Erstattung der notwendigen Aufwendungen für ihren Transport zur Ita-Wegmann-Schule. Diese Schule stellt die nächstgelegene Schule des von ihr verfolgten Bildungsganges dar.

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Nach der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ist als Bildungsgang im schülerbeförderungsrechtlichen Sinne die besondere fachliche Schwerpunktbildung in einem schulischen Angebot anzusehen, die sich im Allgemeinen zugleich in einer besonderen Gestaltung des Abschlusses auswirkt (Nds. OVG, Urteil vom 5.3.2003 - 13 L 4066/00 -, NdsVBl. 2003, 245, 246, Urteile vom 20.12.1995 - 13 L 2013/93 und 13 L 7975/94 -, Urteil vom 30.11.1983 - 13 A 56/83 - NVwZ 1984, 812). Die Entscheidung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 16. August 2001 (Az: 1 KO 945/00, juris), wonach für ein allein auf fachliche, pädagogische oder sonstige Schwerpunktbildung abstellendes Verständnis des Begriffs des Bildungsganges im thüringischen Schulrecht kein Raum ist, ist auf das niedersächsische Schulrecht nicht übertragbar. Sie bezieht sich ausschließlich auf den Grundschulbereich und überdies nicht auf die im vorliegenden Fall maßgeblichen Besonderheiten einer integrativen Förderschule auf der Grundlage der anthroprosophischen Heilpädagogik.

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Die Kammer hält an ihrer bisherigen Rechtsprechung (Beschlüsse vom 19.11.2004 - 4 B 197/04 u. 4 B 198/04) fest, dass die Ita-Wegmann-Schule in Benefeld im Vergleich zur Förderschule des beklagten Landkreises, der Schule I., einen eigenen Bildungsgang darstellt (vgl. auch Urteil vom 21.3.2003 - 4 A 247/01 -). Dies ergibt sich zunächst aus der von ihr verfolgten besonderen Schwerpunktbildung im schulischen Angebot. Der Arbeit der Ita-Wegmann-Schule liegt die anthroposophische Heilpädagogik zugrunde, eine erweiterte Form der Waldorfpädagogik, die auf der Menschenkunde Rudolf Steiners beruht. Sie bietet u. a. entwicklungsbezogenen Unterrichtsstoff nach Rudolf Steiner. Der Hauptunterricht gliedert sich in drei Bereiche, einen rhythmischen Teil, einen Lernteil sowie einen Erzählteil und findet in Epochen statt. Angeboten werden die Fächer Lesen/Schreiben, Rechnen, Formenzeichnen, Heimatkunde/Naturkunde, Projekte wie Ackerbau, Handwerk, künstlerisches und technisches Zeichnen, Musik im Orchester, Chor, Theater-Jahresreferat, Gartenbau, Werken, Feldmessen, Forsten, Landwirtschaft, Industrie-, Sozial- und Werkpraktika, Schauspiel sowie eine kunstgeschichtliche Reise. Das Unterrichtsangebot umfasst die Fächer Deutsch, Mathematik, Geschichte, Erdkunde, Biologie (Menschen-, Pflanzen- und Tierkunde), Physik, Chemie, Formenzeichen, Geometrie, Himmelskunde und Kunst sowie Kunstgeschichte. Dieser Unterricht wird in Epochen von ca. vier Wochen je Fach gegeben. Im Fachunterricht werden die Fächer Englisch, Eurythmie, Musik, Sport, Handarbeit, Werken, Gartenbau, Plastizieren und Malen bzw. Zeichnen unterrichtet.

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Mit diesem - auf der anthroprosophischen Weltsicht beruhenden - Unterrichtskonzept, das in Inhalt und Methodik seinen Ausdruck findet, stellt das Konzept der Ita-Wegmann-Schule einen anderen Bildungsgang dar als den an der Schule I. verfolgten. Der abweichende pädagogische Ansatz findet insbesondere in dem Umstand Ausdruck, dass die Ita-Wegmann-Schule Schüler mit allen Formen von Behinderungen, d.h. sowohl körperlich wie geistig oder seelisch behinderte Kinder aufnimmt, während die Schule I. eine Schule ausschließlich für geistig Behinderte ist. Die Ita-Wegmann-Schule folgt damit dem integrativen Beschulungsansatz und hat zugleich - bezogen auf die Personengruppe der Behinderten - eine Art „Gesamtschulcharakter“. Eigene Bildungsgänge sind aber auch die Förderschulen der verschiedenen Förderschwerpunkte und damit Schulen, die - wie die Ita-Wegmann-Schule - einen integrativen Ansatz als Förderschwerpunkt verfolgen im Vergleich zu Schulen für ausschließlich geistig oder körperlich Behinderte (vgl. Seyderhelm/Nagel/Brockmann, NSchG, Kommentar, Loseblatt, Stand: Dezember 2005, § 59 Textziff. 2.1; Urteil der Kammer vom 21.3.2003 - 4 A 247/01 -). Daher kann der Beklagte auch aus der von ihm angeführten Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 2. Januar 2003 (Az: 7 ZU 4019/00, juris) für seine Auffassung nichts herleiten. Wie der Hessisches Verwaltungsgerichtshof ausführt, darf bei dem Besuch einer Ersatzschule in freier Trägerschaft schülerbeförderungskostenrechtlich nur auf eine öffentliche Schule derjenigen Schul- und Organisationsform verwiesen werden, die hinsichtlich des schulformbezogenen oder schulformübergreifenden Angebots des gewählten Bildungsganges dem betreffenden Angebot der konkret besuchten Ersatzschule am nächsten kommt. Vorliegend ist - wie oben dargelegt - eine derartige öffentliche Schule, die ein mit der Ita-Wegmann-Schule vergleichbares Angebot integrativer Beschulung für Behinderte mit verschiedenen Behinderungsformen anbieten würde, aber nicht vorhanden, da die Schule I. ein derartiges Konzept nicht verfolgt.

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Soweit der Beklagte sich gegen die Annahme eines „besonderen Bildungsganges“ an der Ita-Wegmann-Schule im Verhältnis zur Schule I. wendet, weil diese keinen anderen Abschluss als den einer staatlichen Förderschule anbiete, vermag diese Auffassung nicht zu überzeugen. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat in seinen Urteilen vom 20. Dezember 1995 und 5. März 2003 (a.a.O.) ausgeführt, dass auf eine Identität von Bildungsgängen nicht schon allein aufgrund der Gleichartigkeit der Abschlüsse geschlossen werden kann. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob die besondere Ausgestaltung im Lehrstoff sowie die Lehr- und Erziehungsmethoden die Annahme eines eigenständigen Bildungsganges rechtfertigen. Das ist hier - wie oben dargelegt - der Fall. Das Oberverwaltungsgericht hat überdies in seiner Rechtsprechung die besondere Gestaltung des Abschlusses lediglich „im Allgemeinen“ als Kriterium für einen besonderen Bildungsgang angesehen. Nicht jeder Bildungsgang muss aber einen spezifischen Abschluss aufweisen, da es Bildungsgänge gibt, wie etwa die Schule für geistig Behinderte als besonderer Bildungsgang der Schulform Förderschule, die nicht mit einem Abschluss enden (Seyderhelm/Nagel/Brockmann, a. a. O.).

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Nicht gegen die Annahme eines besonderen Bildungsganges spricht auch, wenn die Klägerin - wie der Beklagte annimmt - das Unterrichtsangebot an der Ita-Wegmann-Schule aufgrund ihrer Behinderung nicht in vollem Umfang nutzen oder erfassen kann. Dies ist - worauf der Prozessbevollmächtigte der Klägerin zutreffend hinweist - keine Voraussetzung des „besonderen Bildungsganges“. Die Frage, ob ein besonderer Bildungsgang vorliegt, ist allein bezogen auf das Angebot der Schule zu beantworten, nicht hingegen im Hinblick auf die individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten des jeweiligen Schülers, zumal erfahrungsgemäß nicht jeder Schüler den Abschluss des jeweiligen Bildungsganges (Hauptschulabschluss, Realschulabschluss, Abitur rsp. Latinum oder Graecum) erreicht. Der Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, dass die Beschulung der Klägerin an der Ita-Wegmann-Schule für diese aufgrund ihrer Form der Behinderung nicht geeignet wäre. Denn die Bezirksregierung F. hat in ihrem Schreiben vom 7. Juli 2004 sich damit einverstanden erklärt, dass die Klägerin die Ita-Wegmann-Schule besucht. An diese Entscheidung der Schulverwaltung über die Zuweisung des schulpflichtigen behinderten Kindes ist der Beklagte als Träger der Schülerbeförderung - in gleicher Weise wie der Sozialhilfeträger (vgl. BVerwG, Urteil vom 28.4.2005 - 5 C 20/04 - NJW 2005, 3160) - gebunden.

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Entgegen der Auffassung des Beklagten stellt § 114 Abs. 3 Satz 5 2. Halbsatz NSchG, der den Besuch von Förderschulen von der Kostenbeschränkung ausnimmt, auch keine „eng auszulegende Ausnahmeregelung“ dar, die nur Anwendung findet, wenn Schüler mit einem besonderen sonderpädagogischen Förderbedarf innerhalb des Kreisgebietes keinen auf ihre spezifische Behinderungsart ausgerichteten Bildungsgang finden können. Für eine derartige einschränkende Interpretation, die die Schülerbeförderung von einer konkreten Bedarfsprüfung für den gewünschten Bildungsgang im Hinblick auf das Behinderungsbild des betreffenden Schülers abhängig machen würde, gibt § 114 NSchG keinerlei Anhalt. Vielmehr gilt auch für behinderte Schüler das Wahlrecht des § 59 NSchG hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Schulformen und Bildungsgänge. Ebenso wenig wie nicht behinderte Schüler bei der Wahl einer Schule ihres Bildungsganges darauf verwiesen werden können, statt - beispielsweise eines altsprachlichen Gymnasiums - ein neusprachliches Gymnasium oder eine andere Form der Oberstufe zu besuchen, müssen behinderte Schüler sich auf Schulen eines anderen Bildungsganges verweisen lassen.

23

Entgegen der vom Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung geäußerten Auffassung kann eine einschränkende Auslegung der Bestimmungen über den Schülertransport im Niedersächsischen Schulgesetz auch nicht auch nicht aus der Entwicklung der Schülerbeförderung hergeleitet werden. Es mag zutreffend sein, dass der Schülertransport sich nach der Auflösung der „Zwergschulen“ in den siebziger Jahren zunächst als freiwillige Leistung der Landkreise als Schulträger entwickelt hatte, die damit die politische Verantwortung für die getroffenen Schulstruktur- und Standortentscheidungen übernehmen wollten und dass diese Aufgabe erst später zu einer gesetzlichen Pflichtaufgabe wurde. Daraus lässt sich eine Beschränkung der Verpflichtung zur Schülerbeförderung auf Schulen, die aufgrund eigener Entscheidung der Landkreise errichtet worden sind, aber nicht herleiten (vgl. VG Hannover, Urt. v. 27.2.2002 - 6 A 5408/01 -). Das ergibt sich eindeutig aus § 141 Abs. 3 NSchG, der den gesetzlichen Anspruch auf Schülerbeförderung (§ 114 NSchG) auch auf Ersatzschulen erstreckt, d.h. auf Schulen in freier Trägerschaft, die nicht aufgrund staatlicher Entscheidung entstanden sind. Ausweislich der Gesetzesmaterialien sollte die Verpflichtung der Schulträger zur Schülerbeförderung damit insbesondere auch auf Waldorfschulen als eigenständige Schulform erstreckt werden (LT-Drs. 13/1938, S. 4).

24

Eines Eingehens auf die Frage, ob die Rücknahme der Zusage zur Übernahme der fiktiven Aufwendungen für die Kosten der teuersten Fahrkarte für den Besuch einer Schule im Landkreis gegeben wären, bedarf es bei dieser Sachlage nicht.

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Der Beklagte war auf den Antrag der Klägerin hin ebenfalls zu verpflichten, ihr die Kosten für die Beförderung zur Ita-Wegmann-Schule für den Zeitraum vom 19. August 2004 bis zum 14. Dezember 2004 in Höhe von 1.824,27 EUR zu erstatten. Zur Begründung ist insoweit auf die obigen Ausführungen zu verweisen.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Ihre vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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Die Berufung wird zuzulassen, weil der Frage des eigenständigen Bildungsganges der Ita-Wegmann-Schule grundsätzliche Bedeutung zukommt (§§ 124 a Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).