Landgericht Hildesheim
Beschl. v. 13.11.2009, Az.: 12 KLs 21 Js 7588/01

Bibliographie

Gericht
LG Hildesheim
Datum
13.11.2009
Aktenzeichen
12 KLs 21 Js 7588/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2009, 50693
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Zurückstellungsentscheidungen nach § 35 BtMG können in entsprechender Anwendung des § 37 Abs. 1 S. 3 Nr. 3 BtMG widerrufen werden, wenn der Verurteilte während einer ambulanten Therapie erneut in erheblicher Weise straffällig geworden ist und die neuen Straftaten dem Bereich der Betäubungsmittel- beziehungsweise Beschaffungskriminalität zuzuordnen sind.

2. Voraussetzung für einen solchen Widerruf der Zurückstellung der Strafvollstreckung ist eine rechtskräftige Verurteilung wegen der neuen Straftat oder ein diesbezügliches glaubhaftes Geständnis.

Tenor:

1. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Hildesheim vom 19.10.2009, mit der die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 5 BtMG widerrufen wurde, wird aufgehoben.

2. Die Kosten des Antragsverfahrens und die dem Verurteilten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen hat die Landeskasse zu tragen.

Gründe

I.

1

Mit Entscheidung vom 25.07.2008 hat die Staatsanwaltschaft Hildesheim gemäß § 35 Abs. 1 und Abs. 3 BtMG die Vollstreckung der Reststrafen aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 06.12.2001 (12 KLs 21 Js 7588/01) zurückgestellt. Diese Zurückstellungsentscheidung wurde durch die Staatsanwaltschaft Hildesheim am 26.11.2008 dahingehend modifiziert, dass dem Verurteilten die Möglichkeit eingeräumt wurde, fortan eine ambulante Therapie zu absolvieren.

2

Mit Entscheidung vom 19.10.2009 hat die Staatsanwaltschaft Hildesheim gemäß § 35 Abs. 5 BtMG die Zurückstellung der Reststrafenvollstreckung widerrufen. Diesen Widerruf hat die Staatsanwaltschaft Hildesheim damit begründet, dass der Verurteilte erneut straffällig geworden sei. Dabei beruft sich die Vollstreckungsbehörde auf eine Anklage der Staatsanwaltschaft Hildesheim gegen den Verurteilten vom 19.08.2009 (6 Js 8207/09) wegen Diebstahls oder Hehlerei. Ein Urteil ist in dieser Sache ausweislich eines Vermerks der Staatsanwaltschaft noch nicht ergangen; die Hauptverhandlung hat noch nicht begonnen.

3

Mit anwaltlichem Schreiben vom 23.10.2009 hat sich der Verurteilte gegen den Widerruf der Zurückstellung gewandt.

II.

4

Das Schreiben des Verteidigers des Verurteilten vom 23.10.2009 ist als Antrag auf gerichtliche Entscheidung über den Widerruf der Zurückstellung nach § 35 Abs. 7 S. 2 BtMG zu interpretieren. Dieser Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig, insbesondere ist die Kammer als erkennendes Gericht des ersten Rechtszuges zuständig.

5

Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg.

6

Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Zurückstellung der Reststrafenvollstreckung liegen zum jetzigen Zeitpunkt nicht vor. Ein Fall des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG ist nicht gegeben, denn es ist - jedenfalls bislang - keine rechtskräftige und zu vollstreckende erneute Verurteilung des Antragstellers zu einer Freiheitsstrafe erfolgt. Auch die Voraussetzungen für einen Widerruf der Zurückstellung nach § 35 Abs. 5 BtMG sind nicht erfüllt, insbesondere liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Verurteilte die ihm auferlegte ambulante Therapie nicht weiterführt.

7

Zwar kann über den Wortlaut des § 35 Abs. 5 und Abs. 6 BtMG hinaus eine Zurückstellungsentscheidung regelmäßig auch dann widerrufen werden, wenn der Verurteilte während des Zeitraums einer ambulanten Therapie erneut in erheblicher Weise straffällig geworden ist und die neuen Straftaten dem Bereich der Betäubungsmittel- beziehungsweise Beschaffungskriminalität zuzuordnen sind. Dies gilt selbst dann, wenn der Verurteilte nicht in Untersuchungshaft genommen worden ist und deshalb weiterhin an der ihm auferlegten ambulanten Therapie teilnehmen kann und auch tatsächlich teilnimmt. Denn in einem solchen Fall hat sich in der Regel die Erwartung, die mit der Zurückstellungsentscheidung verbunden war, nicht erfüllt. Derartige erhebliche neuerliche Straftaten sind zumeist als ein Zurückkehren in kriminelle Verhaltensweisen zu werten, das mit der Fortführung der ambulanten Therapie unvereinbar und einem Abbruch der Therapie gleichzustellen ist. Insofern kann grundsätzlich ein Widerruf der Zurückstellung in entsprechender Anwendung des § 37 Abs. 1 S. 3 Nr. 3 BtMG erfolgen (ebenso Körner , BtMG, 6. Aufl. 2007, § 35 Rn. 444; MK-StGB- Kornprobst , Bd. 5, 2007, § 35 BtMG Rn. 204; Weber , BtMG, 3. Aufl. 2009, § 35 Rn. 275; a.A. aber Malek , Betäubungsmittelstrafrecht, 3. Aufl. 2008, 5. Kap. Rn. 85).

8

Ein solcher Widerruf der Zurückstellung in entsprechender Anwendung des § 37 Abs. 1 S. 3 Nr. 3 BtMG ist aber vor dem Hintergrund der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie Art. 6 Abs. 2 EMRK ergebenen Unschuldsvermutung nicht schon dann statthaft, wenn gegen den Verurteilten wegen Vorliegens eines hinreichenden Verdachts einer erneuten Straffälligkeit Anklage erhoben worden ist. Vielmehr sind an eine solche Widerrufsentscheidung die Maßstäbe anzulegen, die für den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung wegen erneuter Straffälligkeit nach § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB gelten (so auch KG , StV 1999, 442; KG , StV 2002, 264; Körner , BtMG, 6. Aufl. 2007, § 35 Rn. 445). Dies bedeutet, dass ein Widerruf der Zurückstellung der Strafvollstreckung wegen einer erneuten Straftat in analoger Anwendung des § 37 Abs. 1 S. 3 Nr. 3 BtMG nur dann in Betracht kommt, wenn entweder eine rechtskräftige Verurteilung wegen der neuen Straftat oder aber ein diesbezügliches glaubhaftes Geständnis des Verurteilten vorliegt (vgl. Fischer , StGB, 56. Aufl. 2009, § 56f Rn. 4 ff.).

9

Da der Widerruf der Zurückstellung hier allein auf eine neue Anklage gegen den Verurteilten gestützt wird, kann er nach dem Vorstehenden keinen Bestand haben.

III.

10

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO analog. Zwar enthält § 35 Abs. 7 BtMG keine Kostenregelung. Doch folgt aus der allgemeinen Vorschrift des § 464 StPO, dass gerichtliche Entscheidungen, die ein gerichtlich anhängig gewordenes Verfahren abschließen, eine Kosten- und Auslagenentscheidung zu enthalten haben. Dementsprechend muss bei erfolgreichen Beschwerden eine Kosten- und Auslagenentscheidung in entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO getroffen werden. Da Anträge auf gerichtliche Entscheidungen nach § 35 Abs. 7 BtMG insofern Beschwerdeentscheidungen gleichzustellen sind, hat auch bei diesen, sofern der Antragsteller mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung Erfolg hat, eine Kosten- und Auslagenentscheidung nach § 467 Abs. 1 StPO analog zu ergehen ( OLG Oldenburg , Beschl. vom 13.11.2007, 2 Qs 488/07, BeckRS 2008, 13406; LG Freiburg , MDR 1989, 1020).