Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.05.2004, Az.: 12 PA 89/04

Großeltern; Hilfe zur Erziehung; Kosten der Erziehung; Pflegegeld; unentgeltliche Betreuung; Unterhaltspflicht; Verwandtenpflege

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
18.05.2004
Aktenzeichen
12 PA 89/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 50589
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 17.02.2004 - AZ: 4 A 1944/02

Gründe

1

Die Beschwerde der Klägerin gegen den Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin für den ersten Rechtszug versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts ist zulässig und in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet.

2

Zur Überzeugung des Senats ist auf der Grundlage der von der Klägerin zur Akte gereichten Erklärungen und Belege weiterhin von ihrer Bedürftigkeit im prozesskostenhilferechtlichen Sinne auszugehen. Die auf die Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung eines höheren und die gesamte Zeit seit Oktober 1999 erfassenden Pflegegeldes gerichtete Klage hat nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand im Hinblick auf den erstgenannten Teil des Streitgegenstandes – die Höhe der schließlich bewilligten Hilfeleistung - auch die nach § 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 121 Abs. 2 ZPO erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg; was die begehrte rückwirkende Zahlung von Pflegegeld betrifft, ist eine Erfolgsaussicht dagegen nicht gegeben.

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Zwar sind die rechtlichen Maßstäbe, anhand derer der Rechtsstreit auf der Grundlage der §§ 27, 33, 39 Abs. 1 SGB VIII zu entscheiden ist, in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes geklärt, so dass die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Zur Anwendung dieser Maßstäbe auf den vorliegenden Fall bedarf es jedoch, was die Höhe des gewährten Pflegegeldes anbelangt, weiterer Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht, so dass die Aussicht der Klage auf einen teilweisen Erfolg als offen zu bewerten ist. Dies genügt, um insoweit Prozesskostenhilfe zu bewilligen, denn die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung dürfen in Anbetracht der durch Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit nicht überspannt werden, ansonsten würde der Zweck der Prozesskostenhilfe, unabhängig von vorhandenen finanziellen Mitteln den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, verfehlt (vgl. zum Ganzen: BVerfG – 3. Kammer des Ersten Senats -, Beschl. v. 26.6.2003 – 1 BvR 1152/02 -, NJW 2003, 3190 f.).

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Die Klägerin nahm als Großmutter die in den Jahren 1987 und 1995 geborenen Kinder D. und E. jeweils kurz nach deren Geburt in ihrem Haushalt auf, da die Eltern der Kinder nicht in der Lage waren, diese ordnungsgemäß zu versorgen. Einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII stellten die Eltern von F. und G. im September 1999 bei dem Landkreis H.. Nachdem sie in einer bei dem Beklagten am 27. Februar 2002 eingegangenen Erklärung an den gestellten Hilfeantrag erinnert und ausgeführt hatten, sie respektierten – nunmehr –, dass ihre Kinder auf Dauer bei der Klägerin bleiben wollten, bewilligte der Beklagte, der sich zuvor in einem lang andauernden Zuständigkeitsstreit mit dem Landkreis I. befunden hatte, den Eltern mit Bescheid vom 28. Mai 2002 „aufgrund des Antrages vom 27. Februar 2002“ ab diesem Datum für die Kinder F. und G. Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 i.V.m. § 33 SGB VIII in Form von Vollzeitpflege in einer Verwandtenpflegestelle. Die Kosten hierfür betrügen zur Zeit monatlich ca. 760,00 EUR.

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Mit zwei weiteren an die Klägerin gerichteten Bescheiden vom 28. Mai 2002 wies der Beklagte diese auf die gegenüber den Eltern der Kinder bewilligte Hilfe zur Erziehung hin und verfügte, dass die Klägerin – ebenfalls mit Wirkung vom 27. Februar 2002 – Pflegegelder in Höhe von 324,91 EUR bzw. 426,50 EUR monatlich erhalte, mit denen alle Aufwendungen für den Lebensunterhalt der Kinder abgegolten seien. Mit ihrem Widerspruch und dem sich anschließenden – zunächst in der Form der Untätigkeitsklage anhängig gemachten – Klageverfahren erstrebt die Klägerin zum einen eine rückwirkende Bewilligung des Pflegegeldes mit Wirkung ab Antragstellung im Herbst 1999, zum anderen wendet sie sich dagegen, dass – mit Wirkung vom 27. Februar 2002 – die Unterhaltskosten lediglich ohne die in ihnen nach Maßgabe des § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII grundsätzlich enthaltenen Kosten der Erziehung bewilligt worden sind.

6

Nach Erhebung der Klage hat der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11. April 2003 den Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen und sich zur Begründung im Hinblick auf eine rückwirkende Hilfegewährung auf eine fehlende Anspruchsberechtigung der Klägerin und eine Bestandskraft des gegenüber den Eltern der Kinder ergangenen Hilfebescheides, hinsichtlich der Höhe der Pflegegelder unter Heranziehung der Grundsatzurteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. September 1996 (- 5 C 31/95 -, NJW 1997, 2831 ff. und - 5 C 37/95 -, NJW 1997, 2768 ff. [BVerwG 12.09.1996 - BVerwG 5 C 37.95]) auf einen infolge der tatsächlichen Betreuung der Kinder durch die Klägerin nicht bestehenden erzieherischen Bedarf berufen.

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Mit Beschluss des Amtsgerichts J.– Familiengericht – vom 10. Dezember 2002 (16 F 68/02 SO) ist den Eltern der Kinder die elterliche Sorge u.a. für das Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Recht zur Beantragung von Sozialleistungen entzogen und auf die Klägerin als Pflegerin übertragen worden.

8

Das Verwaltungsgericht geht in den Gründen seines angefochtenen Beschlusses zu Recht davon aus, dass aktivlegitimiert für die Geltendmachung eines Rechtes aus § 39 Abs. 1 i.V.m. §§ 27 Abs. 1, 33 SGB VIII der Personensorgeberechtigte ist. Denn der Anspruch auf Leistungen zum Unterhalt eines Kindes in Vollzeitpflege, der auch die Kosten der Erziehung umfasst, steht als Annex-Berechtigung des Anspruches auf Hilfe zur Erziehung im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB VIII wie der Hauptanspruch dem Personensorgeberechtigten, nicht aber dem Kind bzw. der Pflegeperson zu (BVerwG, Urteile vom 12.9.1996 – 5 C 31/95 – und 5 C 37/95 -, jew. a.a.O.; Urt. v. 21.6.2001 – 5 C 6/00 -, NJW 2002, 232 f; Kunkel, in: LPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2003, § 39, Rn. 7). Hiernach scheidet eine Berechtigung der Klägerin zur Geltendmachung von Pflegegeld für die Zeit zwischen dem Herbst 1999 und dem 27. Februar 2002 aus, denn für diesen Zeitraum lag die Personensorgeberechtigung für die Kinder K. und G. noch uneingeschränkt bei deren Eltern. Auch für eine der Klägerin erteilte Vollmacht zur Antragstellung ist nichts ersichtlich.

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Was die Frage der Höhe der schließlich bewilligten Pflegegelder nach § 39 SGB VIII anbelangt, hebt das Verwaltungsgericht zu Recht hervor, dass die elterliche Sorge für die Kinder mit Beschluss des Amtsgerichts J.– Familiengericht – vom 10. Dezember 2002 noch vor Erlass des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2003 teilweise auf die Klägerin als Pflegerin übertragen worden ist. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Beklagte die Höhe des Pflegegeldes gegenüber der Klägerin durch zwei Ausgangsbescheide vom 28. Mai 2002 und den Widerspruchsbescheid vom 11. April 2003 geregelt hat.

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Im Zusammenhang mit der Bestimmung der Höhe des Pflegegeldes haben sowohl der Beklagte als auch das Verwaltungsgericht in den Gründen seines angefochtenen Beschlusses im Ausgangspunkt zutreffend auf die o.g. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (vgl. neben den bereits genannten Entscheidungen: Urt. v. 15.12.1995 – 5 C 2.94 -, BVerwGE 100, 178 ff; Urt. v. 4.9.1997 – 5 C 11/96 -, FEVS 48, 289 ff) abgestellt. Es bedarf insoweit jedoch noch einer weiteren Aufklärung der tatsächlichen Umstände des Falles, bevor eine abschließende Entscheidung darüber getroffen werden kann, ob das an die Klägerin zu zahlende Pflegegeld mit den Unterhaltskosten nach § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII auch die Kosten der Erziehung im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII zu enthalten hat. Dabei ist die von dem Beklagten in dem Widerspruchsbescheid vom 11. April 2003 (wohl im Wege der Billigkeit) getroffene Unterscheidung zwischen materiellen Unterhaltsleistungen einerseits und Kosten der Erziehung andererseits rechtlich nicht veranlasst.

11

Nach den durch das Bundesverwaltungsgericht herausgearbeiteten Grundsätzen kann ein Anspruch des Personensorgeberechtigten aus §§ 27, 33, 39 SGB VIII auch dann gegeben sein, wenn das Kind außerhalb des Elternhauses von nahen Verwandten – etwa wie hier der Großmutter – betreut wird. Voraussetzung – auch für die sog. wirtschaftliche Jugendhilfe – ist jedoch, dass ein ungedeckter erzieherischer Bedarf im Sinne des § 27 Abs. 1, 2 Satz 2 SGB VIII besteht. Dieser Bedarf kann jugendhilfeunabhängig durch eine unentgeltlich gewährte Verwandtenpflege – insbesondere auch durch die Großeltern – gedeckt sein. Beanspruchen Großeltern, die ihre Enkelkinder bisher unentgeltlich gepflegt haben, für ihre Dienste ein Entgelt, ist zunächst  zu klären, ob sie die Betreuungsleistungen nicht in Erfüllung einer bestehenden Unterhaltspflicht für ihre Enkelkinder zu erbringen haben, und gegebenenfalls weiter zu prüfen, ob die Bereitschaft zur unentgeltlichen Pflege tatsächlich in dem Sinne ernsthaft aufgegeben werden soll, dass die Enkelkinder mit allen Konsequenzen allein der fürsorgenden Verantwortung des Jugendhilfeträgers unterstellt werden.

12

Es erscheint nach dem derzeitigen Sachstand zweifelhaft, ob das Verwaltungsgericht diesen Maßstäben in Anbetracht der Besonderheiten des zur Entscheidung stehenden Falles gerecht wird, wenn es in den Gründen seines angefochtenen Beschlusses (S. 8 f BA) ausführt, der erzieherische Bedarf der Kinder F. und G. sei im Zeitpunkt des Ergehens der Bescheide vom 28. Mai 2002 bereits seit Jahren durch die Klägerin als Großmutter im stillschweigenden Einvernehmen mit den leiblichen Eltern und den mit dem Fall befassten Jugendhilfeträger gedeckt gewesen, ohne dass ein Einschreiten des Jugendamtes für geboten erachtet worden sei, und sich des weiteren auf den Standpunkt stellt, es sei nichts dafür ersichtlich, dass die Klägerin die weitere Betreuung der ihr anvertrauten Kinder von finanziellen Leistungen des Jugendhilfeträgers habe abhängig machen wollen. Fraglich ist, welche Bedeutung das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang dem lang andauernden Zuständigkeitskonflikt zwischen dem Beklagten und dem Landkreis I. beigemessen hat. Nicht deutlich ist weiterhin, von welcher unterhaltsrechtlichen Situation der Kinder F. und G. das Verwaltungsgericht ausgegangen ist. Insoweit sind u. U. aufklärende Maßnahmen veranlasst. Schließlich sind Bekundungen der Klägerin aktenkundig geworden, hinsichtlich derer – gegebenenfalls auch unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin (vgl. dazu: 4. Senat des erkennenden Gerichts, Urt. v. 28.10.1998 – 4 L 3289/98 -, juris) - eine nähere Untersuchung im Hinblick auf die Frage angezeigt erscheint, ob in ihnen der ernsthafte Wille der Klägerin zur Aufgabe der unentgeltlichen Pflege der Kinder zum Ausdruck gelangt ist. So hat die Klägerin in ihrer unter dem 20. September 2000 abgegebenen Erklärung über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse geltend gemacht (Bl. 29 d. BA A), sie könne keinen Unterhaltsbeitrag mehr leisten; ihre bisherigen Möglichkeiten seien erschöpft (Kredite durch Freunde, Kontoüberziehung, Belastung durch Reparaturen am Haus, Autokauf, Wegfall der Unterstützung durch die Urgroßmutter u.a.). Ihre an den Niedersächsischen Landtag gerichtete Petition vom 12. Dezember 2001 endet mit der Feststellung, sie könne den bestehenden Zustand u.a. ohne finanzielle Unterstützung nicht aufrechterhalten, denn sie habe keine Kompetenz und keine Kraft mehr (Bl. 119 d. BA A).

13

Der Senat gibt den Beteiligten abschließend zu bedenken, ob sie nicht in Anbetracht des bisherigen wenig glücklichen und für die Klägerin und die betroffenen Kinder belastenden Verlaufs des Hilfefalles eine vergleichsweise Regelung treffen und in deren Rahmen auch vorsehen sollten, dass der Klägerin über die bisher gewährten Leistungen hinaus ab Erlass des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2003 die vollen Pflegegelder gezahlt werden.